Weltweit schmelzen die Gletscher – und damit auch unsere Trinkwasserreserven

Ein hoher Prozentsatz des globalen Trinkwassers kommt aus den Bergen. Doch der Klimawandel und geopolitische Spannungen sorgen dafür, dass Gebirgsketten weltweit immer trockener werden – eine gefährliche Entwicklung für Mensch und Natur.

Von Alejandra Borunda
Veröffentlicht am 18. Juni 2020, 13:15 MESZ
Lhotse

Der Lhotse, nahe dem Mount Everest, ist der vierthöchste Berg der Welt.

Foto von Mark Fisher

Dieser Artikel wurde durch die Unterstützung von Rolex ermöglicht. Das Unternehmen pflegt eine langjährige Partnerschaft mit der National Geographic Society, um die Herausforderungen der Ökosysteme zu beleuchten, die unseren Planeten am Leben halten – mit Forschung, Geschichten und Expeditionen.

Hoch oben im Himalaya, in der Nähe des Basislagers des Gangotri-Gletschers, sprudelt Wasser einen schmalen Fluss hinunter. Die Kieselsteine klackern, während sie von der Strömung flussabwärts getrieben werden.

Tausende von Kilometern wird dieses Wasser zurücklegen – um am Ende Menschen, Felder und Natur in der trockenen Indus-Ebene, die gleich im Süden an das Hochgebirge anschließt, mit lebenswichtiger Flüssigkeit zu versorgen. Viele der mehr als 200 Millionen Menschen in dieser Region sind auf das Wasser aus den eisigen Bergen angewiesen.

Doch wie lange diese Versorgung noch so reibungslos funktioniert, ist unsicher: Der Klimawandel trifft die Bergregionen deutlich härter als andere Teile des Planeten. Erderwärmung und geopolitische Spannungen bringen die natürlichen Wasserspeicher in den Gipfeln der Welt in immer prekärere Positionen – und damit auch Milliarden von Menschen, die sie dringend zum Leben und Überleben brauchen.

Die Bedeutung von Trinkwasserquellen wie dem Himalaya war 2019 Inhalt eines Berichts, den das Wissenschaftsmagazin „Nature“ veröffentlicht hat. Darin: eine Auflistung der wichtigsten und gefährdetsten Wasserschlösser der Welt, wie die Speicher in der Hydrologie genannt werden. Michele Koppes, Gletscher- und Klimaforscherin an der University of British Columbia in Kanada, ist Co-Autorin des Berichts. „Wir alle brauchen Wasser. Unsere Körper bestehen zum größten Teil aus Wasser, und ohne Trinkwasser könnten wir nicht leben“, sagt sie. „Deshalb sind die Wasserschlösser so wichtig, und deshalb müssen wir besser verstehen, wie sie sich verändern.“

Warum die Wasserschlösser so wichtig sind

Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es mehr Schnee und Eis als in den Gipfeln der Hochgebirge – von den zwei Polen abgesehen. Die über 200.000 Gletscher, Schneefelder, alpine Seen und Feuchtgebiete liefern etwa die Hälfte des gesamten Süßwassers, das wir Menschen verbrauchen.

Für über 1,6 Milliarden Menschen – also für über 20 Prozent der Weltbevölkerung – spielt dieses Wasser eine entscheidende Rolle im täglichen Leben. Viele von ihnen machen sich wohl selten Gedanken darüber, woher das Wasser in ihrem Glas kommt – nicht selten ist die Antwort: aus den Bergen.

Das System funktioniert dabei mehr oder weniger so: Schnee fällt und bleibt erstmal liegen. Über Tage, Wochen, Monate oder sogar Jahre schmilzt er langsam und fließt in die Täler. So sind Hochgebirgen de facto riesige Wasserspeicher der Erde. Die vielen kleinen Bäche, die die Berge hinabfließen, dienen ihnen als Ventile.

Der Ngozumpa-Gletscher ist der längste Gletscher im Himalaya-Gebirge.

Foto von Brittany Mumma

Genau dieser Ablauf ist essentiell. Zum einen für diejenigen, die im Hochgebirge leben: Langsame, stetige Schmelze ist deutlich weniger zerstörerisch als starke Regengüsse, die Sturzfluten oder Erdrutsche verursachen können. Zum anderen für Landwirte, Gemeinden und Städte in den Tälern, die auf eine stetige oder zumindest vorhersehbare Wasserversorgung angewiesen sind. Nicht zuletzt ist auch die Natur im Hochgebirge von diesem System abhängig. Sie beheimatet etwa ein Drittel der weltweiten Artenvielfalt, die es an Land gibt.

„In der Vergangenheit wurden die Berge nicht als Schlüsselbestandteile unseres Ökosystems angesehen“, sagt Walter Immerzeel, Berg- und Klimaforscher an der Universität Utrecht und Hauptautor des Berichts. „Das hat sich geändert. Heute wissen wir: Sie sind genauso wichtig wie tropische Wälder oder Ozeane.“

Die Belastung steigt

Dass der Klimawandel die Menge des im Hochgebirge gespeicherten Wassers und seine Abflusswege dramatisch beeinflusst, haben Wissenschaftler schon vor Jahrzehnten erkannt. Besonders alarmierend: Die Temperaturen im Hochgebirge steigen deutlich schneller, als sie es im Durchschnitt im Rest der Welt tun. Die höher liegenden Bereiche des Himalaya haben sich seit Beginn des Jahrhunderts beispielsweise um fast 2 °C erwärmt, verglichen mit einem durchschnittlichen weltweiten Anstieg von 1 °C.

Wissenschaftler haben oft darauf hingewiesen, dass schon kleine Schwankungen der Wassermenge aus den Bergen große Schwierigkeiten verursachen könnten. Das Gleiche gilt für Verschiebungen in den zeitlichen Abläufen. Die Annahme war lange: Es würde vor allem kleine Gemeinden treffen, wie die Kartoffelbauern am Oberlauf des Indus, oder große Wüstenstädte wie Lima, die auf das Wasser aus den Bergen angewiesen sind. Auch dass Länder wie Indien oder Pakistan langfristig Probleme mit der Wasserversorgung bekommen könnten, hat man bereits früh erkannt – sie befinden sich schon heute in Konflikten um das wertvoll Element.

Was bis zur Veröffentlichung im Magazin „Nature“ jedoch niemand festgehalten hatte, war die Bedeutung der einzelnen Speicher. Wie wichtig ist das Wasser der Hochgebirge für die Bevölkerung flussabwärts? Wie stark leiden die einzelnen Wasserschlösser unter Faktoren wie Klimawandel, zunehmender Bebauung und dem damit verbundenen Anstieg des Wasserverbrauchs? Wie sehr unter geopolitischer Instabilität und Umweltverschmutzung?

Zwei Frauen pflügen ihr Kartoffelfeld im pakistanischen Chipursan-Tal. Die Region ist Teil des Indus-Wasserschlosses – jenes Gletscherwassersystems, auf das weltweit die meisten Menschen angewiesen sind.

Foto von Matthieu Paley, Nat Geo Image Collection

„Die Ergebnisse haben auf die Gefährdung dieser Bergregionen aufmerksam gemacht und alle alarmiert“, sagt Justin Mankin, ein Klimaforscher des Dartmouth College, der nicht an der Forschung beteiligt war. Das internationale Team hinter dem Artikel in „Nature“ hatte die Bedeutung der einzelnen Wasserschlösser von zwei Faktoren abgeleitet: der Versorgung in den Hochgebieten und dem nachgelagerten Bedarf in den Tälern. Wenn ein Wasserspeicher über genügend Wasserressourcen verfügt – in Form von Schnee, Eis oder flüssigem Wasser –, hat er eine hohe Versorgung. Wenn die nachgelagerte Nachfrage durch die Nutzung für Landwirtschaft, Städte und Industrie ebenfalls hoch ist, wird das Wasserschloss als wichtig eingestuft.

Auf dieser Basis kamen die Forscher zum Ergebnis, dass das Indus-Wasserschloss das wichtigste der Welt ist. Es umfasst das Himalaya-Hochland und bedeckt Teile von Afghanistan, China, Indien und Pakistan. „Am Indus leben 120 Millionen Menschen“, sagt Immerzeel, „aber die Indus-Ebene ist wie eine Wüste. Sie ist vollkommen abhängig vom Wasser der Gletscher.“

Von den fünf wichtigsten Wasserschlössern der Welt befinden sich drei in Asien: der Indus, der Tarim und der Amu Darya. In Nordamerika sind der Fraser River in British Columbia und die Columbia-Wasserturmregionen im Pazifischen Nordwesten des Landes am wichtigsten. In Südamerika sind es Cordillera Principal, Cordillera Patagónica Sur und die patagonischen Anden, die am meisten Wasser spenden. In Europa sorgen die Alpen in vielen Regionen für Trinkwasser.

Nicht gelistet im Bericht der Forscher sind Afrika und Australien: Die Berge dort sind keine entscheidende Wasserquelle für große Bevölkerungszentren, wie es die Berge Asiens und Südamerikas sind.

Die Belastung nimmt zu

Was wird in Zukunft mit diesen Wasserschlössern passieren? Welche von ihnen sind am anfälligsten für die zunehmenden Belastungen – und damit am stärksten gefährdet? Der Klimawandel beeinflusst die Größe und Form der Gletscher im Hochgebirge, genauso die Menge und Art der Niederschläge. In vielen Fällen kann die Gesamtmenge des vom Himmel fallenden Regens tatsächlich mehr werden, den Verlust durch schmelzende Gletscher aber trotzdem nicht ausgleichen.

Sicher ist: Die Kämpfe um Wasser in der Welt werden zunehmen. Die wachsende Bevölkerungszahl dürfte zu einem exponentiellen Anstieg des Wasserbedarfs führen, sagt Immerzeel. Diese erhöhte Nachfrage, in Verbindung mit schwachen staatlichen Maßnahmen sowie politischen Spannungen in Bezug auf Wasserrechte in vielen Teilen der Welt, bedrohe die Wasserschlösser.

Der Indus ist nach Angaben der Autoren neben dem Amu Darya, dem Ganges, dem Tarim und dem Syr Darya nicht nur der wichtigste, sondern auch der am stärksten gefährdetste Wasserlieferant der Welt. Auch in Südamerika sind viele Wasserquellen extrem gefährdet, und in Nordamerika und Europa steigt der Druck auf kritische Wasserregionen wie das Columbia-Plateau, das Gebiet um den Colorado River, die Rhône und den Po.

„Es sind nicht nur die Wasserschlösser im asiatischen Hochgebirge, die gefährdet sind – es ist ein globales Phänomen, das beide Hemisphären betrifft“, sagt Justin Mankin.

Wo sollte man ansetzen?

Dass das Hochgebirge im Wandel ist, ist nichts Neues für die Wissenschaft. „Die Wassermengen werden sich mit ziemlicher Sicherheit verändern“, sagt Wouter Buytaert, Hydrologe am Imperial College London. „Wir müssen im nächsten Schritt also darüber nachdenken, wie sich Menschen in den Tälern darauf vorbereiten können. Um einen Teil der Verluste bei den Wasserschlössern aufzufangen, müssen jetzt kreative neue Lösungen gefunden werden.“

Dingboche ist ein Dorf am Fuße des Himalaya – eines von vielen, das auf das Wasser aus den Bergen angewiesen ist.

Foto von Eric Daft

In Ladakh könne dies bedeuten, im Winter sogenannte Stupas zu bauen, bis zu 20 Meter hohe Eisberge, die in der Trockenzeit Wasser spenden. In Peru könne die Lösung die Reaktivierung alter Wassersysteme sein, in denen einst das Wasser aus den Bergen in Kanälen und Stauseen gesammelt wurde.

Lösungen müssen jedoch auch auf internationaler Ebene gefunden werden: Um das Problem und seine Gefahren in den Griff zu bekommen, ist die Bewältigung des Klimawandels ein genauso wichtiger Faktor, wie es die großen geopolitischen Fragen sind.

„Natürlich erscheint das Problem für Entwicklungsländer und trockene Regionen erstmal größer, aber wir müssen in dieser Sache global denken“, sagt Koppes. „Wir haben diese Probleme auch direkt vor unserer Haustür und müssen ihnen dringend Aufmerksamkeit schenken – und zwar jetzt.“

Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

 

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