Haareis: Seltenes Naturphänomen im Winterwald

Das bizarre Gebilde erinnert an Zuckerwatte. Was steckt hinter den dünnen Eishaaren und wo kann man dem Naturkunstwerk begegnen?

Von Barbara Buenaventura
Veröffentlicht am 3. Feb. 2021, 14:26 MEZ
Naturphänomen Haareis

Das Naturphänomen des Haareises - auch Eiswolle genannt - tritt vor allem im Laubmischwald auf. Wie es entsteht, war lange unbekannt.

Foto von Henri Koskinen - stock.adobe.com

Mit einem aufmerksamen Blick und den richtigen Wetterbedingungen trifft man an kalten Wintertagen beim Waldspaziergang auf ein Naturphänomen: ein bizarres Gebilde, das in teils langen, dichten, schneeweißen Fäden von einzelnen Ästen und Zweigen absteht. Die einen vergleichen es mit Wolle, die anderen mit Zuckerwatte, wieder andere erinnert der Anblick an eine Perücke mit dichten, langen Haaren: In der Forschung ist das Naturphänomen als „Haareis“ oder auch „Eiswolle“ bekannt, das je nach Ausprägung wie eine richtige Frisur aussehen kann. Manche Gebilde zeigen einen klaren Scheitel oder haarähnliche Strukturen wie Locken oder Wellen – und auch Dichte und Länge erinnern an unsere Haare: Während feines menschliches Haar einen Durchmesser um 0,04 Millimeter hat, kann ein Eishaar zwischen vergleichbaren 0,01 bis 0,1 Millimeter dick und bis zu 20 Zentimeter lang sein. Ein echtes Kunstwerk der Natur  – dessen Entstehung über Jahrzehnte ein Rätsel war.

Rätselhaftes Eisgebilde: Bringt ein Pilz das Haareis zum Sprießen?

Könnte die Erscheinung mit einem Pilz in Verbindung stehen, der in Buchen- oder Laubmischwäldern wächst, wo Haareis vorrangig gefunden wird? Eine naheliegende Vermutung – zumal es tatsächlich Pilzarten gibt, die dem dichten, weißen Gewächs ähnlich sehen: der Ästige Stachelbart (Hericium coralloides) zum Beispiel, der zumeist auf Buchen vorkommt – allerdings nur selten in Mitteleuropa und bereits im Herbst, bevor die Temperaturen den Nullpunkt erreichen. Auch der Zuckerwatte-Wasserpilz, der Geweihförmige Schleimpilz oder der Kraushaar-Wasserpilz könnten zumindest aus der Ferne mit dem Haareis verwechselt werden. Aus der Nähe betrachtet sind die feinen Eisnadeln jedoch einzigartig, zumal sie zudem nicht wie Eiszapfen an den Enden, sondern von ihrer Basis her wachsen – und zwar sehr schnell, um 5 bis 10 Millimeter pro Stunde. Eine einzige Nacht reicht aus, um eine ganze Eishaar-Pracht zu erschaffen, die in ihrer Gänze sogar stark genug sein kann, um die Borke von den Ästen abzusprengen.

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Die Historie der Haareis-Forschung geht weit zurück

Neu ist das Phänomen des Haareises nicht: Schon 1833 erschien die erste wissenschaftliche Abhandlung über das einzigartige Eisgebilde im "The London and Edinburgh Philosophical Magazine and Journal of Science". Der Autor Sir John Herschel beschrieb Haareis damals als „band- oder hemdkrausenartige wellenförmige Masse, die scheinbar aus Längsrissen des Stiels im weichen Zustande hervorgequollen war. Die Bänder hatten eine glänzende seidenartige Oberfläche und ein faseriges Gefüge." Der Meteorologe Alfred Wegener vermutete in einer Veröffentlichung von 1918 einen „schimmelartigen Pilz“ hinter den Eisfasern auf nassem, abgestorbenem Holz.

2008 bestätigten die Forscher Gerhart Wagner und Christian Mätzler von der Universität Bern diese Grundannahme weitgehend in einer biophysikalischen Studie: Demnach wird Haareis durch ein im Holz lebendes Pilzmyzel verursacht. In ihrem Forschungsbericht heißt es: „Urheber des zur Haareisbildung führenden Prozesses ist ein im Holzkörper, vor allem in den Holzstrahlen (…) lebendes Myzel eines winteraktiven Pilzes. (…) Der Pilz baut die in den Holzstrahlen vorhandenen organischen Nährstoffe (Kohlenhydrate, Lipoide) durch einen aeroben Dissimilationsprozess (Zellatmung) ab.“ Auch für die einzigartige Form der Eisfäden fanden die Forscher eine Erklärung: „Der Druck des entstehenden CO2-Gases drängt mit dem Oxydationswasser auch im Holz gespeichertes Wasser durch die Holzstrahlkanäle an die Oberfläche. (…) Im ausgestossenen Wasser befinden sich als ‚Verunreinigung’ unvollständig abgebaute organische Substanzen. Dank den als Kristallisationskeime wirkenden organischen Molekülen gefriert das Wasser beim Austritt an die Luft schon knapp unterhalb von 0° C: Am Ausgang der Holzstrahlen entstehen Eishaare.“

Ein entscheidendes Detail zur Lösung des Haareis-Rätsels trug eine Studie des Forschungszentrums Jülich 2015 bei, an der auch der Schweizer Haareis-Forscher Mätzler, inzwischen emeritiert, beteiligt war. Deren physikalischen, biologischen und chemischen Untersuchungen von Haareis auf Holzproben erbrachten neben der grundsätzlichen Bestätigung der Pilzhypothese die Erkenntnis, dass ein ganz bestimmter Pilz stets in Verbindung mit dem Haareis gefunden wurde: „Eine Art, Exidiopsis effusa (Ee), war in allen untersuchten Proben vorhanden“, heißt es in dem Artikel „Hinweise auf die biologische Formgebung von Haareis“, der vom Forschungszentrum Jülich und der Universität Bern in „BioGeoSciences“ veröffentlicht wurde.

In Verbindung mit Haareis wurde in den Studien ein ganz bestimmter Pilz gefunden: Exidiopsis effusa, auch Rosagetönte Gallertkruste genannt, war in allen untersuchten Proben vorhanden. 

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Die Rosagetönte Gallertkruste oder auch Rosa Wachskruste – unter diesen Namen ist „Exidiopsis effusa“ auch bekannt – lebt saprob, siedelt sich also vorrangig auf abgestorbenen Zweigen und Ästen an und ist der Studie zufolge verantwortlich für die spezifische Form der Eishaare: Während auf Totholz ohne den Pilz eine größere Eisfläche entstehen würde, vermuten die Forscher, dass die Rosagetönte Gallertkruste bestimmte Substanzen freisetzt, die verhindern, dass sich große Kristalle bilden. In den geschmolzenen Eishaaren fand sich zudem Lignin, ein festes Biopolymer, das in den Zellwänden von Holz eingelagert ist und offenbar vom Pilz abgebaut wird. Die freigesetzten Abbauprodukte sind vermutlich verantwortlich für die Erhaltung der besonderen Haareis-Form.

Haareis braucht optimale Wetterbedingungen

Bis ins letzte Detail erforscht ist das Haareis zwar bis heute noch nicht. „Aber man kann gute Aussagen darüber treffen, wann das Phänomen auftritt und was dazu beiträgt“, sagt Marcus Beyer, Diplom-Meteorologe beim Deutschen Wetterdienst (DWD): „Beobachten kann man Haareis vornehmlich an schneefreien Wintertagen, wenn es nicht allzu kalt ist. Oft liegt die Temperatur nur wenig unter dem Gefrierpunkt. Das liegt wahrscheinlich daran, dass der beteiligte Pilz bei noch niedrigeren Temperaturen nicht mehr arbeitet.“

Auch hohe Luftfeuchtigkeit trägt in Kombination mit der Temperatur zur Bildung von Haareis bei – Stichwort: Dichteanomalie des Wassers, nach der Wasser bei 4 Grad Celsius seine größte Dichte hat. Bei höheren oder niedrigeren Temperaturen nimmt es ein höheres Volumen ein – auch im Holzinneren. „Im Inneren des Totholzes ist die Temperatur höher als in der Umgebungsluft – vielleicht sogar leicht positiv“, sagt Marcus Beyer. „Wird die Feuchtigkeit aus dem Holz herausgedrückt, kühlt sich diese ab, die Dichte nimmt ab und das Volumen vergrößert sich.“ Ein Umstand, der sich förderlich auf das Wachstum bzw. die Länge der feinen Eishaare auswirkt – oder eben nicht: Denn bei trockener Luft verdunstet das Wasser zu schnell und die Äste sind nicht mehr nass genug, so dass der watteartige Effekt der Eisbildung wegfällt. Bei zu tiefer Temperatur oder einem schnellen Temperatursturz schließlich frieren die Äste komplett durch und das Wasser drückt nicht mehr nach oben.

Marcus Beyer arbeitet als Vorhersage- und Warnmeteorologe beim Deutschen Wetterdienst in Offenbach. Der Diplom-Meteorologe interessiert sich für alle Phänomene, die mit Meteorologie in Verbindung gebracht werden können – ganz besonders allerdings für Gewitter.

Foto von Deutscher Wetterdienst DWD

Ein weiterer Faktor für der Entstehung der filigranen Eisgebilde ist Windstille – doch auch hier kommt es auf das richtige Maß an: Denn die eigentliche „Frisur“ des Haareises, also die Bildung von Locken, ihre Anordnung und der gelegentlich entstehende Scheitel lässt sich durch minimale Luftströmungen während des Haarwachstums erklären. Nicht zuletzt ist auch das Mikroklima wichtig für die Lebensdauer des Haareises. Im Schatten kann es den ganzen Tag überleben, an sonnigen Standorten schmilzt es schnell wieder.

Wie also stehen die Chancen, Haareis in der freien Natur zu begegnen? Wie so oft bei seltenen Naturerscheinungen kommt es neben den optimalen Bedingungen auf den richtigen Augenblick an. Doch sicherlich gab es auch in diesem Jahr schon Gelegenheit, auf Haareis zu treffen, sagt Marcus Beyer: „Wichtig ist, dass man aufmerksam durch die Natur geht, dann kann man dieses Phänomen auch immer wieder sehen.“

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