Warum immer mehr Flüsse zu juristischen Personen erklärt werden

Vom Amazonas bis zum neuseeländischen Whanganui: Weltweit setzen sich indigene Gemeinschaften dafür ein, dass Flüsse in ihren Territorien den Personenstatus erhalten. Dieser verspricht konkreten Schutz für die Lebensadern unseres Planeten.

Vielen Flüssen – darunter auch der Amazonas (hier im Bild) – wurden in den vergangenen Jahren Rechte zugestanden, die sie konkret schützen sollen.

Foto von Marcia Kebbon, Nat Geo Image Collection
Von Chloe Berge
Veröffentlicht am 3. Mai 2022, 09:53 MESZ

Der Rivière Magpie in der wilden Taiga der Côte-Nord-Region der kanadischen Provinz Québec ist bei Wildwasser-Fans auf der ganzen Welt vor allem für seine reißenden Stromschnellen bekannt. Doch nur wenige wissen, dass der Fluss vor Kurzem zu einer juristischen Person erklärt wurde. Er ist der erste Fluss Kanadas mit diesem Status.

In der Sprache der First Nations der Innu trägt das 290 Kilometer lange Gewässer den Namen Mutuhekau Shipu. Für sie ist er ein Heiligtum, das nicht nur seit Jahrhunderten einen wichtigen Transportweg darstellt, sondern für sie auch eine Nahrungsquelle und eine Art Apotheke der Natur ist. In den vergangenen Jahren wurde er aber unter anderem durch den Bau eines Wasserkraftwerks stark in Mitleidenschaft gezogen. Dessen negative Folgen für Umwelt und Einheimische heben den positiven Effekt der erneuerbaren Energiequelle wieder auf.

Um den Fluss zu beschützen, haben das Innu Council of Ekuanitshit und der Mingaine Gemeindeverband den Mutuhekau Shipu im Jahr 2021 zur juristischen Person erklärt. Er verfügt dadurch über neun Rechte: unter anderem das zu Fließen, frei von Verschmutzung zu sein, seine Artenvielfalt zu erhalten – und zu klagen.

Was nun zum ersten Mal in Kanada geschehen ist, ist international kein Novum: Überall auf der Welt treiben indigene Völker Naturrechts-Kampagnen voran, deren Ziel es ist, natürliche Wahrzeichen unter konkreten Schutz zu stellen. Viele Flüsse – vom Whanganui in Neuseeland bis hin zum Klamath in Kalifornien – wurden in den letzten Jahren als juristische Personen anerkannt. Im Jahr 2018 verlieh der Oberste Gerichtshof Kolumbiens dem Amazonas – dem längsten Fluss der Welt – diesen Status.

Links: Oben:

Ein Mann zeigt seinem Sohn am Whanganui River in Neuseeland, wie man Aale fängt. Der Fluss ist den Māori heilig: Sie betrachten ihn als Ahnen, einen sogenannten tupuna.

Rechts: Unten:

Jugendliche Māori beim Paddeln auf dem Whanganui River. Durch indigen geführten Ökotourismus kann nicht nur das Verständnis der Reisenden für die Kultur der Ureinwohner gefördert werden, sondern auch die Verbindung der indigenen Bevölkerung selbst zu dem Land ihrer Ahnen.

bilder von Mathias Svold, Nat Geo Image Collection

Eine Schlüsselrolle könnte im Hinblick auf den Schutz von Flüssen der zunehmende Ökotourismus spielen. Die Entwicklung dieses nachhaltigen Wirtschaftszweigs führt nicht nur immer mehr Menschen an das Thema heran, sie gibt auch indigenen Gemeinschaften die Gelegenheit, Reisende darüber aufzuklären, wie wichtig der Schutz dieser Lebensadern ist.

Neue Rechtslage für den Naturschutz

Die Anerkennung von Flüssen als juristische Personen bedeutet ein grundlegendes Umdenken von der in westlichen Gesellschaften fest verankerten Idee, dass der Mensch die Herrschaft über die Natur hat. Indigene Völker erkennen die Natur dagegen seit jeher als fühlendes Wesen an. Die Māori glauben zum Beispiel, dass ihre Ahnen, die tupuna, in der umgebenden Natur manifestiert sind.

„Ich sehe den Fluss und die Bäume als meine Vorfahren an“, sagt Uapukun Mestokosho. Sie ist Mitglied der Mutehekau Shipu Alliance, dem Komitee, dass sich für die Rechte des Flusses eingesetzt hat. „Sie waren lange vor uns hier und haben ein Recht auf Leben.“

BELIEBT

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    In der westlichen Kultur ist das Konzept, nicht-menschlichen Institutionen wie zum Beispiel Unternehmen den Status einer juristischen Person einzuräumen, nichts Neues. Hier ergibt sich eine Schnittstelle zwischen westlichem und indigenem Recht. „Im Fall des Rivière Magpie hat das indigene Recht eine Sprache gewählt, die das kanadische Recht verstehen kann“, sagt Lindsay Borrows, Professorin für Rechtswissenschaften an der Queen’s University in Ontario.

    Dabei bestehen große Unterschiede darin, wie der Status der juristischen Person in der Gesetzgebung ausgestaltet ist. Sie reichen von einer übergreifenden Anerkennung wie im Fall des Whanganui bis hin zum Verfügen über bestimmte Rechte wie im Fall des Magpie oder des Klamath.

    In Ecuador bestätigte kürzlich ein Grundsatzurteil die verfassungsmäßigen Rechte des Los Cedros-Schutzgebiet gegen den Bergbau. In Florida setzten sich die Hüter des Lake Mary Jane vor dem Bundesgericht für das Recht des Sees ein, sich gegen Eingriffe wehren zu können – eine Premiere in den USA.

    In den Fällen, in denen das neue Rechtsinstrument bisher ins Feld geführt wurde, konnten die Hüter von Flüssen und Wäldern mit seiner Hilfe außergerichtliche Einigungen erzielen. Wie wirksam der Personenstatus natürlicher Wahrzeichen im Gerichtssaal ist, muss sich erst noch zeigen. Für die indigene Bevölkerung stellt er trotzdem ein wichtiges Werkzeug dar, das einen Schlussstrich unter die bisherige Behandlung ihrer Territorien zieht.

    „Wir wollen damit deutlich machen, dass die Entscheidungsgewalt bei uns liegt“, sagt Shanice Mollen-Picard, Mitglied der Mutehekau Shipu Alliance. „Wir leben in diesem Gebiet und wir wissen am besten, wie es zu schützen ist.“

    Welche Rolle spielt der Ökotourismus?

    Die Anerkennung als Person lenkt die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Schönheit und kulturelle Bedeutung natürlicher Wahrzeichen. Das macht auch deutlich, wie wichtig der Aufbau einer regionalen Wirtschaft ist, in deren Zentrum der Naturschutz steht.

    Der Whanganui windet sich durch den Whanganui-Nationalpark in der Manawatu-Whanganui-Region Neuseelands.

    Foto von Tim Clayton, Corbis/Getty Images

    Der sich entwickelnde Tourismus in der Côte-Nord-Region Québecs stellt deshalb den Schutz des Rivière Magpie und der Insel Anticosti in den Mittelpunkt. „Ich glaube nicht, dass der Energieversorger Hydro-Québec beim Bau eines weiteren Wasserkraftwerks noch leichtes Spiel haben wird, sobald der Fluss einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht hat“, sagt Danny Peled, Besitzer von Boreal River Adventures, einem Anbieter für Wildwassertouren.

    Der Ökotourismus hat im Gegensatz zu der „Nach uns die Sintflut“-Einstellung der großen Industrieprojekte das Ziel, eine nachhaltige, zukunftsorientierte Ökonomie in der Region zu etablieren. „Der Ökotourismus betrachtet das Land nicht unter dem Gesichtspunkt der Ausbeutung, sondern des Schutzes“, erklärt Keith Henry, Vorsitzender der Indigenous Tourism Association of Canada. „Er verändert das Erlebnisangebot und lädt die Welt dazu ein, daran teilzuhaben.“

    Indigene Gemeinschaften nutzen den Tourismus, um Besucher über die Umweltbedrohungen in ihren Territorien aufzuklären. „Die Stimme der Ureinwohner hat in Bezug auf die Ressourcen- und Landverwaltung der Region inzwischen deutlich an Gewicht gewonnen“, sagt Josh Norris, Geschäftsführer von Redwood Yurok Canoe Tours in Nordkalifornien. „Die Reisenden wollen genau das.“

    Die Paddeltouren seines Unternehmens sollen Gästen bei Fahrten mit traditionellen Einbäumen durch Redwood-Wälder ein tiefes Verständnis für den Klamath vermitteln. Während des Ausflugs berichtet ein Guide vom Volk der Yurok von der historischen und kulturellen Bedeutung des Flusses für seine Gemeinschaft. Er erzählt aber auch von den Gefahren, denen der Fluss ausgesetzt war – und immer noch ist. Sie haben schließlich dazu geführt, dass er zu seinem Schutz mit dem Personenstatus ausgestattet wurde.

    Auf dem grünen Wasser des Whanganui kann man eine ähnliche, Māori-geführte Tour buchen: Eine intime Reise durch die indigene Kultur und Geschichte – und ein unverzichtbares Instrument, um die Öffentlichkeit für den Schutz des Flusses zu gewinnen.

    „Gesetze entfalten erst dann ihre Wirkung, wenn die Menschen sie auch nachvollziehen können“, erklärt Lindsay Burrows. „Bis dieser Punkt erreicht ist, werden sie nicht auf natürliche Weise befolgt. Ich hoffe, dass durch das Erleben der Schönheit der Natur in den Territorien dieser Prozess in den Besuchern in Gang gesetzt wird.“

    Gemeinsamer Einsatz für den Fluss

    Ein tiefes Verständnis zwischen indigenen Gemeinschaften und Besuchern von außerhalb bildet außerdem die Basis für die Versöhnung mit der Kolonialgeschichte. Der aufkommende indigene Tourismus in Nordamerika und anderswo hat indigene Gemeinschaften oft ausgeschlossen und ausgebeutet. Die neue Herangehensweise unter Einbeziehung der Ureinwohner – zum Beispiel auf Flussführungen durch die Gebiete, für deren Schutz sie sich einsetzen – gibt ihnen die Möglichkeit, die Erzählung mitzugestalten.

    Auf den mehrtägigen Touren von Boreal River Adventures führen indigene Guides die Besucher durch tosende Stromschnellen, wirbelnde Strudel, die arktische Tundra und schattige Wälder. „In einer Woche kann man sich gegenseitig wirklich gut kennenlernen. So haben die Gäste die Gelegenheit, Fragen zu stellen und eine tiefgründige Verbindung zu einer indigenen Person aufzubauen“, sagt Danny Peled.

    Und auch die indigenen Ureinwohner kommen während der Ausflüge dem Land ihrer Ahnen wieder näher: Es war eine Boreal River Adventures Tour für Frauen, die im Jahr 2013 den Anstoß zum leidenschaftlichen Kampf für den Schutz des Flusses gegeben hat. „Das war der Moment, als wir beschlossen, uns ohne Wenn und Aber für den Magpie einzusetzen“, sagt Uapukun Mestokosho. „Wir sahen die Geschichte unserer Vorfahren, die Tierwelt, die Sonne, die Kraft des Flusses und wussten: Das müssen wir beschützen.“

    Die indigene Gemeinschaft will nun ihre eigenen Tourismusangebote entwickeln. Noch steht diese Entwicklung am Anfang. Geplant ist jedoch, dass die Hüter des Flusses bei Kräuterwanderungen und Boots-, Wander-, sowie Angelausflügen ihr traditionelles Wissen mit den Besuchern teilen. Dadurch soll ein Bewusstsein für die Notwendigkeit des Schutzes von wilden Flüssen geweckt werden.

    „Es muss klar sein, dass wir Menschen nicht über dem Wasser oder den Tieren stehen. Wir sind Teil eines großen Ganzen“, sagt Mestokosho. „Indem wir die Erde heilen, heilen wir uns selbst.

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