Toxische Killer: Austernpilze töten ihre Beute durch Giftgas

Der beliebte Pilz ist ein Allesfresser – und ernährt sich sogar von Fleisch. Auf seinem Speiseplan stehen unter anderem Fadenwürmer, die der Pilz mithilfe eines Toxins in Minutenschnelle lähmt.

Von Insa Germerott
Veröffentlicht am 25. Jan. 2023, 09:21 MEZ
Die Fruchtkörper eines Austernpilzes wachsen an einem Baumstamm.

Austernpilze an einem Laubbaum. Was viele nicht wissen: Der Speisepilz ist ein Allesfresser, der seine Beute mithilfe eines Giftgases tötet. 

Foto von Igor Kramar / Adobe Stock

Sie sind als gesunde Speisepilze bekannt und unter Pilzsammelnden beliebt: Austernseitlinge (Pleutorus ostreatus) wachsen hauptsächlich an Laubbäumen und verwerten als Destruenten – auch Zersetzer genannt – das abgestorbene organische Material ihres Wirtes. Eine Eigenschaft, von der viele jedoch nichts wissen: Der Austernpilz ist omnivor, also ein Allesfresser, und kann sich dementsprechend auch von Fleisch ernähren. 

Als nematophager Pilz verwertet er winzig kleine Fadenwürmer, die sogenannten Nematoden. Diese leben in so gut wie jedem terrestrischen und aquatischen Ökosystem und dienen dem Pilz vermutlich als zusätzliche Stickstofflieferanten. Doch wie fängt und verwertet der Austernpilz seine tierische Beute? Molekularbiologe Ching-Han Lee vom Institute of Molecular Biology der Academia Sinica in Taipeh und sein Forschungsteam sind dieser Frage in ihrer Studie, die in der Zeitschrift Science Advances erschien, auf den Grund gegangen. 

Wie ernährt sich der Austernpilz?

 „Im Pilzreich verfügen fleischfressende Pilze über verschiedene chemische Strategien, um ihre Beute [...] zu bekämpfen“, erklären die Forschenden. Die meisten Pilze entwickelten zu diesem Zweck Schling- oder Klebefallen, mit denen sie ihre Beute fangen und verdauen. Anders der Austernseitling: „Anstatt die Nematodenbeute physisch zu fangen, produzieren seine Hyphen starke Toxine, die Nematoden innerhalb weniger Minuten nach dem Kontakt lähmen.“ 

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Die Hyphen sind die fadenförmigen Zellen, aus denen ein Pilz besteht. Die einzelnen Pilzfäden befinden sich meist im Boden oder in den Geweben der Wirte, auf denen der Pilz wächst, und sind mit bloßem Auge nicht sichtbar. Erkennbar ist für uns nur der Fruchtkörper, den wir verzehren. Die Hyphen bilden ein verzweigtes Netz, das Mycel. Mit seinen Substrathyphen kann der Pilz beispielsweise in Gewebe eindringen und so Nährstoffe aufnehmen.  

Auf diese Weise ernährt sich auch der Austernseitling: Nachdem sein Gift die Fadenwürmer gelähmt hat, werden sie von Pilzhyphen mit Verdauungsfunktion durchwachsen und zersetzt. Dieser Vorgang ist nur unter dem Mikroskop sichtbar. Welches Gift der Austernpilz allerdings genau produziert und welcher molekulare Mechanismus den Zelltod in den Fadenwürmern auslöst, war Forschenden bislang unbekannt. 

Ähnlich wie bei Giftschlangen: Nervengas lähmt Fadenwürmer 

Für ihre Studie untersuchten Lee und sein Forschungsteam Lollipop-ähnliche Fortsätze an den Hyphen des Austernseitlings: die Toxocysten. Sie standen bereits im Verdacht, das Nervengift zu produzieren, mit dem der Austernpilz die Nematoden lähmt. Bei einer chemischen Analyse zeigte sich: In den Toxocysten ist tatsächlich eine flüchtige organische Verbindung namens 3-Octanon gespeichert, die von den Pilzen als Giftgas eingesetzt werden kann. Sie ist laut den Forschenden der Hauptbestandteil, der eine minutenschnelle Lähmung und den Zelltod bei den Nematoden auslöst, wenn diese mit dem Giftgas in Berührung kommen – vergleichbar mit der Muskelschädigung, die durch manche Giftschlangenbisse hervorgerufen wird. 

BELIEBT

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    Das Giftgas 3-Octanon schädigt dabei die Zellmembranen verschiedener Fadenwürmerzellen, darunter auch deren Muskelzellen, „was einen massiven Calciumeinstrom in die Mitochondrien verursacht und zum Zelltod führt“, heißt es in der Studie. Durch den plötzlichen Calciumüberschuss ziehen sich die Muskeln des Fadenwurms krampfartig zusammen. Er wird gelähmt. 

    So kann der Austernseitling seine Beute schließlich gefahrlos mit seinen Hyphen durchwachsen und verdauen. Das Nervengift könnte allerdings nicht nur zum Töten der Nahrung eingesetzt werden, sondern auch als Schutzmechanismus vor schädlichen Angriffen pilzfressender Fadenwürmer dienen. Da Nematoden in der Land- und Forstwirtschaft als Parasiten gelten, leistet der Austernpilz auch einen Beitrag für seinen Wirtsbaum. Für Menschen ist das Nervengift des Pilzes jedoch nicht gefährlich. 

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