Wie die Atacama-Wüste zum Fast Fashion-Friedhof wurde

In Chile bricht eine gigantische Mülldeponie für Kleidung aus der ganzen Welt alle Rekorde. Die Berge aus textilen Abfällen führen klar vor Augen, was unser Hunger nach Mode anrichtet – und trotzdem wachsen sie immer weiter.

Von John Bartlett
Veröffentlicht am 24. Apr. 2023, 10:17 MESZ
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Francisco Ángel, 24, sucht in einem Müllberg in der chilenischen Atacama-Wüste nach Markenkleidung, mit der sich auf dem lokalen Straßenmarkt mehr Geld verdienen lässt. In der Hafenstadt Iquique entladen Schiffe wöchentlich Container mit alter und ungetragener Kleidung. Ihre Reise endet in der trockensten Wüste der Welt.

Foto von Tamara Merino, National Geographic

Die Atacama im Norden Chiles reicht vom Pazifischen Ozean bis zu den Anden. Sie ist die trockenste Wüste der Welt und erinnert mit ihren dramatischen, rot-orangenen Felsen, Canyons und Gipfeln an die Bilder, die der Rover der NASA auf dem Mars gemacht hat.

Die Atacama-Wüste ist aber nicht nur eine beeindruckende Naturlandschaft – sie ist außerdem ein riesiger Friedhof für die Modetrends von gestern. In beängstigender Geschwindigkeit wachsen hier Müllberge aus weggeworfenen Kleidungsstücken – das Resultat eines nicht enden wollenden Stroms von billig und in Massen hergestellten Produkten der Fast Fashion-Industrie. Die Abfallmengen sind so groß, dass die Vereinten Nationen bereits von einem „Notfall für Umwelt und Gesellschaft“ sprechen. Die Herausforderung ist nun, die Müllflut zu stoppen.

Die Zahlen sprechen für sich: Zwischen den Jahren 2000 und 2014 hat sich die Bekleidungsproduktion verdoppelt. Konsumenten haben in diesem Zeitraum rund 60 Prozent mehr Kleidungsstücke gekauft, diese aber nur halb so lang getragen wie zuvor. Drei Fünftel aller Hosen, Hemden und Kleider landen heute innerhalb eines Jahres nach ihrer Herstellung auf Mülldeponien oder in Verbrennungsanlagen – das entspricht einer Lastwagenladung pro Sekunde.

Die Entsorgungseinrichtungen, die sich größtenteils in südasiatischen und afrikanischen Ländern befinden, werden der Lage inzwischen nicht mehr Herr. Eine Müllhalde am Stadtrand der ghanaischen Hauptstadt Accra besteht zu 60 Prozent aus weggeworfener Kleidung. Der Berg ist fast 20 Meter hoch und hat als Symbol der Fast Fashion-Krise international traurige Berühmtheit erlangt.   

Eine Tee-Verkäuferin auf dem La Quebradilla-Markt in der chilenischen Stadt Alto Hospicio. Gebrauchte Kleidung, die hier verkauft wird, wechselt für Beträge zwischen 11 Cent und 1,80 Euro pro Stück den Besitzer. Die Händler kaufen sie in Bündeln mit einem Gewicht von rund 600 Kilogramm ein und zahlen dafür weniger als 20 Euro.

Foto von Tamara Merino, National Geographic

Araceli Albina Zapata Cornejo, 44, Teresa Saavedra Cordero, 32, und María Belen Valdebenito Cavalieri, 27, sortieren gebrauchte Kleidung nach Farbe und Material, bevor sie sie in verschiedene Kategorien einteilen. Die Textilien werden zum Teil zu Garn verarbeitet, andere werden geschreddert und unter anderem als Kissenfüllung wiederverwertet.

Foto von Tamara Merino, National Geographic

In einem Video, das die Situation in Chile zeigt, wird die Szenerie in Anlehnung an den besser bekannten riesigen Müllstrudel im Pazifik als „Great Fashion Garbage Patch“ bezeichnet. So weit das Auge sieht, türmen sich am Stadtrand der chilenischen Stadt Alto Hospicio gigantische Haufen entsorgter Kleidung aus der ganzen Welt. In einer Schlucht stapeln sich Jeans und nagelneue, von der Sonne ausgebleichte Sakkos über Kunstfellmänteln und Hemden, an denen noch die Etiketten hängen. Darunter mischen sich Flaschen, Tüten und anderer Müll.

„Dass wir die textile Müllhalde der westlichen Welt geworden sind, schockiert mich“, sagt Franklin Zepeda. Er stammt aus Nordchile und leitet die Firma Con100cia Circular, die Unternehmen zum Thema Nachhaltigkeit, Kreislaufwirtschaft und Müllvermeidung berät.

Wie kommt der Textilmüll in die Wüste?

Eine abgelegene Wüste, mehr als 1.600 Kilometer entfernt von Chiles Ballungsgebieten im Süden, scheint auf den ersten Blick nicht die naheliegendste Wahl für einen Fast Fashion-Friedhof zu sein. Die Lage ergibt jedoch Sinn, wenn man bedenkt, dass sich in der Küstenstadt Iquique am westlichen Rand der Atacama-Wüste einer der größten zollfreien Häfen Südamerikas befindet. Im Jahr 2022 kamen hier der chilenischen Zollstatistik zufolge insgesamt 44 Millionen Tonnen Kleidung aus Europa, Asien, Nord-, Mittel- und Südamerika an.

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    In der Fabrik von Ecocitex in Santiago, Chile, schreddern Maschinen unbrauchbare Kleidung. Dabei entsteht eine Mischung namens Textilvlies, aus der ohne Zusatz von Wasser und Färbemittel neues Garn in verschiedenen Farben hergestellt wird.

    Foto von Tamara Merino, National Geographic

    Juan Rosales Mora, 72, entwirrt den zuckerwatteähnlichen Stoff und schneidet ihn in Streifen. So entsteht ein erster Vorläufer des neuen Garns. Eine Maschine verarbeitet diese zum fertigen Endprodukt.

    Foto von Tamara Merino, National Geographic

    In zollfreien Häfen werden Waren eingeführt und oft direkt weiter verschifft, ohne dass Gebühren und Steuern anfallen – das soll Wirtschaft und Handel ankurbeln. Der Hafen von Iquique wurde im Jahr 1975 gegründet und hat seitdem zu großen Verbesserungen der lokalen Wirtschaft und der Situation am Arbeitsmarkt geführt. Inzwischen ist Chile zum weltweit größten Importeur gebrauchter Kleidung geworden – und das ist auch in Iquique spürbar. So rasant die Fast Fashion-Industrie wächst, so stark steigt auch das Importvolumen des Hafens.

    Laut Bernardo Guerrero, Soziologe der Fundación Crear, die die Geschichte und Kultur der Stadt erforscht, war die Einführung der zollfreien Zone für die Bewohner von Iquique eine echte Revolution. „Plötzlich konnten sie sich Dinge leisten, von denen sie zuvor nicht einmal zu träumen wagten – zum Beispiel ein eigenes Auto“, sagt er. In Wellen wurden globale Modetrends in der Stadt an- und wieder weggespült. Guerrero erinnert sich an eine Zeit in den Neunzigerjahren, als fast alle Einwohner Iquiques dieselbe Daunenjacke trugen, die in Massen per Schiff die Stadt erreichte – ein Vorbote dessen, was folgen sollte.

    Manuela Medina, 70, und ihr Sohn Alexis Carreo, 49, sind auf einem Müllberg aus Kleidung in der Atacama-Wüste auf der Suche nach Ware, die sie verkaufen können.

    Foto von Tamara Merino, National Geographic

    Heute haben etwa 2.000 verschiedene Firmen Niederlassungen in der zollfreien Zone – davon 57 Prozent aus dem Ausland. Handgemalte Logos zieren die Tore von Lagerhallen. Am Rand der engen Straßen stapeln sich Gebrauchtwagen, ein anderes großes Importgut des Hafens. Doch in erster Linie ist die zollfreie Zone zu einem Auffangbecken für den Textilmüll des Planeten geworden.

    „Im Grunde recyclen wir hier die Kleidung der Welt“, sagt Mehmet Yildiz, der vor zwanzig Jahren aus der Türkei nach Chile kam und hier die Modeimportfirma Dilara gegründet hat. Sie führt ausgewählte Kleidungsstücke aus den USA und Europa ein, die meisten stammen aus Kleiderspenden. Nach ihrer Ankunft in Iquique werden die Textilien in vier Qualitätskategorien sortiert: von hochwertig bis schlecht. Die besten Teile exportiert die Firma für den Weiterverkauf nach Asien, Panama, Afrika, in die Dominikanische Republik – und manchmal sogar zurück in die USA.

    Müll zu Geld machen

    Bekleidung, die nicht mehr tragbar ist, wird mit dem Lastwagen an den Stadtrand von Alto Hospicio gebracht. Hier durchsuchen Händler die Textilhaufen nach Kleidung, die sich in kleinen Geschäften und auf der Straße zu Geld machen lässt. Auf dem La Quebradilla, Chiles größtem Markt unter freiem Himmel, ist die Reihe von über 7.000 Ständen, die Klamotten von der Müllkippe anbieten, fast einen Kilometer lang. Wer ausgebleichte T-Shirts von den US-Open 2001 sucht, Jacken der texanischen Bundespolizei oder auch Wollmützen mit dem Emblem der California University, wird hier fündig.

    Luftaufnahme des zollfreien Hafens von Iquique im Norden Chiles an der Pazifikküste. Der Hafen wurde mit dem Ziel, die Wirtschaft anzukurbeln, im Jahr 1975 gegründet. Heute ist er einer der größten zollfreien Häfen Südamerikas.

    Foto von Tamara Merino, National Geographic

    Was auf dem Markt nicht verkauft wird, landet in der Wüste – für lange Zeit. Denn viele der Kleidungsstücke bestehen aus synthetischen Materialien, die nicht biologisch abbaubar sind. Selbst dieser Müll wird noch von Menschen auf der Suche nach Brauchbarem durchwühlt. An einem kühlen Nachmittag sucht eine obdachlose Frau namens Génesis in einem Haufen aus Arbeitskleidung, Smokings, Unterwäsche und Crocs nach einer Decke, um sich in der Nacht wärmen zu können. Dabei findet sie auch ein paar gute Kleidungsstücke, die sie mitnimmt, um sie für ein paar Münzen auf dem La Quebradilla zu verkaufen.  

    „Ich kann alles gebrauchen“, sagt sie fröhlich und lacht, als sie sich vorstellt, wie sie wohl in dem brandneuen Sommerkleid mit aufgedruckten Erdbeeren aussehen wird, das sie aus dem Müll gefischt hat. „Ein Glück, dass ich das gefunden habe.“

    Recycling und EPR

    Während die Menschen bis vor einigen Jahren durch den Weiterverkauf durchaus von dem Strom gebrauchter Kleidung profitieren konnten, ist die Textilflut inzwischen so überwältigend, dass neue Lösungen für das Müllproblem gefunden werden müssen. Mehrere kleine und große Projekte bemühen sich darum, die Kleiderberge in der Wüste abzutragen.

    Zwei Kinder schauen sich ein Rüschenkleid an, das auf dem La Quebradilla zum Kauf angeboten wird. Auf Chiles größtem Freiluftmarkt reihen sich auf einer Länge von fast einem Kilometer mehr als 7.000 Stände aneinander, die weggeworfene Kleidung anbieten.

    Foto von Tamara Merino, National Geographic

    Regelmäßig werden textile Müllberge angezündet und dabei giftige Rauchwolken freigesetzt.

    Foto von Tamara Merino, National Geographic

    Die Reste einer verbrannten Hose auf dem Boden der Atacama-Wüste.

    Foto von Tamara Merino, National Geographic

    Eines von ihnen ist das Unternehmen EcoFibra, das Franklin Zepeda im Jahr 2018 gegründet hat. Es stellt Dämmplatten aus Textilabfällen her. „Ich habe erkannt, dass sich ein großer Teil der weggeworfenen Kleidung für die Herstellung von Rohstoffen für neue Produkte eignet – mit dem Nebeneffekt, dass der Müllberg in der Wüste reduziert wird“, sagt er. Bisher wurden die Platten von EcoFibra beim Bau von mehr als 100 Häusern in Nordchile eingesetzt.

    Manuela Medina, 70, gilt als Pionierin des Handels mit gebrauchten Textilien in Alto Hospicio. Sie lebt heute in einem Holzverschlag in der Nähe der wachsenden Müllberge.

    Foto von Tamara Merino, National Geographic

    Ecocitex, ein Startup mit Sitz in Santiago, verarbeitet die entsorgte Kleidung zu Garn, aus dem neue Mode entsteht. „Unsere Mission ist es, den Textilmüll in Chile zu beseitigen“, sagt Inhaberin Rosario Hevia. „Es hat mich so wütend gemacht, dass dafür keine Lösung gefunden wurde, dass ich das Problem selbst angegangen bin.“

    Das Unternehmen, das die zollfreie Zone in Iquique managt, unterstützt Recyclingprogramme. Dilara, die Firma von Mehmet Yildiz, plant, in diesem Jahr eine Fabrik zu eröffnen, in der Kleidung, die sich nicht mehr verkaufen lässt, zu Kissenfüllungen weiterverarbeitet werden soll.

    Es sind viele wichtige, aber kleine Schritte. Um das Problem im großen Stil in den Griff zu bekommen, muss die chilenische Regierung tätig werden. Die World Bank schätzt, dass bis zum Jahr 2050 jährlich 3,4 Milliarden Tonnen Müll produziert werden. In Anbetracht dessen erlassen immer mehr Länder Gesetze, die die Hersteller in die Pflicht nehmen. Sie sollen sich finanziell an der Entsorgung ihrer Produkte beteiligen. Regelungen zu dieser erweiterten Herstellerverantwortung – kurz EPR für Extended Producer Responsibility – sind inzwischen unter anderem in Indien, Australien, Japan, Kanada und in manchen US-Bundesstaaten in Kraft getreten.

    Génesis, 27, sucht in den Müllbergen der Atacama-Wüste nach Kleidung, Decken und anderen Dingen, die sie verkaufen oder selbst nutzen kann. Die wertvollsten Funde sind Markenklamotten mit Etiketten.

    Foto von Tamara Merino, National Geographic

    Chile hat seine Version der EPR namens Extended Liability of the Producer (Ley REP) im Jahr 2016 implementiert. Das Gesetz überträgt Herstellern die Verantwortung für die Entsorgung von sechs verschiedenen Arten von Abfall, darunter Schmierstoffe, Elektroartikel, große und kleine Batterien, Behälter und Verpackungen sowie Reifen – nicht jedoch für Textilien.

    Laut Tomás Saieg, Leiter der Abteilung für Kreislaufwirtschaft im chilenischen Umweltministerium, wird sich das aber bald ändern, wenn neben zwei anderen Produkttypen auch Textilien von der Ley REP abgedeckt werden. „Der wichtigste Schritt ist es, den Zustrom neuen Abfalls zu stoppen, damit die Wüste nicht weiter vermüllt“, sagt er. „Es wäre traumhaft, wenn Chile sich von einer Mülldeponie in eine Recycling-Drehscheibe verwandeln könnte. Doch damit das gelingt, müssen Textilien unbedingt in die Ley REP aufgenommen werden.“

    Luftaufnahme eines Haufens entsorgter Bekleidung in der Atacama-Wüste – dem Fast Fashion-Friedhof der Welt. Ein großer Teil der Kleidungsstücke, die hier landen, besteht aus synthetischen Materialien, die nicht biologisch abbaubar sind.

    Foto von Tamara Merino, National Geographic
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