Seychellen - zurück zum Paradies

Der Mensch hat das Ökosystem der Inseln im Indischen Ozean durcheinandergebracht. Nun versucht er, wieder Ordnung zu schaffen.

Von Kennedy Warne
Foto von Thomas Peschak

Zusammenfassung: Eingeschleppte Pflanzen und Tiere vertrieben die einheimische Flora und Fauna der Seychellen. Bereits erfolgreich ausgerottet wurden eingeführte Ratten, die den Bestand der Riesentausendfüßer stark dezimierten. Auf den Seychellen ist es heute das oberste Ziel, die einmalige Natur wiederherzustellen und zu schützen .

Nick Page ist ein heiterer Neuseeländer mit sonnenverbranntem Gesicht, schwarzen Locken – und der Lizenz zum Töten. In seiner Hand hält er ein Foto des meistgesuchten Wesens auf der Seychellen-Insel Assumption: des Rotohrbülbüls. Der Vogel ist etwa so groß wie ein Star, er hat einen schwarzen Kamm und feuerrote Federbüschel hinter den Augen. Seit 2013 haben Naturschützer auf dem sieben Kilometer langen Landstreifen 5278 Rotohrbülbüls erlegt. Nur einer lebt noch.

Page hatte Nummer 5279 bereits zweimal im Visier, kam aber nicht zum Schuss. Beim ersten Mal flog ein schwarzer Milan vorbei und schreckte den Gejagten auf. Beim zweiten Mal regnete es zu stark. Aber der junge Biologe ist sicher, dass er den Bülbül bald erwischen wird, „mit etwas Glück und viel Geduld“.

Page nimmt an einem Ausrottungsprojekt mit einer ganz speziellen Zielsetzung teil: dem Schutz der heimischen Tierwelt.

Es war womöglich der eigene Freiheitsdrang, der die Rotohrbülbüls (Pycnonotus jocosus ) auf die „Most wanted“- Liste gebracht hat. Die Vögel wurden in den Siebzigerjahren von Guano-Sammlern aus Mauritius nach Assumption mitgebracht, als singende Haustiere. Ob sie aus ihren Käfigen entwischten oder ausgesetzt wurden, ist nicht klar, jedenfalls kamen sie frei, vermehrten sich schnell – und aus den geselligen Hausgenossen wurde eine Bedrohung.

Eine Bedrohung nicht unbedingt für Assumption, sondern für die Tierwelt auf dem 28 Kilometer weiter nördlich gelegenen Aldabra. Das westlichste der 115 Seychellen-Eilande und Atolle im Indischen Ozean ist eines der wichtigsten Naturschutzgebiete der Welt. Zu seinen Schätzen gehört ein anderer Bülbül, der Rotschnabelbülbül (Hypsipetes madagascariensis rostratus). Naturschützer fürchten, der Rotohrbülbül könnte es über das Meer schaffen und dann mit dem Aldabra-Rotschnabelbülbül und anderen heimischen Vogelarten um das begrenzte Futterangebot konkurrieren, auf einheimische wirbellose Tiere Jagd machen und die Samen inselfremder Pflanzen verbreiten. Die Seychellenstiftung, die Aldabra verwaltet, will das nicht riskieren und geht das Problem daher an der Quelle an: auf Assumption. „Rotohrbülbüls haben es schon einmal nach Aldabra geschafft. Es könnte wieder passieren“, sagt Jessica Moumou, die das Jagdprojekt leitet.

Und nicht nur auf Bülbüls haben es die Jäger abgesehen. Auch der finkenähnliche Madagaskarweber – ein Vogel mit leuchtend rotem Gefieder – soll ausgemerzt werden. Anfang des 21. Jahrhunderts kamen einige Exemplare nach Aldabra und gründeten einen Bestand, der schon bald hundert Tiere zählt. Erst dann wurden sie entdeckt und aus Sorge um einen anderen auf der Insel heimischen Webervogel gejagt.

Eine Vogelart zur Rettung einer anderen liquidieren? Das mag manchem pervers erscheinen, wie ein törichter Eingriff in die inneren Angelegenheiten der Natur. Kritiker betonen, dass es doch erst die menschliche Einmischung war, die das Ökosystem durcheinandergebracht hat. Der Versuch, nun die ursprüngliche Natur wiederherzustellen, sei nichts anderes als ein weiterer schädlicher Eingriff des Menschen. Er spiele sich als Gott auf, indem er hier ein Stück Natur hinzufüge und dort wieder entferne.

Die Verteidiger der Renaturierung sehen das anders. Ihr Prinzip lautet: „Mach heil, was du kaputt gemacht hast.“ Gerade weil es die Menschen waren, die viele fremde Arten absichtlich oder unabsichtlich einführten, was mit der Zeit die Ökosysteme vieler Inseln zum Teil bis zur Unkenntlichkeit verändert hat. Besonders wenn es sich bei den importierten Arten um Säugetiere handelte. Auf isolierten Inselgruppen haben sich die Ökosysteme oft fast ganz ohne Säuger entwickelt. Die einzigen heimischen auf den Seychellen sind Fledermäuse. Tiere, die derart isoliert auf Inseln leben, haben nie gelernt, sich gegen fremde Konkurrenz und Räuber zu verteidigen. Der Mensch, der die neuen Feinde einschleppte, sollte nun wieder ökologisch faire Voraussetzungen schaffen, sagen die Aktivisten. Und das lasse sich oft nur erreichen, indem die Rowdys vom Schulhof verwiesen werden. Wie dem auch sei: Nick Page jedenfalls erschießt zehn Tage später den letzten Rotohrbülbül.

Seit es Leben auf der Erde gibt, kam es zu fünf Wellen, in denen massenhaft Arten starben. Momentan erleben wir die sechste. Die ersten fünf waren die Folge von globalen Naturkatastrophen, jetzt ist der Mensch die Ursache. Aber es gibt Menschen, die sich damit nicht abfinden wollen. Und die Verfassung des Inselstaates Seychellen enthält ein paar Sätze, die ihnen Hoffnung machen. Dort heißt es in der Präambel: „Wir, das Volk der Seychellen, dem Allmächtigen Gott DANKBAR dafür, dass wir eines der schönsten Länder der Welt bewohnen; STETS BEWUSST der Einzigartigkeit und Verletzlichkeit der Seychellen (...) erklären unsere unerschütterliche Verpflichtung (…), zum Schutz einer sicheren, gesunden und funktionsfähigen Umwelt für uns und die Nachwelt beizutragen.“

Schützenswertes gibt es auf den Seychellen zur Genüge, besonders auf den östlichen Inseln, auf denen die Mehrzahl der 93.000 Einwohner lebt. Diese Inseln bestehen aus Granitgestein, sie sind die Bergspitzen einer unter Wasser liegenden Landmasse, die sich mit Indien und Madagaskar vor 125 Millionen Jahren vom Großkontinent Gondwana abspaltete und dabei die alte Flora und Fauna mitnahm. Die Inseln waren nach der Abspaltung weitgehend isoliert, nur gelegentlich kamen Zuwanderer, und so entstand im Laufe der Evolution ein biologisches Raritätenkabinett, mit zahlreichen endemischen Arten, mit Arten, die es auf der Welt nur hier gibt. Hier leben Frösche, die kleiner sind als ein Fingernagel, und Riesenschildkröten, die eine Vierteltonne wiegen. Es gibt eine Palme mit so mächtigen Nüssen, dass sie beim Herunterfallen einen Schädel einschlagen können, einen Baum mit Samenkapseln, die wie Quallen aussehen, eine Geißelspinne mit Fangarmen wie die einer Gottesanbeterin und Landkrabben, die so groß wie Katzen werden.

Und jedes der Eilande hat seine Eigenheiten. Frégate zum Beispiel, die östlichste Granitinsel, beherbergt nicht nur eine luxuriöse Hotelanlage, die Insel im Privatbesitz ist auch ein einzigartiges Refugium für seltene Arten. Dazu gehört der Seychellendajal, ein Vogel mit einem eleganten schwarz-weißen Gefieder. Sein zutrauliches Wesen hat ihn zum Liebling der Menschen gemacht. Trotzdem gab es Mitte der Sechzigerjahre weltweit höchstens noch 15 Exemplare. Sie lebten ausschließlich auf Frégate. Zu ihrer Rettung starteten Naturschützer ein umfassendes Projekt: Wild lebende Katzen, die Jagd auf die Vögel machten, wurden ausgerottet, die Dajals bekamen Nistkästen und ein verbessertes Nahrungsangebot. Der Bestand stieg wieder. Bald konnten einige auf benachbarten, raubtierfreien Inseln angesiedelt werden, das Risiko ihrer Ausrottung wurde dadurch verteilt. Inzwischen gibt es wieder mehrere Hundert Dajals.

Für Menschenaugen weniger attraktiv, aber für die Ökologie von Frégate enorm wichtig sind die endemischen Seychellen-Riesentausendfüßer: schwarz glänzend, fingerdick, bis zu 15 Zentimeter lang. Im Wald rollen sie sich zu dunklen Knoten zusammen oder überqueren vielbeinig die Inselstraßen. „Ich bremse auch für Tausendfüßer“ wäre ein guter Aufkleber für die Golfmobile, mit denen die Hotelgäste über die Insel touren.

In der Regel werden die eindrucksvollen Krabbeltiere erst nach Einbruch der Dunkelheit aktiv. Bei einer Nachtwanderung mit Tanya Leibrick, der Naturschutzmanagerin des Hotels, muss man im Wald seine Füße sehr vorsichtig setzen, wenn man kein verhängnisvolles Knirschen unter den Sohlen hören will. Ökologen haben errechnet, dass die hungrigen Tausendfüßer in diesem Wald in 24 Stunden ein Fünftel aller heruntergefallenen Blätter fressen und dem Boden wieder als Dünger zuführen.

In der Nähe eines umgestürzten Baumes versucht ein dicker Käfer, dem Schein der Kopflampen zu entkommen. Die Knubbel auf seinem Rückenpanzer erinnern an Blindenschrift. Er gehört zu einer der größten Schwarzkäferarten (Polposipus herculeanus) der Welt. Diese Tiere werden bis zu drei Zentimeter lang und kommen in Freiheit nur hier vor.

Dass es den Käfer überhaupt noch gibt, ist beinahe ein Wunder. Denn 1995 tauchte der Albtraum aller Inselschützer auf Frégate auf: Ratten. Zwar lautet der einheimische Name für den Riesenkäfer „gepanzerte Spinne“. Aber kein Skelettpanzer konnte ihn oder die Geißelskorpione, Schnecken und die anderen einheimischen wirbellosen Tiere vor den Zähnen der Ratten schützen. Nach vier Jahren war der Käferbestand um 80 Prozent geschrumpft. Doch der ökologische Zusammenbruch wurde mit internationaler Hilfe gerade noch verhindert. Im Jahr 2000 war Frégate wieder rattenfrei.

Es raschelt, ein dünnes, blassblaues Wesen schimmert durch das Laub. Tanya Leibrick schiebt mit den Füßen ein paar Blätter beiseite. Zum Vorschein kommt keine Schlange, sondern eine Blindwühle. Mit einigen raschen Windungen flüchtet sie in die Sicherheit ihres Erdlochs. Dieser schlangenartige Lurch wird höchstens 30 Zentimeter lang, kleinere Exemplare werden schon mal mit Regenwürmern verwechselt. Er gehört zu den Tieren, die bereits vor 125 Millionen Jahren auf den Inseln lebten, als diese sich von Gondwana losrissen, und er ist ein Grund für die biologische Einzigartigkeit der Region.

„Es gibt kaum eine Handvoll Inselgruppen, die ähnlich artenreich sind wie die Seychellen“, sagt der Ökologe Christopher Kaiser-Bunbury. „Galápagos ist dank Darwin bekannter, aber die Seychellen stehen auf der gleichen Stufe.“ Kaiser-Bunbury sucht bei einer Klettertour auf der Hauptinsel Mahé nach Quallenbäumen. Wie auf vielen ökologisch geschädigten Inseln findet man die ursprünglichsten Arten weit oben – auf Bergspitzen, fern der Landwirtschaft und der menschlichen Ansiedlungen.

Hier oben ragen die Felskuppen kahl aus dem üppig grünen Wald heraus, eine Art Inseln auf der Insel. In den Rissen und Sprüngen im Granit finden Pflanzen Halt. Viele sind endemisch, so auch der Quallenbaum Medusagyne. Seine typischen Samenkapseln hängen wie winzige Quallen in den glänzenden grünen Blättern. Weltweit sind weniger als zwei Dutzend Exemplare des Baums bekannt – und sie alle wachsen auf diesem Felsen, auf dem die meisten anderen Pflanzen die glühende Hitze und starken Niederschläge nicht aushalten. Aber vom Quallenbaum keimen nur wenige Samen. Es wird lange dauern, bis die bedrohte Art wieder einen stabilen Bestand hervorgebracht hat.

Weiter unten, im Regenwald, vernichten die Arbeiter eingeschleppte fremde Pflanzen. Sie reißen Kokospflaumensträucher, Guaven und Zimtbäume aus. Sie sollen Lebensraum schaffen für endemische Gewächse wie die fleischfressende Kannenpflanze. Kaiser-Bunbury sagt, dass das Ziel der Renaturierung die Erneuerung eines intakten Ökosystems sei – und nicht der Nachbau einer Landschaft, die es vor hundert, tausend, oder zehntausend Jahren gegeben hat. Es gehe nicht darum, ein altes Bild zu kopieren. Das frühere System soll vielmehr die unterbrochene natürliche Entwicklung wiederaufnehmen können. „Das ist nicht nur Gartenarbeit. Wir bringen die Natur auf den Weg zurück.“

Einige Insulaner unterstützen die Renaturierung schon länger. Zum Beispiel der Ranger Terence Valentin, ein Rastafari. Seine üppigen Dreads trägt er unter einem T-Shirt, das er sich um den Kopf gewickelt hat. „Ich bin seit 19 Jahren im Umweltschutz, Bruder“, sagt er. „Die Erde und ich, mein Freund, sind eins.“

Die Menschen auf der Insel Aldabra erleben diese Einheit täglich, sogar in ihren Wohnungen. Nektarvögel bauen Nester auf Lampen und Duschvorhangstangen und stehlen auch mal eine Halskette als Nestschmuck. Eine Riesenschildkröte, die in der Nähe der Forschungsstation lebt, hat gelernt, wie sie die Treppen hochkommt, wenn sie einen Schluck Wasser braucht.

Auf Aldabra leben mehr Schildkröten, als die Seychellen Bewohner haben. Alles an den Tieren wirkt urzeitlich, sogar das knarzende Geräusch, wenn sie gehen. Amselgroße, schwarze Vögel, die Aldabra-Drongos, lassen sich auf den Schildkrötenrücken tragen und halten nach Insekten Ausschau, die von den Riesen aufgeschreckt werden. Und abends mischt sich der Meeresatem in den Felsen mit dem Schnarchen der Schildkröten unter den Bodenbrettern der Hütten.

Diese Inseln ticken anders. Das kann man wörtlich nehmen. In Victoria, dem historischen Zentrum der Insel Mahé, steht eine Kirche mit einer ungewöhnlichen Uhr. Sie schlägt zweimal: einmal zur vollen Stunde und ein paar Minuten später erneut. Gibt es ein besseres Symbol für die Seychellen? Ein zweites Läuten für eine zweite Chance, für die Rettung des Dajals, der Riesentausendfüßer und Kannenpflanzen. Diese Glocke feiert die Erholung der Natur.

Aus dem Englischen von Sabine Schmidt(NG, Heft 3 / 2016, Seite(n) 86 bis 105)

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