Haben nur Mütter einen Mutterinstinkt? Forscher geben Antworten.

Neueste Studien über die chemischen Vorgänge im Gehirn und der sozialen Entwicklung zeigen, dass wir unsere Definition von Mutterschaft überdenken sollten.

Von Sarah Gibbens
Veröffentlicht am 11. Mai 2018, 15:38 MESZ
Eine Mutter hält in Port of Spain auf Trinidad die Hand ihres Kindes.
Eine Mutter hält in Port of Spain auf Trinidad die Hand ihres Kindes.
Foto von Michael Nichols, National Geographic Creative

Bevor und nachdem Sarah Blaffer Hrdy ihren neugeborenen Enkel zum ersten Mal sah, spuckte sie in ein Röhrchen. Als ihr Ehemann zwei Wochen später kam, um den Säugling zum ersten Mal zu besuchen, ließ sie ihn dasselbe tun.

Laboruntersuchungen wiesen daraufhin nach, dass sich ihr Level des im Gehirn produzierten Hormons Oxytocin an diesem Abend um 63 Prozent erhöht hatte. Die Spucke ihres Ehemanns wies einen Sprung von 26 Prozent nach oben auf, was jedoch nach wenigen Tagen ebenfalls auf 63 Prozent stieg.

„Beim Endergebnis gab es keinen Unterschied zwischen mir und meinem Ehemann, er musste dafür nur ein bisschen länger mit seinem Enkel zusammen sein“, sagt sie. Die angesehene Anthropologin ist inzwischen emeritierte Professorin der University of California, Davis, und hat bereits zahlreiche Forschungsarbeiten zum Thema menschliche Mutterschaft veröffentlicht.

„Alle Säugetiermütter zeigen mütterliches Verhalten oder ‚Instinkte‘, aber das bedeutet nicht – wie oft angenommen – dass jede Gebärende automatisch dazu bereit ist, ihren Nachwuchs zu versorgen“, gibt Hrdy an. „Es sind eher die Schwangerschaftshormone, die Mütter dazu bringen, sich um ihre Neugeborenen zu kümmern. Nach der Geburt reagiert sie nach und nach auf verschiedene Reize.“

Das trifft nicht nur auf Frauen zu, die selbst ein Kind zu Welt gebracht haben. Hrdy und ihr Ehemann sind Großeltern, aber es überrascht nicht sehr, dass auch bei ihnen ein ähnlicher Anstieg des Oxytocins nachweisbar ist. Dieses Hormon ist mitverantwortlich für die Mutter-Kind-Bindung. Wenn es nach Hrdy ginge, sollten sowohl Mütter, die ein Kind gebären, wie auch Adoptivmütter als „biologische Mütter“ angesehen werden. Sie stützt dies auf die Veränderungen in ihren Körpern, wenn sie Eltern werden.

„Beide durchleben ähnliche neuroendokrinologische Veränderungen – auch wenn keine eigene Geburt oder Stillen stattfinden“, meint Hrdy.

Transgender-Vater Liam Johnson hält seine einjährige Tochter Aspen an ihrem Geburtstag im Arm. Liam Johnson (20) und Racquelle Trammell (30) trafen die schwierige Entscheidung, ihre Geschlechtsumwandlungen zu pausieren, um ein Baby zu bekommen. Liam identifiziert sich als Mann, ist aber physiologisch in der Lage, auf natürlichem Weg Kinder zu gebären. Racquelle musste die Einnahme von Östrogen pausieren, damit ihre Spermien eine Eizelle befruchten konnten.
Foto von JJ Fabre, Barcroft Media, via Getty

Hrdys Forschung untermauern die vielen Facetten in denen Mutterschaft bei Menschen auftreten kann. In westlichen Gesellschaften wird die Frage, wer Mutter wird – und wer Mutter werden will – heute ganz anders beantwortet, als noch vor einigen Jahrzehnten. Mehr als je zuvor verschieben Frauen heutzutage die Entscheidung über den Zeitpunkt und die Anzahl der gewünschten Kinder nach hinten – oder leben glücklich kinderlos. Gleichgeschlechtliche Eltern werden mehr und mehr akzeptiert. Und zu Beginn des Jahres konnte zum ersten Mal eine Transgender-Frau ihr Baby stillen.

Jeder Mensch hat wohl seine eigene Vorstellung davon, was eine Mutter ausmacht, doch die Wissenschaft gibt Aufschluss darüber, warum verschiedene Mütter sich auf unterschiedliche Art verhalten.

Von Mäusen und kannibalischen Jungfrauen

Betrachtet man die Hirnchemie, so scheint einer der wichtigsten Motoren für mütterliches Verhalten das berühmte „Wohlfühlhormon“ Oxytocin zu sein. Dieses komplexe Neuropeptid spielt bei Säugetieren in verschiedenen Bereichen der Fortpflanzung eine Rolle. Dazu zählen die Partnerbindung, Gebärmutterkontraktionen und der Milcheinschuss.

„Ein Orgasmus, Augenkontakt, Umarmungen, zärtliche Berührungen, all diese Dinge setzen Oxytocin frei“, sagt Bianca J. Marlin, die im Anschluss an ihre Promotion im Institut für Neurowissenschaften an der Columbia University forscht.

Im Jahr 2015 war Marlin Co-Autorin einer Studie, die im Wissenschaftsmagazin Nature veröffentlicht wurde. Sie beschäftigte sich mit dem Effekt, den Oxytocin auf Mäuse hat. Wenn jungfräuliche Mäuseweibchen im Labor die Rufe von Jungtieren hörten, ignorierten sie sie oder fraßen die Jungen in manchen Fällen auf. Mäusemütter dagegen suchten die Quelle der Rufe, um das Jungtier zu finden und sich darum zu kümmern.

Dann injizierten die Forscher den jungfräulichen Mäusen Oxytocin.

„Nachdem wir den Weibchen, die zuvor die Jungen gefressen hatten, Oxytocin verabreicht hatten, hörten sie damit auf und lernten, sich ebenso um die Jungtiere zu kümmern, wie es die Mütter taten“, berichtet Marlin. „Wir veränderten ihr Verhalten, sodass sie die Jungtiere nicht mehr als Snack betrachteten, sondern tatsächlich für sie sorgten.“

Das Team untersuchte anschließend bei den Mäusen, die die Rufe der Jungen gehört hatten, den Teil des Hirns, der für die Verarbeitung akustischer Signale zuständig ist. Bei den jungfräulichen Mäusen ohne Hormoninjektion sendeten die entsprechenden Hirnzellen zwar, aber unspezifisch und nicht auf eine Reaktion ausgelegt.

„Nachdem wir das Oxytocin verabreicht hatten, beobachteten wir, dass die Neuronen die Signale veränderten“, sagt Marlin. „Wir veränderten also nicht nur das Verhalten, sondern auch die neuralen Signaturen der Jungtierrufe in den jungfräulichen Mäusen. Sie verhielten sich und reagierten wie Mütter.“

Als Marlins Team männlichen Mäusen Oxytocin injizierte, konnten die Wissenschaftler beobachten, dass die Männchen länger brauchten als die jungfräulichen Weibchen, um ihr Verhalten zu ändern. „Können Männchen sich um Jungtiere kümmern? Ja, aber die Zeitspanne war erheblich länger im Vergleich zu den jungfräulichen Weibchen. Die Weibchen erlernten das Finden und Kümmern innerhalb von 12 Stunden, die Männchen benötigten dafür drei bis fünf Tage.“

Bedeutet das also, dass Mutterschaft elementar mit dem weiblichen Gehirn verbunden ist? Nicht unbedingt, mein Daphna Joel, eine Neurowissenschaftlerin an der Universität von Tel-Aviv. In erster Linie sind Mäuse keine Menschen und man muss wissen, wie das menschliche Gehirn auf Hormonveränderungen reagiert.

Im Jahr 2015 veröffentlichten Joel und ihre Kollegen ein Paper in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences. In dieser Forschungsarbeit wurde untersucht, ob sich Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Gehirnen beim Menschen wissenschaftlich nachweisen lassen. Gegenstand waren beispielsweise die Teile des Gehirns, die für gewöhnlich mit Emotionen und Kommunikation in Verbindung gebracht werden. Diese Eigenschaften werden üblicherweise stereotyp mit Frauen assoziiert, also müssten diese Hirnregionen auch bei Frauen anders oder ausgeprägter sein

„Wir fanden heraus, dass dies nicht der Fall ist“, erläutert Joel. „Das menschliche Gehirn ist eher ein einzigartiges Mosaik von Eigenschaften. Einige Teile sind bei Frauen im Vergleich zu Männern häufiger vorkommend, und andere bei Männern im Vergleich zu Frauen.“ Die Studie zeigt auch auf, dass man einige Mosaike sogar in weiblichen und männlichen Gehirnen gleich oft vorfindet.

Eine Mutter hält ihr Baby im Arm.
Foto von Joël Sartore, National Geographic Creative

Zurück zu den Ursprüngen

Abgesehen von der reinen Biologie haben auch soziale Strukturen eine große Rolle in unserem modernen Verständnis von Mutterschaft gespielt. Um herauszufinden, wie die Umgebung das Fürsorgeverhalten menschlicher Eltern beeinflusst, beobachten Anthropologen oft Primaten,  evolutionär gesehen unsere nächsten Verwandten. Außerdem lassen heute lebende Stämme von Jägern und Sammlern einige Rückschlüsse zu.

Während der 1980er- und 1990er-Jahre verbrachten die Anthropologin Kristen Hawkes und ihre Forscherkollegen von der University of Utah einige Zeit mit den Hadza, einem Stamm von Jägern und Sammlern in Tansania.

„Wir konnten bei unseren Beobachtungen dokumentieren, welche wirtschaftlich enorm wichtige Rolle den älteren Frauen zufiel“, berichtet sie. „Wer hätte das gedacht?“

Die Ergebnisse ihres Teams stützen die sogenannte „Großmutter-Theorie“, die davon ausgeht, dass Großmütter in der Evolution des Menschen eine große Rolle gespielt haben. Anders als bei anderen Primaten sind Menschen auch lange Zeit nach dem Abstillen noch hilflos. Junge Kinder können sich nicht einfach selbst Essen beschaffen und wenn sich die Mutter um neue Kinder kümmert, übernehmen im Prinzip die Großmütter die Fürsorge.

Dieses Phänomen beschränkt sich aber nicht auf Großmütter. Schwestern und Töchter helfen in solchen Gemeinschaften ebenfalls bei der Kindererziehung. So tragen die Frauen essentiell zur Gemeinschaft bei.

„Diese Theorie beschäftigt sich nicht mit dem Aufpassen auf Kinder“, erklärt Hawkes. „Es geht hier vielmehr um wirtschaftliche Produktivität.“

Musiker Kurt Kipapa, Vater von zehn Kindern, hält seinen jüngsten Nachwuchs im Arm.
Foto von Jodi Cobb, National Geographic Creative

Moderne Familien

Heutzutage erlaubt es eben diese zusätzliche Fürsorge von Verwandten einigen arbeitenden Müttern, ihren Job wieder aufzunehmen. Zunehmend ist jedoch zu beobachten, dass Frauen in Industrieländern ihre Kinderplanung nach hinten verschieben oder sogar ganz auf Mutterschaft verzichten.

„Das Streben nach Erfolg ist in der menschlichen Biologie angelegt“, sagt Lisa McAllister, Anthropologin an der University of California, Santa Barbara. „Wir haben diesen Drang entwickelt, immer auf der Suche nach Erfolg zu sein. Die erfolgreichsten Individuen in einer Gesellschaft waren traditionell immer die, die mehr Nachwuchs hinterlassen haben und damit zahlreicher in der nächsten Generation vertreten waren.“

McAllister hat mehrere Jahre mit den Tsimané (Aussprache: Tschi-man-II) gelebt, einer Gemeinschaft von Jägern und Sammlern in Bolivien. Dort konnte sie beobachten, dass der Status der Frauen für gewöhnlich davon abhing, wie viele gesunde Kinder sie bekommen konnten.

Auffällig war, dass den Frauen der Tsimané, wie auch denen der Hadza in Tansania, wenige Optionen abgesehen von Heirat und Mutterschaft offen standen. Im Durchschnitt bekamen die Frauen mit 18 Jahren ihr erstes Baby und hatten schließlich bis zu neun Kinder. Im starken Kontrast dazu stehen die Zahlen der US-Gesundheitsbehörde Centers for Disease Control and Prevention. Deren Statistiken besagen, dass in den USA Frauen im Alter zwischen 30 und 34 die meisten Kinder bekommen und die Anzahl der Nachkommen pro Frau nicht so hoch ist.

„In unserer Gesellschaft messen wir den Wert einer Frau nicht mehr so stark an ihren Qualitäten als Mutter oder der Fähigkeit, Kinder zu bekomme. Wir messen sie eher an der Frage, welchen Beruf sie ausübt oder ob sie ein tolles Auto fährt“, sagt McAllister.

„Hier findet man viele Männer und Frauen, die einfach keine Kinder wollen. Es kommt schlicht in ihrer Lebensplanung nicht vor“, fügt sie hinzu. „Enorm viele Männer und Frauen verfallen nicht ins ‚Baby-Fieber‘ und bekommen auch keinen Nestbautrieb, wenn sie mit Kindern in Kontakt kommen. In unserer Gesellschaft hat sich eben die Werte, anhand derer wir Erfolg messen, verändert.“

Dennoch scheinen Menschen im Allgemeinen immer noch biologisch dazu veranlagt zu sein, eine Bindung zu Säuglingen aufzubauen, die in ihre Obhut gegeben werden – und das völlig unabhängig vom Geschlecht oder dem sozialen Status.

„Man muss sich ja nur Adoptionen anschauen“, sagt Hawkes. „Es gibt unendliche viele Arten, wie Menschen wirklich starke Bindungen zu Individuen aufbauen können, mit denen sie nicht nah verwandt sind. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Bindung zu einem Baby auf verschiedenste Weise entstehen kann.“

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