Wie träumen Blinde?

Es gibt viele Arten, die Welt zu erleben – und genauso viele Arten, davon zu träumen.

Von Virginia Hughes
Veröffentlicht am 15. Aug. 2018, 13:15 MESZ
„Traum unter einem Wüstenhimmel“
Foto von Von der sehgeschädigten Künstlerin Stella de Genova

Die meisten meiner Träume sind langweilig. Für gewöhnlich spreche ich an einem vertrauten Ort mit jemandem, den ich kenne, entweder am Telefon oder von Angesicht zu Angesicht. In den Unterhaltungen geht es oft um Dinge, von denen ich gelesen habe oder die ich in letzter Zeit erlebt habe. In manchen meiner Träume tauchen nicht einmal andere Personen auf. Darin bin ich dann einfach allein, sitze an meinem Computer, lese, twittere oder was auch immer. Wenn mir gelegentlich eine Deadline im Nacken sitzt, habe ich einen klassischen Angstraum. Aber selbst der ist dann relativ harmlos: Ich fliege zum Beispiel vom College, weil ich vergessen habe, meine Kurse zu besuchen.

Völlig unabhängig von ihrer psychologischen Bedeutung sind meine Träume aber fast immer von visuellen und auditiven Reizen geprägt. Nur selten habe ich einen Traum, der in mir ein körperliches Empfinden auslöst – beispielsweise, wenn ich in einem Fahrstuhl nach unten fahre und die Bewegung in meinem Magen spüre.

Diese Verteilung der Häufigkeit macht schon Sinn, da ich mich deutlich mehr auf meinen Seh- und Hörsinn verlasse als auf andere Sinne. Wie ist das aber bei Menschen, die ihren Sehsinn verlieren oder nie sehen konnten? Wovon träumen sie?

Genau diese Frage hat eine Gruppe dänischer Forscher 2014 ergründet und ihre Ergebnisse im Fachmagazin „Sleep Medicine“ veröffentlicht. Für die Studie arbeiteten sie mit 50 Erwachsenen: 11 davon waren von Geburt an blind, 14 erblindeten irgendwann nach ihrem ersten Lebensjahr und 25 nicht blinde Erwachsene dienten als Kontrollgruppe. Die Teilnehmer willigten ein, in den folgenden vier Wochen direkt nach dem Aufwachen einen Fragebogen am Computer auszufüllen, wann immer Sie einen Traum hatten. Die blinden Teilnehmer nutzten dafür eine Software, die Text in Sprache umwandelte.

In dem Fragebogen wurden diverse Aspekte des Traums abgefragt: sensorische Eindrücke (Haben Sie etwas gesehen? Falls ja, war es in Farbe? Haben Sie etwas geschmeckt oder gerochen? Haben Sie Schmerzen empfunden?), emotionale Inhalte (Waren Sie wütend, traurig oder hatten Angst?) und die Thematik (Haben Sie mit jemandem interagiert? Haben Sie bei etwas versagt? War der Traum eher realistisch oder bizarr?). Die Teilnehmer mussten auch angeben, ob es sich um einen Albtraum gehandelt hatte.

Alle nicht blinden Teilnehmer der Kontrollgruppe berichteten bei mindestens einem Traum von visuellen Eindrücken. Im Gegensatz dazu fehlten solche Eindrücke völlig bei jenen Teilnehmern, die seit ihrer Geburt blind waren. Für die Gruppe der später Erblindeten galt: Je länger sie ohne ihren Sehsinn lebten, desto weniger sahen sie in ihren Träumen.

Es gibt viele Arten, die Welt zu erleben – und genauso viele Arten, davon zu träumen. Blinde träumen genau wie sie leben: mit einer vielfältigen Mischung aus sensorischen Eindrücken.

Etwa 18 Prozent aller blinden Teilnehmer hatten in mindestens einem Traum ein Geschmackserlebnis, während es bei der Kontrollgruppe nur 7 Prozent waren. Fast 30 Prozent der Blinden erlebten in mindestens einem Traum einen Geruch. Bei der Kontrollgruppe waren es nur 15 Prozent. Ähnlich sah es beim Erleben von Berührung (70 Prozent der Blinden und 45 Prozent der Kontrollgruppe) und von Geräuschen aus (86 Prozent der Blinden und 64 Prozent der Kontrollgruppe).

Etwas deutlicher ist der Unterschied, wenn man sich nur die Zahlen der Personen mit angeborener Blindheit ansieht. Von diesen Teilnehmern erlebten 26 Prozent einen Geschmack, 40 Prozent einen Geruch, 67 Prozent eine Berührung und 93 Prozent Töne.

Trotz dieser sensorischen Unterschiede waren die emotionalen und thematischen Fokusse der Träume bei den Blinden und Sehenden etwa gleich. Bei beiden Gruppen gab es etwa die gleiche Anzahl von sozialen Interaktionen, Erfolgen und Misserfolgen in ihren Träumen. Auch die Emotionen und das Maß an Skurrilität schienen etwa gleich verteilt.

Einen bedeutenden Unterschied gab es jedoch zwischen den Träumen der von Geburt an Blinden und der Kontrollgruppe. Die Blinden hatten mit 25 Prozent deutlich mehr Albträume als die später Erblindeten mit 7 Prozent und die Kontrollgruppe mit 6 Prozent. Dieser Unterschied blieb auch dann noch bestehen, als die Forscher die Qualität des Schlafs mit einbezogen, die bei Blinden im Allgemeinen schlechter ist.

Was also konnte dieses Übermaß an Albträumen erklären? Genau wissen es die Forscher zwar nicht, aber sie vermuten, dass ein Zusammenhang mit Theorien über die evolutionäre Funktion von Albträumen besteht. „Laut diesen Theorien kann man Albträume als eine Art Gefahrensimulation betrachten. Sie sind mental gesehen eine harmlose Möglichkeit, mit der der menschliche Geist sich auf die Gefahren des Lebens einstellen kann“, schrieben die Forscher. „Ein Albtraum bietet einem Individuum eine Gelegenheit, sowohl die Wahrnehmung als auch die Vermeidung einer Gefahr zu erproben.“

Das scheint zumindest zu dem zu passen, was die von Geburt an blinden Teilnehmer der Studie berichteten. In ihren Albträumen ging es um Ereignisse, die in ihrem Leben echte Bedrohungen darstellen: Sie verliefen sich, wurden von einem Auto angefahren, fielen in Gruben oder verloren ihren Blindenführhund.

„Träume können mehrere Bedeutungsebenen haben“, schrieben die Forscher, „die nicht nur von tatsächlichen äußeren Bedingungen bestimmt werden, sondern oft auch auf komplexe Weise mit dem Innenleben und vergangenen Erfahrungen zusammenhängen.“

Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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