Gersts erste 100 Tage auf der ISS: Experimente im All

Wie reagieren Muskeln auf Schwerelosigkeit? Was macht idealen Weltraum-Baustoff aus? Wie arbeiten Mensch und Roboter Hand in Hand? Packende Experimente bestimmen den Alltag von Alexander Gerst auf der Internationalen Raumstation.

Von Jens Voss
Veröffentlicht am 12. Sept. 2018, 13:44 MESZ
Tiefdruckgebiet über dem Atlantik – beobachtet von der Internationalen Raumstation ISS.
Tiefdruckgebiet über dem Atlantik – beobachtet von der Internationalen Raumstation ISS.
Foto von ESA/NASA-A.Gerst

Es klingt wie ein Weltraum-Märchen. „Man kann sich unsere Raumstation vorstellen wie ein Mobile, das man über ein Kinderbett hängt, mit vielen bunten Figuren dran.“ Doch in seinem Horizons-Blog macht Alexander Gerst sofort unmissverständlich klar: „Wenn man einen Teil davon wegschneidet, wirkt sich das auch auf den Rest aus: Es läuft Gefahr, aus dem Gleichgewicht zu geraten. Die Kunst ist nun, das System so zu bauen, dass sich Fehlerverkettungen nicht so weit ausbreiten, dass also ein möglichst großer Teil noch stabil bleibt.“ Seit 100 Tagen ist der 42-jährige Esa-Astronaut nun wieder an Bord der Internationalen Raumstation ISS – zum zweiten Mal nach seiner Premiere 2014. Bis Mitte Dezember wird er im Weltraum leben und an 67 europäischen Experimenten arbeiten, davon 41 aus Deutschland. Rund 400 Kilometer über der Erde.

Stromausfall im All

Erst vor wenigen Wochen führte ein Stromausfall dem sechsköpfigen Astronauten-Team der ISS vor Augen, wie risikobehaftet die Horizons-Mission tatsächlich ist. „Der Bordalarm hat uns doch ziemlich unsanft aus unseren Schlafkabinen gehauen“, erinnert sich Astro Alex im Blog. „Da realisiert man: Die ISS ist ein hochkomplexes System, das alleine im lebensfeindlichen Kosmos treibt. Schon ein Stromausfall könnte hier schnell schwere Folgen haben, wenn es nicht so viele Redundanzen zur Sicherheit gäbe.“ Zum Glück seien keine lebenswichtigen Systeme betroffen gewesen.

„Dafür, dass wir in solchen kritischen Situationen ruhig bleiben und nicht die Übersicht verlieren, haben wir lange trainiert“, so Gerst weiter. Auch mental müsse man sich auf die extreme Umgebung einstellen – ähnlich wie auf einen Fallschirmsprung oder auf einen tiefen Tauchgang unter Wasser. „Unser Körper hält das alles ganz locker aus. Das Entscheidende läuft im Kopf ab.“ Genau dieses Zusammenspiel von Mensch und Maschine im All stand auch im Fokus einiger der Experimente, die Gerst in den vergangenen drei Monaten durchgeführt hat.

Fingerfertigkeit in der Schwerelosigkeit

BELIEBT

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    Im Rahmen des mehrteiligen Grip-Experiments etwa wird erforscht, wie das Gehirn bei Greifbewegungen auf die schwerelose Umgebung der Raumstation reagiert. In der Mikrogravitation besitzen Objekte kein Gewicht. Wie also erkennen wir im All, wieviel Kraft wir benötigen, um einen Gegenstand zu bewegen? Das Grundprinzip des Experiments: Während Gerst eine Reihe von Greifbewegungen durchführt, misst ein Sensor die Greifkraft, Feuchtigkeit, Beschleunigung sowie weitere Parameter. So wird ermittelt, wie sich der Mensch an eine Umgebung anpasst, in der es strenggenommen kein Oben oder Unten gibt. Die Ergebnisse sollen mit Daten vor und nach dem Weltraumflug verglichen werden. Nach Angaben der Esa können Experimente wie dieses dabei helfen, die menschliche Physiologie sowie Krankheiten besser zu verstehen und moderne Prothesen zu konstruieren.

    Im Rahmen des Grip-Experiments wird untersucht, wie das Gehirn bei Greifbewegungen auf die schwerelose Umgebung reagiert.
    Foto von Esa, NASA

    Menschliche Muskelkraft und ihre Koordination untersucht auch das Mytones-Experiment. Hierbei dreht es sich um den Spannungszustand eines Muskels – den so genannten Tonus. Der Hintergrund: Astronauten verlieren bei Langzeitaufenthalten in der Schwerelosigkeit Muskel- und Knochenmasse. Um dem vorzubeugen, trainiert Gerst mindestens eineinhalb Stunden täglich an Bord der ISS. MyotonPro, ein tragbares Gerät so groß wie ein Smartphone, unterstützt ihn hierbei. Mit Hilfe eines kurzen Druckimpulses an den Körper liefert es Informationen über Elastizität, Steifheit und Eigenspannung der Muskeln. Die Messungen an Rücken, Armen, Beinen und Füßen werden mit Daten vor und nach dem Raumflug verglichen. Die Erkenntnisse sollen letztlich auch Schmerzpatienten auf der Erde zugutekommen.

    Besuch von der Erde

    Ein ganz besonderes Ereignis stand im Juli an: Der Raumtransporter SpaceX Dragon CRS-15 brachte Proviant und viele weitere Experimente zur ISS. Gerst und seine Kollegen fingen die Kaspel mithilfe eines Roboterarmes ein, „was immer ein heikles Manöver ist und die volle Konzentration verlangt“, wie Gerst betont. Mit der Forschung habe man zuletzt mehr als 104 Wochenstunden verbracht. „Im Columbus-Modul durfte ich unter anderem das MagVector-Experiment nach einem Umbau in Betrieb nehmen, in dem wir die Ablenkungen von kosmischer Strahlung durch Magnetfelder untersuchen.“

    Im Fluid Science Lab installierte er außerdem eine neue Kamera, mit der die Dynamik von Schäumen und Granulaten in der Schwerelosigkeit erforscht werden soll. „Im US-Labor wiederum züchten wir Algen und Acker-Schmalwand-Pflanzen, forschen an Krebszellen und haben Weltraum-Beton angemischt“, erklärt der promovierte Geophysiker. Der Clou: Da es in der Schwerelosigkeit keine störenden Konvektionsflüsse im Material gebe, könne man überaus reinen Zement und Beton erstellen. „Das hilft uns zum einen, die Eigenschaften dieser sehr wichtigen Baustoffe besser einzuschätzen und deren Produktion auf der Erde zu verbessern“, unterstreicht Gerst. „Zum anderen sammeln wir so Erfahrungen, die für uns beim Bau einer Mondstation einmal sehr nützlich sein könnten.“

    Im Fluid Science Lab hat Alexander Gerst eine Kamera installiert, mit der die Dynamik von Schäumen und Granulaten in der Schwerelosigkeit erforscht werden soll.
    Foto von Esa, NASA

    Ein weiteres Experiment befasst sich mit den Ökosystemen der Erdoberfläche. Am 27. August wurde das Kamerasystem Desis mit einem Roboterarm aus der Luftschleuse der ISS genommen und an der Außenseite der Raumstation installiert. Desis liefert Hyperspektraldaten aus dem All für das Umwelt-Monitoring auf der Erde. So lässt sich etwa der Wachstumszustand von Ackerpflanzen aus 400 Kilometern erkennen. Außerdem soll das Instrument des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) Informationen über die Waldgesundheit liefern, die mineralogische Zusammensetzung verschiedener Regionen aufschlüsseln oder die Inhaltsstoffe sowie Qualität von Gewässern erfassen.

    Alexander Gerst packt das Hyperspektralinstrument Desis aus, um es für die Installation an der Außenseite der ISS vorzubereiten.
    Foto von NASA

    Roboter als Arbeitskollegen

    Dass Mensch und Maschine im Weltraum immer Hand in Hand arbeiten, stellte das Telerobotik-Experiment Meteron Supvis-Justin unter Beweis. Hierfür steuerte Gerst den humanoiden Roboter Rollin' Justin am DLR-Institut für Robotik und Mechatronik im bayerischen Oberpfaffenhofen per Tablet-PC vom All aus. Nach Vorstellung des DLR sollen intelligente Roboter künftig eine wichtige Rolle in der Raumfahrt spielen, indem sie unter anderem eine große Bandbreite an Erkundungs-, Aufbau- und Wartungsarbeiten übernehmen. So werde der Roboter zum Arbeitskollegen des Astronauten.

    Mensch und Maschine: Alexander Gerst steuert einen humanoiden Roboter am DLR-Institut für Robotik und Mechatronik im bayerischen Oberpfaffenhofen per Tablet-PC vom All aus.
    Foto von Dlr,cc-by 3.0

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