Forscher entdecken neues seismisches Phänomen: Sturmbeben

Die ungewöhnlichen Erschütterungen entstehen infolge gewaltiger Stürme und breiten sich über Tausende Kilometer weit aus.

Von Maya Wei-Haas
Veröffentlicht am 30. Okt. 2019, 12:31 MEZ
Sturmbeben
Um Sturmbeben zu erzeugen, müssen Stürme über ein Gebiet hinwegziehen, das ganz spezielle geologische Voraussetzungen erfüllt. Hurrikan Bill, der auf dieser Satellitenaufnahme von 2009 zu sehen ist, löste solche Beben beispielsweise aus, als er über die George Bank vor der Küste New Englands fegte.
Foto von NOAA via Getty Images

Jenseits des Brummens vorbeifahrender Autos, der zwitschernden Vögel und der raschelnden Blätter summt unsere Erde unablässig. Diese geologische Symphonie verdanken wir den rauschenden Wellen des Meeres, das fast drei Viertel unseres Planeten bedeckt. Lange Zeit war es allerdings äußerst schwierig, die individuellen Strophen und Refrains dieses flüssigen Orchesters auszumachen.

Nun ist Forschern genau das gelungen: Sie entdeckten ein zuvor unbekanntes seismisches Phänomen, das sie „Stormquakes“ getauft haben – Sturmbeben. Diese Ereignisse, die sie im Fachmagazin „Geophysical Research Letters“ beschrieben, sind seismische Wellen, die durch die gewaltigen Kräfte riesiger Stürme entstehen und sich über Tausende Kilometer weit über Kontinente hinweg ausbreiten können.

Die zerstörerische Kraft von Erdbeben

„Es hat mich überrascht, was sie da gesehen haben“, sagt Göran Ekström, ein Seismologe der Columbia University, der auf ungewöhnliche Erdbeben spezialisiert ist. Bisher war man davon ausgegangen, dass große Stürme eine längere, unregelmäßige Abfolge von Erschütterungen erzeugen, die sich von der Küste her ausbreiten. Im Rahmen ihrer neuen Studie identifizierten Forscher für jedes Sturmbeben hingegen eine separate Häufung kleinerer Beben, welche sie bis zu ihrem Ursprung vor der Küste zurückverfolgen konnten.

Der Befund schlägt eine Brücke zwischen mehreren aktuellen Studien, bei denen neue Methoden zur Anwendung kamen, um die Geräuschkulisse zu entschlüsseln, die das wachsende Seismometernetzwerk weltweit aufzeichnet. Diese Signale können den Wissenschaftlern dabei helfen, diverse Aspekte unseres Planeten besser zu verstehen – von seinem inneren Aufbau über die Dynamik der Meere und des Meereises bis zur Beobachtung des Klimawandels.

Viele dieser Informationen wurden zuvor als Störsignale in den Erdbebenmessungen abgetan. Mittlerweile haben die Forscher erkannt, dass sich aus diesen „Störsignalen“ nützliche Informationen über Vorgänge in der Umwelt ableiten lassen, erzählt der Studienleiter Wenyuan Fan, ein Seismologe der Florida State University.

„Wir wussten nur nicht, wo und nach was wir suchen mussten“, so Fan.

Die seismische Suche

Ähnlich wie auch viele andere wissenschaftliche Fortschritte ist die Entdeckung der Sturmbeben ein Produkt des Zufalls. Im Sommer 2018 entwickelten Fan und seine Kollegen eine Methode, um sogenannte niederfrequente Erdbeben zu untersuchen. Dabei handelt es sich nicht um die heftigen Erschütterungen, die wir für gewöhnlich mit Erdbeben assoziieren. Stattdessen lassen sie die Oberfläche in niederfrequenten Beben erzittern, die Menschen ohne Hilfsmittel gar nicht wahrnehmen könnten. Geologen können diese Ereignisse anhand der seismischen Wellen identifizieren, die sie generieren und die von Seismometern aufgezeichnet werden.

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BELIEBT

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    „Seismometer sind im Grunde wie kleine Ohren, die an den Boden gedrückt werden“, erklärt Wendy Bohon, eine Erdbebengeologin des Incorporated Research Institutions for Seismology, die selbst kein Teil des Studienteams war. Die Geräte können alle möglichen Vibrationen wahrnehmen, von überschwänglichen Sportfans, die im Stadion auf und ab springen, über vorbeifliegende Flugzeuge bis hin zu weit entfernten Erdbeben.

    Extrem niederfrequente Erdbeben lassen sich über große Entfernungen allerdings nur schwer messen, da die sachten Erschütterungen ihr Erscheinungsbild von einem Seismometer zum nächsten ändern können, erklärt Fan. Er und sein Team entwickelten deshalb eine Methode, um ihnen nachzuspüren und die Signale aus kleineren Regionen wie ein seismisches Puzzle zusammenzusetzen. Dabei entdeckten sie allerdings auch eine Reihe an ungewöhnlichen Ereignissen, die den Beben, hinter denen Fan her war, zwar ähnelten, aber nicht mit ihnen identisch waren.

    “Diese Studie bildet das Fundament, auf dem wir neue Informationen darüber anordnen können, wie unsere Welt funktioniert.”

    von WENDY BOHON
    INCORPORATED RESEARCH INSTITUTIONS FOR SEISMOLOGY

    Überraschend war vor allem, dass diese Ausreißer saisonal waren und nie zwischen Mai und August auftraten. Erdbeben, die durch sich entladende Spannungen in der Erdkruste entstehen, lassen sich für gewöhnlich aber nicht vom Wechsel der Jahreszeiten beeinflussen. Darüber hinaus traten die Beben sowohl im Osten als auch im Westen Nordamerikas auf. Im Westen kommt es zwar regelmäßig zu Erdbeben, da an der Küste die Pazifische Platte an der Nordamerikanischen Platte vorbeidriftet. Der Ostküste hingegen mangelt es fast völlig an solchen Reibungszonen.

    Verblüfft versuchten Fan und sein Team mithilfe von Modellen herauszufinden, woher diese Beben stammten – und entdeckten schließlich einen verräterischen Zusammenhang: Viele der Erschütterungen fielen zeitlich mit gewaltigen Stürmen oder gar Hurrikans zusammen. Als das Team Daten auswertete, die größtenteils vom EarthScope’s USArray stammen – einem Netzwerk aus hunderten Seismometern, die über das ganze Land verteilt sind –, fanden sie 14.077 solcher Sturmbeben, die zwischen 2006 und 2015 aufgetreten waren.  

    Wie entstehen Sturmbeben?

    Allerdings kann nicht jeder große Sturm ein Sturmbeben auslösen. Während Hurrikan Sandy traten die ungewöhnlichen Signale beispielsweise nicht auf, obwohl der Sturm stellenweise Windgeschwindigkeiten von mehr als 144 km/h entwickelte. Aber Wind allein reicht nicht aus: Es sind bestimmte geologische Voraussetzungen notwendig, um ein Sturmbeben zu erzeugen.

    Die aufgezeichneten Beben dieser Art stammten allesamt aus Regionen mit einem breiten Kontinentalschelf – also jenem Randbereich eines Kontinents, der bereits unterhalb des Meeres liegt und vor der Küste einen vergleichsweise flachen Meeresbereich bildet. Dort können sich die Wellen von Sturmbeben vermutlich auftürmen, erklärt Fan. Die meisten vom Wind erzeugten Meereswellen generieren Signale, deren Frequenz höher ist als die 20- bis 50-Sekunden-Zyklen eines Sturmbebens. Ein breiter Schelf ermöglicht es den Wellen, miteinander zu interagieren, sodass eventuell eine längere, niederfrequentere Welle entsteht.

    Sturmbeben scheinen zudem nur rund um Bänken zu entstehen. An diesen seichten Meeresgebieten kann sich die Energie konzentrieren, sodass der Druck der Wellen in den Boden geleitet wird und gleichförmige Erschütterungen erzeugt – ähnlich einem großen Hammer, der immer wieder auf dem Meer aufschlägt, sagt Fan.

    Allerdings sei noch mehr Arbeit nötig, um den Mechanismus hinter diesen Erschütterungen genau zu erklären, sagt Ekström, der zu den Experten gehörte, die die neue Studie überprüften.

    Jenseits der Seismologie

    Fan und seine Kollegen hoffen, dem Mysterium des Sturmbebenmechanismus auch weiterhin auf den Grund gehen zu können. Vor allem Bohon ist gespannt darauf zu sehen, was Wissenschaftler aus anderen Bereichen zu dem Thema beitragen können, nun da die Studie veröffentlicht ist.

    „Diese Studie bildet das Fundament, auf dem wir neue Informationen darüber anordnen können, wie unsere Welt funktioniert“, sagt sie.

    Fan und seine Kollegen hoffen darauf, dass Sturmbeben bei künftigen Forschungsprojekten helfen könnten, die Meeresdynamik oder sogar den Aufbau unseres Planeten besser zu verstehen. Schon heute können Forscher heftigere Beben nutzen, um den Planeten gewissermaßen zu röntgen – sie verfolgen die seismischen Wellen, um das Erdinnere zu visualisieren.

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    Niederfrequente Erdbebenwellen wie jene, die bei Sturmbeben entstehen, werden zwar kein besonders genaues Signal aus dem Planeteninneren senden, sagt der Geophysiker Jonathan Berger vom Scripps Institution of Oceanography. Aber dennoch könnten solche Ereignisse ein paar Lücken in den aktuellen Aufzeichnungen füllen – zum Beispiel für Gebiete wie New England, in denen es nur selten Erdbeben gibt.

    Außerdem könnte es noch andere Anwendungsmöglichkeiten geben, die bislang noch niemand kennt: „Wissenschaftler sind von Natur aus kreative Menschen“, sagt Bohon. „Wer weiß, für was irgendwelche inspirierten jungen Studenten [diese Daten] noch nutzen könnten?“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

     

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