Die Mumienmacher-Industrie des Alten Ägypten

Das Nachleben war für die alten Ägypter ein teurer Spaß: Eine ganze Klasse von Priestern verdiente nicht schlecht an der Mumifizierung und Seelenpflege der Verstorbenen.

Von Andrew Curry
Veröffentlicht am 20. Mai 2020, 15:52 MESZ

In einem Grab tief unter dem Wüstensand untersuchen der Ägyptologe Ramadan Hussein (links) und die Mumienspezialistin Salima Ikram (rechts) den siebeneinhalb Tonnen schweren Kalksteinsarkophag einer Frau.

Foto von Lina Zilinskaite, National Geographic

Die Entdeckung machte weltweit Schlagzeilen, als der Fund im Juli 2018 bekannt gemacht wurde: Archäologen hatten ein altägyptisches „Bestattungsinstitut“ tief unter dem Sand von Sakkara entdeckt. Die weitläufige Nekropole befindet sich an den Ufern des Nils, etwa 20 Kilometer südlich von Kairo.

In den zwei Jahren, die seither vergangen sind, haben detaillierte Analysen sowie neue Grabfunde einen wahren Schatz an Informationen über das Geschäft mit dem Tod im alten Ägypten aufgetan. Jahrhundertelang hatten sich die Archäologen im Land der Pharaonen hauptsächlich auf Inschriften und Artefakte aus Königsgräbern konzentriert. Das tagtägliche Leben der alten Ägypter war weniger von Interesse. Mumifizierungswerkstätten gab es vermutlich in zahlreichen Nekropolen Ägyptens. Viele wurden allerdings von ganzen Generationen von Archäologen übersehen, die es eher auf die Gräber darunter abgesehen hatten.

Mit den neuen Entdeckungen aus Sakkara ändert sich das: Immer mehr Funde zeichnen zum ersten Mal ein detailliertes Bild einer bedeutenden altägyptischen Begräbnisindustrie.

Ein Priester namens Ayput wurde in einem steinernen Sarkophag beigesetzt. Die Bandagen der Mumie wurden mit Teer oder Harz überzogen und erhielten dadurch eine dunkle Färbung.

Foto von Piers Leigh, National Geographic

„Die Funde sprechen dafür, dass die Einbalsamierer einen sehr guten Geschäftssinn hatten“, sagt Ramadan Hussein, ein Ägyptologe an der Universität Tübingen. „Sie waren sehr geschickt im Anbieten von Alternativen.“

Nicht genug Geld für eine luxuriöse Totenmaske aus Gold und Silber? Dann bekam man womöglich die Version aus „weißem Gips und Blattgold“ angeboten, so Hussein.

Waren vielleicht auch die Kanopen aus ägyptischem Alabaster zu teuer? Alternativ konnte man seine Organe fürs Nachleben auch in einem hübschen Set aus bemaltem Ton lagern.

BELIEBT

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    Der hölzerne Sarg einer Frau namens Tadihor wurde mit bemaltem Gips verziert. Die Hieroglyphen auf dem Gips stammen von einem Spruch aus dem Buch der Toten und sollen der Verstorbenen dabei helfen, an den Dämonen vorbeizukommen, die die Unterwelt bewachen.

    Foto von Piers Leigh, National Geographic

    „Wir haben in den alten Texten davon gelesen“, sagt Hussein, „aber jetzt können wir das Geschäft mit dem Tod tatsächlich im Kontext betrachten.“

    Eine unerwartete Entdeckung

    Hussein begann 2016 mit seiner Arbeit in Sakkara. Dort suchte er nach Gräbern aus dem Zeitraum um 600 v. Chr., die tief unter dem Sand versteckt lagen. Die Schächte, die zu ihnen führten, waren von früheren Ägyptologen größtenteils ignoriert worden. Sie hatten sich eher auf noch ältere Begräbnisse aus der ägyptischen Geschichte konzentriert. Die Arbeit von Husseins Team wird in einer neuen vierteiligen National Geographic-Serie vorgestellt: „Königreich der Mumien“ läuft ab dem 28. Juni sonntags um 21:50 Uhr. Als Hussein einen Bereich untersuchte, der zuletzt im späten 19. Jahrhundert Beachtung fand, entdeckte er mit seinem Team einen Schacht voller Sand und Trümmer, der in den Fels getrieben worden war.

    Arbeiter lassen Werkzeuge und andere Ausrüstung mit einer handbetriebenen Winde zu der Mumienwerkstatt und den Gräbern in 30 Metern Tiefe hinab. Der Grabkomplex befand sich in bester Lage – in Sichtweite zur Djoser-Pyramide, die zu Ägyptens ältesten und heiligsten Monumenten zählt.

    Foto von Piers Leigh, National Geographic

    Mühevoll wurden 42 Tonnen dieser Füllmasse entfernt. Am Ende erreichten die Archäologen den Boden des Schachts und fanden dort eine geräumige Kammer mit einer hohen Decke. Auch sie war voller Sand und Geröll, das entfernt werden musste. In den Trümmern fanden sich außerdem tausende Tonscherben, von denen jede einzelne sorgfältig dokumentiert und konserviert werden musste. Diese mühevolle Arbeit nahm mehrere Monate in Anspruch.

    Als endlich auch diese letzte Kammer leer war, war das Team überrascht, darin kein Grab zu finden. Es gab einen erhöhten, tischähnlichen Bereich und schmale Rinnen, die am Fuß einer der Wände in den Boden gehauen worden waren. In einer Ecke stand eine große Schale mit Holzkohle, Asche und dunklem Sand. Ein älterer Tunnel – Teil eines Gangnetzwerks, das sich unter Sakkara erstreckt – ließ kühle Luft in der Kammer zirkulieren.

    Um zur Mumifizierungswerkstätte und den Grabkammern zu gelangen, mussten die Archäologen 42 Tonnen Sand und Trümmer aus einem 30 Meter tiefen, vertikalen Schacht entfernen.

    Foto von Will Churchill, National Geographic

    Diese Hinweise ließen Hussein zu dem Schluss kommen, dass es sich um eine Mumifizierungswerkstatt handelte – inklusive einem riesigen Weihrauchbrenner, Ablaufrinnen für Blut und einem natürlichen Ventilationssystem.

    „Wenn man da unten Tote ausweidet, braucht man Bewegung in der Luft, um die Insekten loszuwerden“, sagt Hussein. „Wenn man mit Kadavern hantiert, ist man auf eine konstante Luftbewegung angewiesen.“

    Im Laufe des letzten Jahres konnten Experten für Töpferware die Keramikscherben zusammensetzen: Sie rekonstruierten hunderte kleiner Schüsseln und Gefäße, die allesamt beschriftet waren.

    „Jede einzelne Tasse oder Schüssel trug den Namen der Substanz, die darin aufbewahrt wurde, und den Tag des Einbalsamierungsprozesses, an dem sie verwendet wurde“, sagt Hussein. „Die Gebrauchsanleitungen stehen direkt auf den Gegenständen.“

    Heilige Riten, blutige Realität

    Die Entdeckung war ein echter Segen für Forscher, die sich mit den Begräbnispraktiken des Alten Ägypten beschäftigen. Die Werkstatt bot einen einzigartigen Einblick in die heiligen Riten – und die ungeschönte Realität – der Mumifizierung.

    Ramadan Hussein blickt auf der Suche nach Mumien in einen steinernen Sarkophag. Das Team entdeckte mehr als 50 Tote in den Grabkammern.

    Foto von Piers Leigh, National Geographic

    Natürlich gibt es viele Beschreibungen des komplexen Prozesses in antiken Quellen und sogar künstlerische Darstellungen an den Wänden ägyptischer Gräber. Archäologische Belege waren bis dato aber eher Mangelware.

    „Bislang wurden nur sehr wenige Werkstätten vernünftig ausgegraben, die sich diesem Prozess widmeten“, sagt Dietrich Raue, der Kurator des Ägyptischen Museums der Universität Leipzig. „Das führte zu einer großen Wissenslücke.“

    Die Entdeckungen von Sakkara helfen dabei, diese Lücke zu füllen, sagt Hussein. „Zum ersten Mal können wir über die Archäologie der Einbalsamierung sprechen.“

    Galerie: Die Tiermumien-Industrie des Alten Ägypten

    Die alten Ägypter glaubten, dass der Körper unversehrt bleiben musste, damit die Seele im Nachleben darin wohnen kann. Die Mumifizierung war daher sowohl heiliger Ritus als auch medizinische Prozedur. Der gesamte Prozess war ein sorgfältig koordiniertes Ritual: Es gab spezifische Riten und Gebete für jeden der 70 Tage, die der Prozess der Mumifizierung in Anspruch nahm.

    Zunächst wurden die inneren Organe entnommen und in Kanopengefäße gelegt. Danach wurde der Leichnam mit einer Mischung aus speziellen Salzen wie Natron ausgetrocknet. Im Anschluss wurde der Verstorbene mit duftenden Ölen gesalbt und in Leinenbandagen gewickelt. Zwischen die Schichten und Falten des Stoffes wurden Amulette und Zaubersprüche gelegt. Am Ende wurde die Mumie in einem Grab beigesetzt, das mit den Gaben und Vorräten für das Nachleben bestückt war, die sich das Individuum oder seine Familie leisten konnten.

    In der beengenden Grabkammer gibt es nur wenig Platz. Die Arbeiter heben den fünf Tonnen schweren Sarkophag mit platzsparenden Werkzeugen und ein paar mechanischen Tricks an.

    Foto von Barney Rowe, National Geographic

    Die gewaltigen Pyramiden der Pharaonen und die schiere Menge an Gold im Grab des Königs Tutanchamun bezeugen, dass die alten Ägypter keine Kosten gescheut haben, um sich ein stilvolles Nachleben zu sichern. „Das war eine riesige Industrie“, sagt Hussein.

    Mit der Einbalsamierung und dem Begräbnis endete die Reise einer Mumie aber nicht – ebenso wenig wie der Einkommensstrom. Die altägyptischen Einbalsamierer dienten nicht nur als Priester und Bestatter, sondern auch als Immobilienverkäufer.

    Mehr als 2.500 Jahre Hitze und Feuchtigkeit haben dieser stark verwesten Mumie zugesetzt. Dutzende Perlen und andere Indizien deuten jedoch auf den hohen Status der Person hin.

    Foto von Piers Leigh, National Geographic

    Fortlaufende Pflege – und Profite

    Die Pharaonen und die ägyptische Elite wurden im kunstvoll verzierten Särgen und geräumigen Grabkammern voller Grabbeigaben beigesetzt. Husseins Forschungen zeigen, dass die Bestatter allerdings auch preiswertere Pakete für jedes Budget angeboten haben. Im modernem Wirtschaftsjargon würde man sagen, dass ihre Unternehmen vertikal integriert waren: Sie boten sämtliche Dienstleistungen an, von der Ausweidung und den Begräbnissen bis zur Pflege und anhaltenden Versorgung der Seelen der Verstorbenen – natürlich alles gegen eine Gebühr.

    Nur wenige Schritte von der Mumifizierungswerkstatt in Sakkara entfernt entdeckten die Archäologen einen zweiten Schacht, der zu einem Komplex aus sechs Grabkammern führte. Darin fanden sie mehr als 50 Mumien.

    Die Archäologen Maysa Rabeeh (links) und Mohammed Refaat (rechts) begutachten den verwitterten Holzsarg eines Priesters namens Ayawet. Er wurde mit überkreuzten Armen bestattet – eine heilige Position, die für gewöhnlich Pharaonen vorbehalten war.

    Foto von Piers Leigh, National Geographic

    Am Boden des Schachtes – fast 30 Meter unter der Oberfläche, wo die Begräbnisplätze aufgrund ihrer Nähe zur Unterwelt teurer waren – fanden sie besonders teure und aufwändige Gräber. Unter anderem lag dort eine Frau in einem 7,5 Tonnen schweren Kalksteinsarkophag. Nicht weit von ihr entfernt lag in einer anderen Kammer eine weitere Frau, deren Gesicht von einer Maske aus Silber und Gold bedeckt war. Es war die erste Maske dieser Art, die seit mehr als einem halben Jahrhundert in Ägypten gefunden wurde.

    In dem Komplex wurden aber auch Ägypter bestattet, die weniger wohlhabend waren. Ihre Leichname lagen in einfachen Holzsärgen oder wurden einfach nur in Leinen gewickelt und in Sandgruben gelegt.

    Mit dreidimensionalen Kartierungswerkzeugen konnte Hussein auf die Vereinbarungen zu den Begräbnissen schließen. Seine Erkenntnisse passen zu Papyrusdokumenten, die vor mehr als einem Jahrhundert in Sakkara entdeckt wurden. Sie zeigen, dass die geschäftstüchtigen Einbalsamierer Dutzende Leichname im Schacht unterbrachten und sich dann gegen Gebühren oder Landschenkungen um die spirituelle Pflege der Mumien kümmerten.

    Dieses digitale Modell wurde von einem 3D-Scanner erstellt und zeigt den Hauptschacht, der zu einem Komplex aus Grabkammern führt. Die teuersten Gräber befanden sich an den tiefsten Stellen und damit am nächsten an der Unterwelt.

    Image by Shadow Industries, National Geographic

    In der Gesellschaft des Alten Ägypten gab es eine ganze Priesterklasse, die sich der Pflege der Seelen der Verstorbenen widmete. Zu ihren Aufgaben gehörte es, die Gräber zu pflegen und für deren verstorbene Insassen zu beten. Einige von ihnen waren für Dutzende von Gräbern verantwortlich, und in jedem davon könnten hunderte Mumien liegen.

    „Die Menschen mussten den [Seelen ihrer] Toten jede Woche Opfergaben bringen, um sie am Leben zu halten“, sagt Koen Donker van Heel, ein Ägyptologe der Universität Leiden. Er hat jahrelang die Verträge studiert, die die Familien der Toten mit den Priestern schlossen. „Tote bringen Geld. So einfach ist das.“

    Die Paläoradiologin Sahar Saleen (zwischen den zwei männlichen Technikern) nutzt ein mobiles Röntgengerät, um hinter die Bandagen des modifizierten Priesters Ayput zu blicken. Der Name ist männlich, aber die Größe und Form des Beckens so wie die Schädelrundungen deuten darauf hin, dass es sich bei diesem Priester womöglich um eine Priesterin gehandelt hat.

    Foto von Barney Rowe, National Geographic

    In der Zukunft könnten weitere solche Entdeckungen auf Archäologen warten, die genug Geduld mitbringen, um danach zu suchen. Bei seiner Analyse alter Grabungsberichte fiel Hussein auf, dass der Schacht, der zur Mumifizierungswerkstatt führt, nur einen Meter von jener Position entfernt liegt, an der französische und ägyptische Ausgräber 1899 ihre Suche abgebrochen hatten. Die Kammer und ihr Inhalt lagen unter dem Sand versteckt, der damals hastig beiseitegeschaufelt wurde.

    „Vielleicht müssen wir uns noch mal die Grabungsstätten ansehen, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert erkundet wurden, und sie erneut ausgraben.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

     

    Das Alte Ägypten

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