Eine Astlänge Abstand: Social Distancing unter Bäumen

In den Blätterdächern vieler Wälder findet man seltsame Lücken. Dieses Phänomen namens „crown shyness“ (dt.: Kronenscheu) könnte den Bäumen dabei helfen, sich besser zu versorgen und gesund zu bleiben.

Von Katherine J. Wu
Veröffentlicht am 8. Juli 2020, 12:31 MESZ
Kronenscheu bei Kampferbäumen

So sieht Kronenscheu bei Kampferbäumen (Dryobalanops aromatica) auf Borneo im Forest Research Institute Malaysia aus. Das Phänomen tritt bei einigen Baumarten auf, wenn Lücken entstehen, in denen sich die Äste nicht berühren.

Foto von Ian Teh, National Geographic

An einem warmen Tag im März 1982 suchte der Biologe Francis „Jack“ Putz in einer Gruppe Schwarzer Mangroven Schutz vor der Nachmittagshitze. Schläfrig vom Mittagessen und den vielen Stunden Forschungsarbeit im Nationalpark Guanacaste in Costa Rica entschied Putz sich für ein kleines Nickerchen.

Als er nach oben schaute, wo der Wind durch die Wipfel der Mangroven über ihm strich, kamen die Äste benachbarter Bäume durch die Bewegung immer wieder miteinander in Kontakt, wobei einige der äußeren Blätter und Zweige abgerissen wurden. Putz bemerkte, dass durch diesen gegenseitigen, natürlichen Beschnitt ein Abstand zwischen den Baumkronen entstand.

Dieses Netzwerk aus Lücken wird „crown shyness“ (dt.: Kronenscheu) genannt und findet sich in Wäldern überall auf der Erde. Von den Mangroven Costa Ricas bis zu den riesigen Kampferbäumen auf Borneo in Malaysia – überall halten die mächtigen Pflanzen etwas Abstand voneinander. Doch noch hat die Wissenschaft keine umfassende Erklärung dafür, warum die Wipfel der Bäume nicht gerne in Kontakt miteinander kommen.

Vor 40 Jahren kam Putz beim Dösen unter den Mangroven zu dem Schluss, dass Bäume gerne Platz für sich haben – und das war ein wichtiger erster Schritt bei der Lösung des Rätsels.

„Die besten Erkenntnisse kamen mir oft vor einem Nickerchen“, meint er.

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Die aktuelle Datenlage untermauert die frühen Beobachtungen von Putz und seinen Kollegen zunehmend. Der Wind spielt scheinbar eine wesentliche Rolle, da er die Bäume in ihrem Bestreben nach Abstand unterstützt. Die Grenzen, die durch die Bewegung der Äste geformt werden, könnten die Lichtversorgung der Pflanzen verbessern. Lücken im Blätterdach erschweren möglicherweise sogar die Ausbreitung von blätterfressenden Insekten, parasitären Ranken und ansteckenden Krankheiten.

Kronenscheu ist vielleicht das Baum-Äquivalent zu social distancing, meint Meg Lowman, die als Biologin und Leiterin der TREE Foundation die Baumkronen von Regenwäldern erforscht. „Sobald Pflanzen sich nicht mehr gegenseitig berühren, steigt auch ihre Produktivität“, erklärt sie. „Das ist das Schöne an Isolation. Der Baum sorgt so für seine eigene Gesundheit.“

Hart umkämpfte Baumkronen

Beschreibungen von Kronenscheu gibt es in der Wissenschaftsliteratur bereits seit den 1920er-Jahren. Dennoch vergingen Jahrzehnte, bevor Forscher damit begannen, das Phänomen systematisch zu untersuchen und ihm auf den Grund zu gehen. Einige von ihnen stellten die Hypothese auf, dass die Bäume unter Lichtmangel litten, wo sich ihre Äste und Blätter überlappten, und die Lücken deswegen nicht geschlossen werden konnten. Licht ist ein essenzieller Bestandteil der Photosynthese.

Im Jahr 1984 publizierte Putz‘ Team jedoch Forschungsergebnisse, die belegten, dass Kronenscheu vielleicht nur das Ergebnis eines Kampfes zwischen den Bäumen ist, die fieberhaft neue Äste hervorbringen, um dem nachbarlichen Gegner etwas entgegenzusetzen. Ihre Studien zeigten, dass die Lücken im Blätterdacht größer wurden, je mehr sich die Mangroven im Wind bewegten – erste Erkenntnisse, die die sogenannte Abrieb-Hypothese untermauerten.

Etwa zwei Jahrzehnte später vermaß ein Forscherteam unter der Leitung von Mark Rudnicki, einem Biologen der Michigan Technological University, Küsten-Kiefern in Alberta, Kanada. Sie fanden heraus, dass Kronenscheu in windgeschüttelten Wäldern voller Bäume mit dünnen Stämmen und etwa gleicher Größe besonders stark auftritt. Und als Rudnicki und seine Kollegen das Aufeinandertreffen benachbarter Bäume mithilfe von Nylonseilen unterbanden, füllten die Pflanzen die Lücken zwischen ihren Kronen rasch zu einem geschlossenen Dach.

BELIEBT

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    Andere Wissenschaftler fanden Hinweise darauf, dass es vermutlich verschiedene Ursachen für Kronenscheu gibt und einige davon weniger offensichtlich als die windgesteuerten Kämpfe sind. So haben manche Bäume vielleicht gelernt, das Wachstum an den Spitzen ihrer Äste komplett einzustellen, um dem ständigen Abriss neuer Blätter entgegenzuwirken.

    Auf diese Weise könnten die Bäume unnötige Schäden vermeiden, meint Inés Ibáñez, Forstökologin an der University of Michigan. „Wachstum ist für Pflanzen eine enorme Investition. Möglicherweise ist der Baum vorausschauend: Dort zu wachsen bringt nichts, also lasse ich es sein.“

    Einige Bäume gehen dabei unter Umständen sogar noch einen Schritt weiter, indem sie ein ausgeklügeltes System nutzen, um die chemischen Botenstoffe zu analysieren, die ihre Nachbarpflanzen aussenden. „Es gibt immer mehr Fachliteratur über die Kommunikation zwischen Pflanzen“, sagt Marlyse Duguid, Försterin und Gärtnerin an der Yale University. Die Datenlage über die chemische Kommunikation zwischen Holzgewächsen ist noch spärlich, aber wenn Bäume einander tatsächlich wahrnehmen, können sie vielleicht auch ihr Wachstum begrenzen um Schäden durch Astkämpfe zu vermeiden.

    Platzvorteil

    Unabhängig davon, warum Kronenscheu auftritt: Der Abstand zwischen den Pflanzen hat höchstwahrscheinlich Vorteile. „Blätter sind die teuren Diamanten des Baums – er will sie um jeden Preis schützen“, sagt Lowman. „Wenn ein ganzes Büschel abgerissen wird, ist das eine Katastrophe für den Baum.“

    Ein weniger geschlossenes Blätterdach könnte außerdem mehr Sonnenlicht zum Waldboden durchlassen, was Pflanzen und Tieren in unteren Schichten und damit ultimativ dem ganzen Wald zugutekommt. Putz geht davon aus, dass die Lücken vielleicht sogar den Bäumen dabei helfen, parasitäre Lianen abzuwehren, die in tropischen und gemäßigten Regenwäldern auf der ganzen Welt in großer Zahl vorkommen. Außerdem könnte der Abstand einen Schutz gegen krankheitsverursachende Mikroben und flugunfähige Insekten bieten, die sich im geschlossenen Blätterdach von Baum zu Baum bewegen. Theoretisch könnten jedoch einige Keime und Insekten durch die Bewegungen der Bäume im Wind trotzdem von einer Pflanze auf die andere übergehen.

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    Viele dieser möglichen Vorteile können jedoch bislang nicht abschließend mit Kronenscheu in Verbindung gebracht werden. Wissenschaft im Blätterdach – in den Wipfeln einiger der höchsten Pflanzen der Welt – ist nicht einfach, erklärt Lowman, die ihr Berufsleben als eine von nur wenigen Wissenschaftlern der Erforschung der Baumkronen widmet. Zur Untersuchung der Baumspitzen muss man gut klettern können, einen exzellenten Gleichgewichtssinn und viel Mut besitzen. „Die Schwerkraft setzt uns dort oben klare Grenzen“, sagt sie.

    Die Krone eines Baumes außer Acht zu lassen, würde jedoch dem Ignorieren des menschlichen Körpers unterhalb der Taille gleichkommen, führt Lowman an. In den Baumwipfeln tobt das Leben – und ein Großteil dieser Biodiversität ist vielleicht noch vollkommen unentdeckt, insbesondere in den Tropen.

    Glücklicherweise „muss man nicht mal in ein Flugzeug steigen, um Kronenscheu zu beobachten“, sagt Putz. „Das gibt es überall – und es bereichert das Leben der Menschen, einfach mal nach oben zu schauen und es wahrzunehmen.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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