Drachenschlangenköpfe: Neue Fischfamilie begeistert Forscher

Die „lebenden Fossilien“ sind ein besonders seltener Fund – denn sie sind nicht nur ein uraltes Taxon, sondern haben sich im Laufe der Jahrmillionen kaum verändert.

Von Douglas Main
Veröffentlicht am 20. Okt. 2020, 16:07 MESZ
Der Gollum-Schlangenkopffisch, benannt nach der unterirdischen Figur in „Herr der Ringe“, ist eine von zwei Arten ...

Der Gollum-Schlangenkopffisch, benannt nach der unterirdischen Figur in „Herr der Ringe“, ist eine von zwei Arten aus einer neu entdeckten taxonomischen Fischfamilie.

Foto von Ralf Britz

Forscher haben in unterirdischen Gewässern in Südindien eine neue Familie von aalähnlichen Fischen entdeckt – die Drachenschlangenkopffische. Diese primitiven Fische sind eine Art „lebende Fossilien“ und haben sich evolutionär möglicherweise vor mehr als hundert Millionen Jahren von ihren nächsten Verwandten getrennt.

Die Entdeckung einer neuen Fischfamilie – die taxonomische Kategorie oberhalb von Gattung und Art – sei sehr ungewöhnlich, sagt der Studienleiter Ralf Britz. Der Ichthyologe arbeitet an den Senckenbergischen Sammlungen, die Teil des Zoologischen Museums in Dresden sind. Taxonomische Familien sind oft groß und vielfältig: Die menschliche Familie, die Hominidae, umfasst zum Beispiel Schimpansen, Orang-Utans und Gorillas.

Der Gollum-Schlangenkopffisch, benannt nach der unterirdischen Figur in „Herr der Ringe“, ist eine von zwei Arten aus einer neu entdeckten taxonomischen Fischfamilie.

Foto von Ralf Britz

Zu der neuen Fischfamilie gehören bisher jedoch nur zwei Arten. Eine davon trägt den Namen Gollum-Schlangenkopffisch, nach der unterirdisch lebenden Figur im „Herrn der Ringe“.

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    „Wir halten das für die aufregendste Entdeckung in der Fischwelt des letzten Jahrzehnts“, sagt Britz, der Hauptautor der zugehörigen Studie, die in „Scientific Reports“ erschien.

    Diese seltsamen, langgezogenen Fische, die in Grundwasserleitern aus porösem Gestein leben, sind selten zu sehen und kommen erst nach Überschwemmungen durch heftige Regenfälle an die Oberfläche. Britz hält den Familiennamen für treffend, denn „jeder, der ein Foto des Fisches sieht, denkt irgendwie an einen Drachen“.

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    Die südindischen Westghats, in denen die Fische leben, sind ein Biodiversitäts-Hotspot. Insgesamt haben Wissenschaftler in den dortigen Grundwasserleitern, die Millionen von Menschen mit Wasser versorgen, zehn Arten von unterirdischen Fischen entdeckt.

    Schätzungsweise sechs Millionen Brunnen speisen sich aus dieser unterirdischen Reserve, sagt Britz. Das hat den Grundwasserspiegel abgesenkt und könnte einige der neu entdeckten, obskuren Arten gefährden.

    Die Entdeckung einer Art – per Social Media

    Das Abenteuer begann Anfang 2018. Damals entdeckte der Fischforscher Rajeev Raghavan von der Kerala University of Fisheries and Ocean Studies – ein Co-Autor der Studie – in den indischen sozialen Medien einen Beitrag. Jemand hatte in einem Brunnen in einem Hinterhof einen seltsamen Fisch gefunden und fotografiert.

    Raghavan schickte das Foto an Britz, der „keine Ahnung hatte, was es war“, sagt Britz. Er erkannte weder die Art, noch die Gattung oder Familie. Nachdem Raghavan und andere Kollegen weitere Exemplare gesammelt hatten, reiste Britz nach Indien, um den Fisch wissenschaftlich zu beschreiben.

    Eine erste Studie, die im Mai 2019 in „Zootaxa“ veröffentlicht wurde, identifizierte den Fisch als eine neue Art und Gattung mit dem Namen Aenigmachanna gollum – der Gollum-Schlangenkopffisch. Kurz darauf fand ein anderer Forscher eine zweite Art dieser Gattung – den Mahabali-Schlangenkopffisch (Aenigmachanna mahabali).

    Ein computergerendertes Bild vom Skelett des Gollum-Schlangenkopffischs. Durch die Untersuchungen seiner Anatomie konnte gezeigt werden, dass diese Art (und ihre Schwesterart) zu einer bisher unbekannten taxonomischen Familie gehört, den Aenigmachannidae.

    Foto von Ralf Britz

    Ein weiterer Durchbruch kam, als Britz und andere ein Bauernfeld nördlich von Kochi besuchten, einer Stadt in Kerala. Dort fanden sie spät in der Nacht Gollum-Schlangenkopffische, die sich in einem überschwemmten Reisfeld tummelten.

    Doch als Britz und seine Kollegen weitere Forschungen zur Anatomie und Genetik dieser Fische anstellten, entdeckten die Wissenschaftler, dass sie zu einer völlig neuen Familie gehören. Britz’ genetische Analyse zeigt, dass sie sich evolutionär möglicherweise schon von ihren nächsten Verwandten abspalteten – den Schlangenkopffischen aus der Familie Channidae –, bevor sich Afrika und Indien vor 120 Millionen Jahren trennten und auseinanderdrifteten.

    Es gibt mehr als 50 Arten von Channidae, die in Flüssen und Seen in ganz Asien und Afrika leben.

    Lebende Fossilien

    Die Drachenschlangenköpfe haben „eine ganze Reihe von primitiven Merkmalen“ und werden zu Recht als „lebende Fossilien“ bezeichnet, sagt David Johnson. Der Ichthyologe am Smithsonian’s National Museum of Natural History in Washington, D.C., war an der Arbeit nicht beteiligt.

    Zu diesen einzigartigen Merkmalen gehören eine verkürzte Schwimmblase und weniger Rippenwirbel. Dadurch zeigt sich, dass die Drachenschlangenkopffische weniger spezialisiert sind als normale Schlangenkopffische.

    Der Familie fehlt auch eine Struktur, die als Suprabranchialorgan bezeichnet wird. Sie ermöglicht es den Schlangenkopffischen der Channidae-Familie, Luft zu atmen. Dieser Trick der Luftatmung hat es einer Art – den Argus-Schlangenkopffischen – ermöglicht, sich weit auszubreiten und in Nordamerika und anderswo zu einer invasiven Plage zu werden.

    Ein Gollum-Schlangenkopffisch.

    Foto von Ralf Britz

    Drachenschlangenköpfe haben außerdem Augen und rotbraune Pigmentierung, was für unterirdische Fische eher ungewöhnlich ist. Viele Arten sind weiß und haben keine Augen.

    Britz sagt, es sei unklar, warum die Spezies diese Merkmale aufweisen. Eventuell liege es aber daran, dass sie nicht ausschließlich unterirdisch leben.

    Diese Fische haben außerdem eine einzigartige Art, sich im Wasser zu bewegen, indem sie ihre Flossen wie Aale wellenförmig bewegen, um vorwärts und rückwärts zu schwimmen. Dies hilft ihnen wahrscheinlich dabei, die kleinen unterirdischen Gänge und Kammern zu navigieren. Britz findet es faszinierend, ihnen dabei zuzusehen – sie bewegen sich „wie ein Schleier im Wind“.

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    Johnson vergleicht die Drachenschlangenkopffische mit einem anderen primitiven, aalähnlichen Fisch namens Protoanguilla palau. Die Art wurde in einer Unterwasserhöhle in Palau entdeckt. 2012 half Johnson dabei, sie zu beschreiben. Genau wie die Drachenschlangenkopffische hat diese bis dato unbekannte Familie von Aalartigen uralte Merkmale, die bei ihren Verwandten verloren gegangen sind. Sie selbst hat sich hingegen im Laufe der Zeit relativ wenig verändert.

    Warum solche lebenden Fossilien die Zeiten überdauern, ohne sich großartig zu diversifizieren, bleibt ein Rätsel. „Ich kann nicht einmal ansatzweise verstehen, warum das so ist“, sagt Johnson.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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