Auf der Jagd nach dem Myon, das der Physik widerspricht

Ein Teilchen namens Myon stellt das altbewährte Standardmodell der Elementarteilchenphysik infrage. Aber um herauszufinden, ob wirklich ein neues Modell nötig ist, brauchen die Forschenden einen langen Atem.

Von Michael Greshko
Veröffentlicht am 12. Apr. 2021, 14:54 MESZ
Der Muon-g-2-Ring befindet sich inmitten von elektronischen Geräten in einer Detektorhalle. Das Experiment findet bei -267 ...

Der Muon-g-2-Ring befindet sich inmitten von elektronischen Geräten in einer Detektorhalle. Das Experiment findet bei -267 °C statt und untersucht die Schwankungen von Myonen, während sie sich durch ein Magnetfeld bewegen.

Foto von Reidar Hahn, Fermilab

In einem bahnbrechenden Experiment haben Wissenschaftler neue Beweise dafür gefunden, dass ein subatomares Teilchen dem Standardmodell der Elementarteilchenphysik (SM) widerspricht – eigentlich eine der wasserdichtesten Theorien der Physik. Die Diskrepanz zwischen den Vorhersagen des Modells und dem neu gemessenen Verhalten des Teilchens deutet darauf hin, dass es im Universum unsichtbare Teilchen und Kräfte geben könnte, die über unser derzeitiges Verständnis hinausgehen.

In einem Seminar am 7. April gaben Forscher des Fermilab in Batavia, Illinois, die ersten Ergebnisse des Muon-g-2-Experiments bekannt. Seit 2018 wird dabei ein Teilchen namens Myon gemessen, das dem Elektron ähnlich, aber schwerer ist und in den 1930ern entdeckt wurde.

Genau wie Elektronen haben Myonen eine negative elektrische Ladung und eine Quanteneigenschaft namens Spin, die bewirkt, dass sich die Teilchen wie winzige, schwankende Kreisel verhalten, wenn sie in einem Magnetfeld platziert werden. Je stärker das Magnetfeld ist, desto stärker schwingt ein Myon.

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Das Standardmodell, das in den Siebzigern entwickelt wurde, ist die bisher beste mathematische Erklärung für das Verhalten aller Teilchen im Universum. Und es sagt die Frequenz der Myonenschwankungen mit extremer Präzision vorher. Doch im Jahr 2001 fand das Brookhaven National Laboratory in Upton, New York, heraus, dass Myonen etwas schneller zu schwingen scheinen, als das Standardmodell es vorhersagt.

Zwei Jahrzehnte später hat das Fermilab mit seinem Muon-g-2-Experiment nun seine eigene Version des Brookhaven-Experiments durchgeführt – und die gleiche Anomalie beobachtet. Die Forscher kombinierten die Daten der beiden Experimente, um herauszufinden, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass es sich bei dieser Diskrepanz nur um einen Zufall handelt. Das Ergebnis: Sie liegt bei etwa 1:40.000 – ein Zeichen dafür, dass zusätzliche Teilchen und Kräfte das Verhalten des Myons beeinflussen könnten.

„Das war schon lange zu erwarten gewesen“, sagt der Physiker Mark Lancaster von der University of Manchester. Er ist ein Mitglied der Muon-g-2-Kollaboration, einem Team von mehr als 200 Wissenschaftlern aus sieben Ländern. „Viele von uns haben seit Jahrzehnten daran gearbeitet.“

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Nach den strengen Standards der Teilchenphysik sind die Ergebnisse allerdings noch keine „Entdeckung“. Diese Schwelle wird erst erreicht, wenn die Ergebnisse eine statistische Sicherheit von fünf Sigma erreichen – also eine 1:3,5-Millionen-Chance, dass eine zufällige Fluktuation die Diskrepanz zwischen Theorie und Beobachtung verursacht hat.

Die neuen Ergebnisse, die in den Fachzeitschriften „Physical Review Letters“, „Physical Review A&B“, „Physical Review A“ und „Physical Review D“ veröffentlicht werden, basieren auf nur 6 Prozent der gesamten Daten, die das Experiment voraussichtlich sammeln wird. Wenn die Ergebnisse von Fermilab konstant bleiben, könnte das Erreichen von fünf Sigma ein paar Jahre dauern. „Man darf vorsichtig optimistisch sein“, sagt Nima Arkani-Hamed, ein theoretischer Physiker am Institute for Advanced Study in Princeton, New Jersey, der nicht an der Forschung beteiligt war.

Schon jetzt sind die Ergebnisse des Fermilab der wichtigste Hinweis seit Jahrzehnten, dass physikalische Teilchen oder Eigenschaften jenseits des Standardmodells existieren. Wenn diese Unstimmigkeit mit dem Standardmodell bestehen bleibt, dann ist die Arbeit „ohne Frage Nobelpreis-würdig“, sagt die Physikerin Freya Blekman von der Freien Universität Brüssel, die nicht an der Forschung beteiligt war.

Ein Universalmodell der Physik

Das Standardmodell ist bislang die wohl erfolgreichste wissenschaftliche Theorie, die verblüffend genaue Vorhersagen über das Verhalten der Elementarteilchen des Universums treffen kann. Aber Wissenschaftlern ist seit Langem bewusst, dass das Modell unvollständig ist. Es fehlt zum Beispiel eine Beschreibung der Gravitation, und es sagt nichts über die mysteriöse Dunkle Materie aus, die überall im Kosmos verstreut zu sein scheint.

Um herauszufinden, was jenseits des Standardmodells möglich sein könnte, versuchen Physiker seit Längerem, es in Laborexperimenten an seine Grenzen zu bringen. Die Theorie bestand jedoch hartnäckig einen Test nach dem anderen, einschließlich jahrelanger Hochenergiemessungen am Large Hadron Collider (LHC). Mit dessen Hilfe fand man 2012 ein Teilchen, das vom Standardmodell vorhergesagt worden war: das Higgs-Boson, das eine Schlüsselrolle dabei spielt, einigen anderen Teilchen Masse zu verleihen.

Im Gegensatz zum LHC, der Teilchen aufeinander schießt, um neue Arten von Teilchen zu erzeugen, misst das Muon-g-2-Experiment von Fermilab bekannte Teilchen mit extremer Präzision und sucht nach subtilen Abweichungen von der Theorie des Standardmodells.

„Beim LHC ist es im Grunde so, als würde man zwei Schweizer Uhren mit hoher Geschwindigkeit ineinander krachen lassen. Dann hat man die Trümmer aus dieser Kollision und versucht, sich ein Bild von den Bestandteilen zu machen“, sagt Lancaster. „Wir haben eine Schweizer Uhr, und wir beobachten sie sehr, sehr, sehr, sehr genau, um zu sehen, ob sie das tut, was wir erwarten würden.“

Das Myon ist im Grunde das perfekte Teilchen, um nach Anzeichen für neue physikalische Phänomene zu suchen. Es ist beispielsweise langlebig genug, um im Labor genau untersucht zu werden – das heißt, es bleibt mehrere Millionstelsekunden lang stabil. Außerdem wird vom Myon ein ähnliches Verhalten wie von einem Elektron erwartet, allerdings ist es 207 Mal massereicher, was einen wichtigen Vergleichspunkt darstellt.

Seit Jahrzehnten schauen sich Forscher genau an, wie die magnetischen Schwingungen von Myonen durch den Einfluss anderer bekannter Teilchen beeinflusst werden. Auf der Quantenebene manifestieren sich leichte Energiefluktuationen als Teilchenpaare, die auftauchen und wieder verschwinden, wie kleine Bläschen in einem gigantischen Schaumbad.

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Laut dem Standardmodell schwingen Myonen etwa 0,1 Prozent schneller, als man erwarten würde, wenn sie sich mit diesem schaumigen Hintergrund aus „virtuellen“ Teilchen vermischen. Diese zusätzliche Verstärkung der Myonenschwingungen ist als anomales magnetisches Moment bekannt.

Doch die Vorhersage des Standardmodells ist nur so gut wie sein Inventar der bekannten Teilchen des Universums. Wenn das Universum zusätzliche schwere Teilchen enthält, würden diese zum Beispiel das anomale magnetische Moment des Myons verändern – möglicherweise sogar so stark, dass man es im Labor messen kann.

Das Studium des Myons ist „fast die umfassendste Sondierung der neuen Physik“, sagt Dominik Stöckinger, ein Theoretiker an der Technischen Universität Dresden und Mitglied des Muon-g-2-Teams.

Myonenstrahlen und Magnetfelder

Das Muon-g-2-Experiment beginnt mit einem Myonenstrahl, den die Wissenschaftler erzeugen, indem sie Protonenpaare aufeinander schießen und dann sorgfältig die subatomaren Trümmer filtern. Dieser Myonenstrahl tritt in einen 14 Tonnen schweren Magnetring ein, der ursprünglich im Brookhaven-Experiment verwendet wurde und 2013 per Lastkahn und LKW von Long Island nach Illinois transportiert wurde.

Während die Myonen in diesem Speicherring, der über ein gleichmäßiges Magnetfeld verfügt, ihre Runden drehen, zerfallen sie in Teilchen, die auf einen Satz von 24 Detektoren entlang der Innenwand der Bahn treffen. Indem die Forscher verfolgen, wie oft diese Zerfallsteilchen auf die Detektoren treffen, können sie herausfinden, wie schnell die Schwingungen ihrer ursprünglichen Myonen waren. Das ist ein bisschen so, als würde man auf die Rotationsgeschwindigkeit eines fernen Leuchtturms schließen, indem man beobachtet, wie er sich verdunkelt und wieder aufleuchtet.

Muon-g-2 versucht, das anomale magnetische Moment des Myons mit einer Genauigkeit von 140 ppm (Teilen pro Milliarde) zu messen – viermal genauer als das Brookhaven-Experiment. Gleichzeitig mussten die Wissenschaftler im Rahmen des Standardmodells die bestmögliche Vorhersage machen. Von 2017 bis 2020 errechneten 132 Theoretiker unter der Leitung von Aida El-Khadra von der University of Illinois die theoretische Vorhersage der Myonen-Schwankungen mit noch nie dagewesener Genauigkeit – und sie war immer noch niedriger als die gemessenen Werte.

Da es bei diesem Experiment um viel geht, hat Fermilab Schritte unternommen, um mögliche Verzerrungen auszuschließen. Die wichtigsten Messungen des Experiments hängen von der genauen Zeit ab, zu der die Detektoren die Signale aufnehmen. Um die Neutralität der Wissenschaftler zu gewährleisten, hat Fermilab den Zeitmesser des Experiments um eine zufällige Zahl verschoben. Diese Änderung verfälschte die Daten um einen unbekannten Betrag, der erst nach Abschluss der Analyse korrigiert werden konnte.

Die zufällige Zahl, um die die Zeitmessung verschoben wurde, befand sich ausschließlich auf zwei handgeschriebenen Notizen, die in verschlossenen Schränken bei Fermilab und der University of Washington in Seattle aufbewahrt wurden. Ende Februar wurden diese Umschläge geöffnet: Das Team erfuhr während eines Zoom-Calls die tatsächlichen Ergebnisse des Experiments.

„Wir waren alle wirklich ekstatisch und aufgeregt, aber auch fassungslos – denn tief im Innern sind wir wohl alle ein wenig pessimistisch“, sagt Jessica Esquivel, Mitglied des Muon-g-2-Teams und Postdoktorandin am Fermilab.

Eine neue Physik?

Die neuen Fermilab-Ergebnisse liefern einen wichtigen Hinweis darauf, was jenseits des Standardmodells möglich sein könnte. Aber Theoretiker, die nach einer neuen Physik suchen, haben keine unbegrenzten Freiheiten bei ihrer Forschung. Jede Theorie, die versucht, die Ergebnisse von Muon-g-2 zu erklären, muss auch erklären, warum vom LHC keine entsprechenden neuen Teilchen gefunden wurden.

In einigen der vorgeschlagenen Theorien enthält das Universum mehrere Arten von Higgs-Bosonen – nicht nur das eine, das im Standardmodell enthalten ist. Andere Theorien berufen sich auf exotische „Leptoquarks“, die neue Arten von Wechselwirkungen zwischen Myonen und anderen Teilchen verursachen würden. Da aber viele dieser Theorien in ihren simpelsten Versionen bereits ausgeschlossen wurden, müssen die Physiker „auf unkonventionelle Weise denken“, sagt Stöckinger.

Wie es der Zufall wollte, kam die Nachricht von den Fermilab-Ergebnissen zwei Wochen, nachdem ein anderes Labor – das LHCb-Experiment von CERN – unabhängige Beweise für Myonen gefunden hat, die sich anders verhalten als vorhergesagt. Das Experiment überwacht kurzlebige Teilchen, sogenannte B-Mesonen, und beobachtet, wie sie zerfallen. Das Standardmodell sagt voraus, dass einige dieser zerfallenden Teilchen Myonenpaare erzeugen. Aber LHCb hat Beweise dafür gefunden, dass solche Zerfälle seltener auftreten als vorhergesagt. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei dem Ergebnis um einen Zufall handelt, liegt ungefähr bei 1:1.000.

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Wie Fermilab braucht auch LHCb mehr Daten, bevor es eine neue Entdeckung verkünden kann. Aber schon jetzt lässt die Kombination der beiden Ergebnisse die Physiker „rumhüpfen“ vor Aufregung, sagt El-Khadra.

Der nächste Schritt besteht darin, die Ergebnisse zu replizieren. Die Erkenntnisse des Fermilab basieren auf dem ersten Durchlauf des Experiments, der Mitte 2018 endete. Das Team analysiert derzeit die Daten von zwei weiteren Durchläufen. Wenn diese Daten dem ersten Lauf ähneln, könnten sie ausreichen, um die Anomalie bis Ende 2023 zu einer vollwertigen Entdeckung zu machen.

Theoretiker beginnen derweil auch, die Vorhersage des Standardmodells zu überprüfen – insbesondere jene Teile, die bekanntermaßen schwierig zu berechnen sind. Neue Supercomputer-Methoden sollten dabei helfen, aber frühe Ergebnisse stimmen nicht ganz mit einigen der Werte überein, die El-Khadras Team in seine theoretische Berechnung einbezogen hat. Es wird Jahre dauern, sich durch diese subtilen Unterschiede zu arbeiten und herauszufinden, wie sie die Suche nach neuen physikalischen Phänomenen beeinflussen.

Für Lancaster und seine Kollegen lohnt sich die jahrelange Arbeit, die vor ihnen liegt – vor allem, wenn man bedenkt, wie weit sie schon gekommen sind.

„Wenn man Leuten erzählt, dass man versuchen wird, etwas genauer als 1 ppm zu messen, schauen sie einen manchmal etwas seltsam an. Und wenn man dann sagt, dass das zehn Jahre dauern wird, sagen sie: Du bist doch verrückt“, sagt er. „Ich denke, die Botschaft lautet: Sehr beharrlich.“

Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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