Impostor-Phänomen: Bin ich insgeheim ein Hochstapler?

Etwa die Hälfte aller erfolgreichen Menschen kennt Impostor-Gedanken: Sie zweifeln ihre eigenen Fähigkeiten so stark an, dass sie sich tief im Inneren für Betrüger halten. Was steckt hinter dem Impostor-Phänomen und lässt es sich auch positiv nutzen?

Von Barbara Buenaventura
Veröffentlicht am 2. Juni 2021, 17:35 MESZ
Mann verkreuzt die Finger hinter dem Rücken

Etwa die Hälfte erfolgreicher Personen – egal welchen Geschlechts, Ethnizität, Alters und Berufs – kennt Impostor-Gedanken und -Gefühle. 

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Zweifel in der Berufswelt sind keine Ausnahme - vor wichtigen Vorträgen, Vorstellungsgesprächen oder anderen Verhandlungen tauchen sie unweigerlich auf, die kleinen Unsicherheiten, was die eigenen Talente und Fähigkeiten angeht. Bei manchen Menschen jedoch manifestiert sich der Selbstzweifel zu einer echten Überzeugung: der nämlich, ein Hochstapler zu sein. Ihren Erfolg schreiben sie Zufällen oder glücklichen Umständen zu, ganz insgeheim warten sie darauf, als Betrüger entlarvt zu werden. Schauspielerin Jodie Foster wollte deshalb 1988 ihren Oscar zurückgeben, und Emma Watson sagte schon 2013 im Gespräch mit dem Rookie Magazine: „Es ist, als ob mein Gefühl der Unzulänglichkeit zunimmt, je besser ich es mache. Ich denke, dass jeden Moment jemand herausfinden wird, dass ich ein totaler Betrüger bin und nichts von dem verdiene, was ich erreicht habe.“

Neu ist das Impostor-Phänomen („impostor“ oder „imposter“: engl. für Hochstapler, Betrüger, Schwindler) nicht – und es ist auch nicht nur in der Schauspielwelt verbreitet: Schon 1978 untersuchten die klinischen Psychologinnen Pauline Clance und Suzanne Imes die extremen Selbstzweifel als Phänomen bei erfolgreichen Frauen. Aus heutiger Erkenntnis sind Frauen jedoch gar nicht vorrangig betroffen: „Etwa die Hälfte erfolgreicher Personen – egal welchen Geschlechts, Ethnizität, Alters und Berufs – kennt Impostor-Gedanken und -Gefühle“, sagt Dr. Sonja Rohrmann, Professorin für Persönlichkeitspsychologie und Psychologische Diagnostik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Doch nicht immer sind diese Zweifel für Außenstehende spürbar, nicht immer äußern sie sich in konkreten Verhaltensweisen oder schränken die jeweilige Person in ihrem Handlungsspielraum sichtbar ein.

Im weltweit anerkannten Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen (ICD) ist das Impostor-Phänomen nicht als Krankheit gelistet, viele Wissenschaftler bevorzugen statt des Begriffs Syndrom die Verwendung des Ausdrucks „Selbstkonzept“. So auch Sonja Rohrmann: „Die häufig in der Literatur zu findende Bezeichnung des Impostor-Syndroms weckt leicht die Assoziation eines psychischen Störungsbildes. Es handelt sich jedoch um keine krankhafte Beeinträchtigung oder Persönlichkeitsstörung. Vielmehr ist das Impostor-Phänomen als Persönlichkeitsmerkmal zu verstehen, das in einer Bandbreite von ‚gar nicht vorhanden‘ bis zu ‚sehr stark‘ ausgeprägt sein kann.“

Der Dunning-Kruger-Effekt ist ein populärwissenschaftlicher Begriff, der die maßlose Selbstüberschätzung inkompetenter Menschen beschreibt.

Sind wir insgeheim alle Schwindler?

Studien aus den 1980ern schätzten, dass rund 40 Prozent aller beruflich erfolgreichen Menschen sich selbst als Hochstapler einordneten, Sonja Rohrmann geht von rund 50 Prozent aus. Unter Wissenschaftlern soll es sich Studien zufolge sogar um 70 Prozent handeln. Einigkeit herrscht darüber, dass das Impostor-Selbstkonzept mit beruflichem Erfolg und Ambition verbunden ist: „Es trifft Menschen, die leistungsorientiert und erfolgreich sind, aber den Erfolg nicht auf die eigene Kompetenz, sondern äußere Umstände wie etwa Glück oder das Treffen der richtigen Leute zurückführen“, erklärt die Psychologin. „Insgesamt sind Personen mit höherem Bildungsniveau und qualifizierten Abschlüssen stärker vom Impostor-Selbstkonzept betroffen. Es handelt sich um ein kulturübergreifendes Phänomen mit höheren Prävalenzraten in westlichen leistungs- und wettbewerbsorientierten Gesellschaften.“

Wie stark die Selbstzweifel ausgeprägt und im Alltag der Person verankert sind, hängt dabei von der individuellen Persönlichkeit ab, aber auch von diversen Umweltfaktoren, die in einer komplexen Interaktion zusammenspielen: „Hierbei spielt einerseits eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur eine zentrale Rolle - beispielsweise ein geringer Selbstwert, hoher Perfektionismus, eine externale Kontrollüberzeugung oder starke Ängstlichkeit“, sagt Rohrmann. Doch auch das familiäre Umfeld und die dazu gehörende Sozialisation hat Einfluss auf das innerliche Tiefstapeln: „Bestimmte Familiendynamiken und Erziehungsstile beeinflussen die Leistungswerte und das Leistungsverhalten von Kindern: So bedingt etwa eine hohe Leistungs- und Wettbewerbsorientierung in der Familie einen leistungsabhängigen Selbstwert. Das Kind hat das Gefühl, für gute Leistungen und nicht um seiner selbst willen geliebt zu werden.“

Auch das professionelle Umfeld kann Einfluss auf die Entstehung und Ausprägung von Impostor-Gedanken haben. In einer Studie von 2009 zum Impostor-Selbstkonzept im wissenschaftlichen Umfeld heißt es: „Es entsteht (…) auch in der professionellen Sozialisation und Arbeit im Hochschul- und Wissenschaftssystem selbst: Auch die Hochschulsozialisation und die in der Wissenschaft und im Hochschulbereich wirkenden feld- und professionsspezifischen Dynamiken führen dazu, dass Wissenschaftler/innen sich an vielen Stellen ihrer Karriere wie ein/e Hochstapler/in fühlen (müssen). Dabei ist von einer sich gegenseitig verstärkenden Wechselwirkung zwischen dem Subjekt – vor dem Hintergrund seiner (berufs-)biographischen und sozialisationsbedingten Disposition zum Hochstaplersyndrom – und seiner sozialen Umwelt im Hochschulsystem auszugehen.“

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    Geringer Selbstwert, ausgeprägte Ängstlichkeit, dazu das Gefühl, dass die eigenen Leistungen nur zufällig zustande kamen – mit einer starken Führungspersönlichkeit werden diese Attribute im Allgemeinen nicht verbunden. Und doch kann das Impostor-Selbstkonzept zumindest in beruflicher Hinsicht auch positive Auswirkungen zu haben: „Das Zusammenwirken verschiedener Faktoren trägt offenbar zum Erfolg dieser Personen bei“, sagt Rohrmann. Es handle sich um außergewöhnlich kompetente Personen, deren Persönlichkeitsmerkmale es ermöglichten, ihre Angst vor Versagen und das Bedürfnis, etwas Besonderes zu sein, in starke Leistungsmotivation umzuwandeln: Sie sind bereit, außergewöhnlich hart zu arbeiten. Ihr Hang zu Perfektionismus trägt ebenfalls zu sehr positiven Arbeitsergebnissen bei.“

    Mit einem Impostor-Selbstkonzept sind also gute oder sogar noch bessere Arbeitserfolge möglich, die allerdings hart erkauft sind: Anspannung durch ständiges Überspielen der Unsicherheiten, konstant starker Leistungsdruck und hohe Ansprüche an sich selbst hinterlassen Spuren, die sich nicht nur auf die Psyche, sondern auch auf die körperliche Gesundheit auswirken können: „Personen mit Impostor-Selbstkonzept überschreiten häufig ihre Grenzen und die Arbeit nimmt einen so großen Anteil in ihrem Leben ein, dass die Work-Life-Balance nicht mehr gegeben ist. Infolgedessen kommt es häufig zu einer starken körperlichen und psychischen Belastung. Langfristig kann das Impostor-Selbstkonzept die psychische Gesundheit so stark tangieren, dass es zu emotionaler Instabilität kommt mit Leidensdruck bis hin zum Krankheitswert, etwa in Form von Burnout oder Depression“, warnt Sonja Rohrmann.

    Je nach Arbeitsstil – Stichwort: Perfektion oder Prokrastination – sind durch die extremen Selbstzweifel auch berufliche Nachteile möglich: So meiden einige Menschen, die sich als Impostor einschätzen, Rohrmann zufolge von vornherein Aufgaben, die ein erhöhtes Risiko des Scheiterns mit sich bringen. „Sie verharren oft eher in Positionen, die unterhalb ihres Leistungsniveaus liegen. Aus Angst vor Misserfolg bleiben sie oft hinter ihren Möglichkeiten zurück und nutzen ihre Ressourcen nicht aus. So werden etwa Jobangebote ausgeschlagen, Aufstiegschancen nicht wahrgenommen oder Karrierewege abgebrochen, weil die Person befürchtet, dass die eigene Unfähigkeit dann offenkundig werden könnte.“

    Prof. Dr. Sonja Rohrmann

    Die Expertin: Sonja Rohrmanns Forschungsschwerpunkt liegt in der psychophysiologischen Stress- und Emotionsforschung sowie der Entwicklung von Persönlichkeitsfragebögen. Neben der Grundlagenforschung geht es ihr vor allem um die Förderung von Gesundheit, Arbeitszufriedenheit und Leistungsfähigkeit unter Berücksichtigung von Persönlichkeitseinflüssen.

    Foto von Privat

    Wie gelingt der Abschied vom innerlichen Tiefstapeln?

    „Die Leute wissen nicht, was sie nicht wissen”, wird David Dunning, Sozialpsychologe und Mit-Namensgeber des Dunning-Kruger-Effekts, oft zitiert. Das Phänomen, nach dem inkompetente Menschen das eigene Wissen und Können überschätzen, wird gemeinhin als Gegenstück zum Impostor-Syndrom eingeordnet: Die Diskrepanz zwischen eigener Einschätzung und den tatsächlichen Fähigkeiten ist bei beiden Phänomenen ausgeprägt – der daraus möglicherweise entstehende Leidensdruck unterscheidet sich jedoch fundamental.

    Je nachdem, wie Menschen das Impostor-Selbstkonzept für sich nutzen, ist der Wunsch zur Überwindung des Konzepts stark ausgeprägt – lohnen könnte sich der Ausstieg aus dem Teufelskreis allemal, zeichnen sich Personen mit Impostor-Selbstkonzept doch durch eine dauerhaft erhöhte Stressbelastung aus. „Für manche vom Impostor-Selbstkonzept betroffene Personen kann es völlig ausreichend sein, Selbsthilfemaßnahmen umzusetzen“, empfiehlt Psychologin Rohrmann. Das könnten Maßnahmen wie das schriftliche Festhalten von Erfolgen und Fortschritten sein, auch Gespräche über das Selbstkonzept mit anderen, eine Supervision oder ein Coaching können helfen. Wenn der Leidensdruck zu hoch ist und das Impostor-Selbstkonzept mit Burnout oder Depression verbunden ist, macht eine Psychotherapie Sinn. „Alle Interventionen zielen auf die Identifikation und Veränderung dysfunktionaler Gedanken bzw. verzerrter Denkmuster und Verhaltensweisen, die zu einer erheblichen Belastung führen. Ziel ist der Aufbau eines verinnerlichten Selbstwertgefühls, das unabhängig von den Bewertungen anderer ist und dem objektiven Erfolg angemessen ist“, sagt Sonja Rohrmann. Avisiert wird ein realistisches Selbstbild, das Kritik von außen einordnen und sich eigene Fehler zugestehen kann. Rohrmann ist überzeugt: „Es ist wichtig, das unrealistische Selbstkonzept in ein realistisches Selbstkonzept zu überführen, damit Impostor ihren wohlverdienten Erfolg endlich genießen können, statt darunter zu leiden.“

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