Ein Erdbeben, das 32 Jahre anhält: Was steckt dahinter?

1861 endete das längste bekannte Erdbeben mit einer Katastrophe. Darum suchen heutige Experten unter Hochdruck nach vergleichbaren Vorkommnissen.

Von Maya Wei-Haas
Veröffentlicht am 15. Juni 2021, 16:19 MESZ
Earthquake 1861

1861 erschütterte ein Erdbeben der Stärke 8,5 Indonesien und löste dabei einen Tsunami aus, der die Küstenregionen verwüstete. Neue Untersuchungen haben ergeben, dass dem zerstörerischen Ereignis ein drei Jahrzehnte andauerndes Erdbeben vorausging.

Foto von Image by Niday Picture Library / Alamy Stock Photo

Als im Februar 1861 ein Mega-Beben der Stärke 8,5 die Erde vor der indonesischen Insel Sumatra erschütterte, brachte es nicht nur das Land ins Wanken. Eine Wand aus Wasser baute sich vor der Insel auf, krachte auf die Küste und tötete tausende Menschen.

Heute deutet einiges darauf hin, dass dieses tragische Ereignis das Ende eines der längsten bekannten Erdbeben markiert, und das für seinen Weg durch den Untergrund unglaubliche 32 Jahre gebraucht hat. Man kennt diese Art von langsamen Beben unter dem englischen Begriff „Slow-Slip Event“ und weiß, dass es Tage, Monate, oder Jahre dauern kann, bis sie ihre ganze Kraft entfalten: Laut wissenschaftlichen Berichten in der Zeitschrift „Nature Geoscience“, hat das Beben vor Sumatra mehr als doppelt so lang angehalten, wie der bisherige Rekordhalter.

„Ich hätte nie gedacht, dass wir einmal auf ein so langes Slow-Slip-Event stoßen würden – aber hier ist es“, sagt die Autorin der Studie, Emma Hill, eine Geodätin am Earth Observatory of Singapore, das der Technologischen Universität Nanyang angeschlossen ist.

Die Entdeckung eines derartig langsamen Bebens wird den Wissenschaftlern dabei helfen, zu verstehen, auf welch überraschend vielfältige Weise unser rastloser Planet in Bewegung ist – und wie tödlich das Potential der stillen Events dafür ist, noch mächtigere Beben auszulösen.

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Erdbeben hinterlassen verheerende Schäden, erschaffen aber auch eindrucksvolle Naturwunder auf dem Antlitz des Planeten. Erfahrt, welche konkreten Prozesse zu ihrem Auftreten führen, wie die gemessen werden und welches das stärkste dokumentierte Erdbeben der Welt war.

Erdbeben entstehen, wenn die Energie, die aus der Verschiebung der tektonischen Platten entsteht, freigesetzt wird. Im Fall eines Slow-Slip Events wird diese Energie, statt wie bei einem gewöhnlichen Erbeben mit einem einzigen erderschütternden Ruck, nach und nach abgeführt. Langsame Beben sind für sich genommen also keine große Gefahr. Doch die feinen Verschiebungen des Untergrunds während solcher Phasen können die benachbarten Gebiete entlang der Verwerfung unter Druck setzen. Dadurch steigt das Risiko für stärkere Beben in der näheren Umgebung.

In manchen Gegenden Indonesiens besteht daher Grund zur Sorge. Die südwestlich vor Sumatra gelegene Insel Enganno „senkt sich ein bisschen zu schnell ab“, sagt Rishav Mallick, Erstautor der neuen Studie und Doktorand an der Technologischen Universität Nanyang. Obwohl er darauf hinweist, dass die Daten nur von einem Testort stammen, deuten diese doch bereits darauf hin, dass in der Nähe der Insel ein langsames Beben im Gange sein könnte.

“Es geht nicht um einen seltsamen Einzelfall, der irgendwann in den 1800ern passiert ist“, sagt Mallick.“Dasselbe geschieht immer wieder, hier und jetzt.“

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    Korallen führen Protokoll

    Eine unerwartete Quelle lieferte die nötigen Informationen über tektonische Verschiebungen, die der neuen Studie zu Grunde liegen: Korallen.

    Manche Korallenarten, wie zum Beispiel die fingerartige Porites, wachsen sowohl in die Breite, als auch in die Höhe. Wenn die Spitzen knapp unter der Wasseroberfläche angekommen sind, stoppt das Wachstum. Steigt der Meeresspiegel, wächst die Koralle weiter in die Höhe. Fällt er, sterben die Teile der Koralle, die der Luft ausgesetzt sind, ab, gleichzeitig wächst die Koralle unter Wasser verstärkt in die Breite. Wie Bäume, in deren konzentrischen Ringen man viele Informationen lesen kann, wachsen Korallen in Schichten, die Wissenschaftlern viel über die Veränderungen des Wasserstands im Laufe der Zeit verraten.

    “Man könnte sie auch als natürliche Gezeitenmesser bezeichnen“, sagt Hill.

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    Gründe für das Steigen und Absinken des Meeresspiegels können klimagetriebene Faktoren, wie etwa schmelzende Gletscher, sein. Einfluss haben aber auch Höhenverschiebungen der Landschaft, zu denen es an der Westküste Sumatras durchgängig kommt, weil hier zwei tektonische Platten einen wahren Kampf miteinander ausfechten.

    In dieser Zone schiebt sich die Australische Platte in die Sunda-Platte, verkeilt sich dort aber direkt unter einem Bogen indonesischer Inseln. Dort, wo die Platten aufeinanderstoßen, zieht die Untenliegende an dem Land über ihr, wodurch die Oberfläche der Landmasse stark unter Spannung gerät: Ihre Ränder werden tief ins Meer gezogen, die Landinnenfläche nach oben gedrückt.

    Ab einem gewissen Belastungsgrad der Landmasse kommt es in den entsprechenden Regionen zu Erdbeben, die den Effekt umkehren: Das Land, das eben noch nach oben gedrückt wurde, senkt sich abrupt ab, die Küstenzonen schießen daraufhin in die Höhe. Diese Art von Landverschiebung konnte nach einem Erdbeben der Stärke 8,7 in Sumatra im Jahr 2005 beobachtet werden.

    “Als das Riff durch das Erdbeben angehoben wurde, riss es das komplette Ökosystem mit sich“, erzählt Aron Metzner, Co-Autor der Studie. 2005, als er Doktorand am California Institute of Technology war, schrieb er einen Blog über seine Erfahrungen im Erdbebengebiet. Korallen, Seeigel, Krustentiere und „der ein oder andere glücklose Fisch“ lagen dort, auf dem fast trockenen Land, im Sterben oder waren bereits tot.

    Meltzner, der jetzt Geologe an der Technologischen Universität Nanyang ist, kehrte Jahr um Jahr nach Indonesien zurück, um die Korallen vor Sumatra zu untersuchen, und die vielen Informationen sammeln, die sie archiviert hielten. In einer Studie von 2015 dokumentierten er und seine Kollegen anhand dieser Daten die plötzlichen Landverschiebungen, die letztlich zu dem Großen Beben 1861 hinführten.

    Bis 1829 senkte sich laut der Korallendaten der Meeresboden vor der Insel Simeulue, westlich von Sumatra, jährlich um etwa zwei Millimeter ab. Doch dann schnellte dieser Wert plötzlich auf bis zu zehn Millimeter pro Jahr in die Höhe, bis 1861 das verheerende Erdbeben die Region erschütterte. Zunächst vermutete das Team, dass die gemessenen Verschiebungen mit erwartbare Landbewegungen in einer Region zusammenhingen, in der sich zwei tektonische Platten ineinander verkeilen.

    Mallick warf 2016 einen frischen Blick auf die Korallendaten. Anhand eines Modells der Subduktionszone und der Bewegung von Flüssigkeiten entlang der Verwerfungslinie, fanden die Forscher heraus, dass die plötzlichen Verschiebungen durch die ansteigende Belastung der Landmasse entstanden waren – den Beginn eines langsamen Erdbebens.

    Erdbeben unterscheiden sich

    Die Existenz langsamer Erdbeben ist seit den späten 1990er Jahren anerkannt, als sie zum ersten Mal in Kaskadien, im Pazifischen Nordwesten der USA, und im Nankai-Trog vor der Küste Japans beobachtet wurden. Die träge Weise, auf die sie Energie freisetzen, erzeugt derartig unauffällige Verschiebungen an der Oberfläche, dass sie bis dahin nicht festgestellt werden konnten. Erst die GPS-Technologie machte es möglich, die Kleinst-Veränderungen zu messen und aufzuzeichnen.

    Je mehr Orte Wissenschaftler seitdem auf langsame Beben untersucht habe, desto häufiger wurden sie fündig: von der Küste Neuseelands über Costa Rica bis nach Alaska. „Aseismische Verschiebungen sehen wir überall“, sagt Lucile Bruhat, Geophysikerin an der Ecole Normale Supérieure (ENS), einer Hochschule in Paris, die an der Studie nicht mitgewirkt hat.

    Slow-Slip Events treten in ganz unterschiedlichen Formen auf. In Kaskadien und der Nankai-Region ist auffällig, wie regelmäßig und berechenbar sie sind: In Kaskadien kommt es etwa alle vierzehn Monate, in Nankai alle drei bis sechs Monate zu diesen Beben. Die Vorkommnisse in beiden Gebieten werden außerdem von einer Reihe Erdstöße begleitet.

    Bruhat vergleicht dies mit Schritten auf einem Holzboden. „Läuft man über Holz, knackt es dort, wo man auftritt“, erklärt sie. „Jedes Knacken steht für einen Erdstoß.”

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    Im Laufe der Jahre haben die Wissenschaftler außerdem herausgefunden, dass die Länge dieser langsamen Beben stark variieren kann. In Alaska gab es beispielsweise ein Beben, das neun Jahre andauerte. Dass sich vor ihren Augen ein langsames Erdbeben abspielte, bemerkten die Forscher erst, als die kriechende Oberfläche 2004 plötzlich stillstand, so Mallick. Das neuentdeckte Event bei Sumatra aber, treibt die mögliche Dauer eines solchen Bebens auf die Spitze.

    “Es gab einige Leute, die davon ausgegangen sind, dass größere, längere Slow-Slip-Events möglich sind“, sagt Laura Wallace, Geophysikerin an der Universität von Texas in Austin, und dem Institute of Geological and Nuclear Sciences in Neuseeland, die nicht Teil des Studienteams war. Die stringente Beobachtung von Landbewegungen in der Nähe von Subduktionszonen wurde aber erst in den letzten Jahrzehnten etabliert, so dass „wir im großen Zusammenhang der Zeit wirklich nur einen kleinen Schnappschuss betrachten können“, sagt sie.

    Auf dem Laufenden bleiben

    Das Wissen über die Vorgänge rund um ein solch langsame Beben, ist äußerst wichtig, um das Risiko für das Auslösen größerer Beben einschätzen zu können. Slow-Slip Events gingen vielen der mächtigsten bekannten Erdbeben voraus: Eingeschlossen die Erdbebenkatastrophe im Indischen Ozean 2004 mit einer Stärke von 9,1, dem vernichtenden Beben in Tohuko, Japan, 2011, das ebenfalls eine Stärke von 9,1 erreichte, und dem Beben 2014 in Chile, das die Hafenstadt Iquique mit einer Stärke von 8,2 erschütterte.

    “Alle, die auf diesem Fachgebiet tätig sind, reden gerade darüber”, sagt Noel Bartlow, eine Geophysikerin an der Universität von Kansas, die sich auf die langsamen Beben spezialisiert, aber nicht an der Studie mitgewirkt hat. Die Herausforderung war lange, einen Beweis dafür zu erbringen, dass Slow-Slip-Events größere geologische Erschütterungen auslösen. Schließlich folgt nicht auf jedes langsame Beben ein großes.

    “Die Hinweise verdichten sich, doch bisher gibt es nur wenige Fallstudien“, sagt sie.

    Teil des Problems ist die Schwierigkeit, ein langandauerndes Beben auf frischer Tat zu ertappen. Das langsame Beben, um das es in der neuen Studie geht, bewegte sich träge in einer flachen Zone entlang der Verwerfung, die unter Wasser in einiger Entfernung zum Land liegt, so Bartlow. Traditionelle GPS-Stationen sind am Meeresgrund leider nutzlos, weil ihre Signale im Wasser keine gute Reichweite haben. Und es gibt nur wenige Orte auf der Welt, die natürliche Messinstrumente wie die Korallen in Indonesien bieten.

    Künstliche Messinstrumente, die helfen könnten, gibt es, doch sie sind teuer, sagt Bartlow. Ihr Plan ist es, vor der Küste des Pazifischen Nordwestens nach vergleichbaren Slow-Slip Events zu suchen, und dort mit Glasfaserleitern die Oberflächenspannung zu messen.

    Diese Art der Beobachtung sind der Aspekt der Arbeit eines Wissenschaftlers, der „nicht ganz so sexy“ ist, so Hill. Doch sie ist unverzichtbar, möchte man den Planeten in all seiner Komplexität verstehen.

    “Immer dann, wenn wir denken, dass wir die Tektonik entschlüsselt haben, kommt die Erde mit einer neuen Überraschung um die Ecke“, sagt Hill. „Je mehr dieser sehr langen Datensätze wir sammeln, desto überraschter werden wir sein.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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