Welche Krankheiten Placebos heilen können – und welche nicht

Neueste Forschungsergebnisse aus der Biochemie belegen, dass das menschliche Gehirn durchaus dazu in der Lage ist, sich selbst zu heilen.

Von Simon Worrall
Veröffentlicht am 21. Juni 2021, 10:39 MESZ, Aktualisiert am 21. Juni 2021, 14:51 MESZ
Der Psychiater Andrew Leuchter hält zwei Pillen in seinen Händen – bei der einen handelt es ...

Der Psychiater Andrew Leuchter hält zwei Pillen in seinen Händen – bei der einen handelt es sich um ein Medikament, bei der anderen um ein Placebo. Der Patient erfährt nicht, welche den Wirkstoff enthält, doch eine effektive Behandlung ist mit beiden möglich.

Foto von Spencer Weiner, Los Angeles Times/Getty Images

Medikamente sind das beste Mittel gegen Krankheiten – diese Annahme hat sich mit der wachsenden Verfügbarkeit von Pharmazeutika fest etabliert. In den letzten Jahren aber ist ein gesteigertes Interesse an alternativer Medizin entstanden, die auf die mentalen oder spirituellen Heilungskräfte des Körpers setzt. Die Erforschung der Biochemie von Placebos hat gezeigt, dass diese Heilmethoden nicht unbedingt so verrückt sind, wie es oft den Anschein hat, und dass wir Menschen tatsächlich in der Lage dazu sind, uns selbst zu heilen.

In seinem Buch „Suggestible You: The Curious Science of Your Brain’s Ability to Deceive, Transform and Heal“, wendet Erik Vance den aktuellen Stand der Wissenschaft auf ein buntes Potpourri alternativer Therapiemethoden an: Akkupunktur, Hypnose, sogar Zauberei. In den meisten Fällen hat er sie selbst getestet. („Suggestible You“ wurde von National Geographic herausgegeben.)

Buchcover „Suggestible You: The Curious Science of Your Brain’s Ability to Deceive, Transform and Heal“

Courtesy National Geographic Books

Wir sprachen mit dem ausgebildeten Biologen Vance, der in Mexico City lebt, darüber, wie seine Kindheitserfahrungen mit der Christlichen Wissenschaft (Christian Science) sein Interesse daran geweckt haben, wie der Geist die Gesundheit beeinflusst. Außerdem verriet er uns, wieso Placebos in der Behandlung der Parkinson-Krankheit einen Effekt zeigen, und was ihn dazu bewegte, einen mexikanischen Medizinmann darum zu bitten, ihn mit einem Fluch zu belegen.

Sie wurden im Glauben der Christlichen Wissenschaft erzogen. Diese behauptet, dass es möglich ist, Krankheiten mit Gebeten zu heilen. Gibt es einen Beweis dafür, dass das tatsächlich funktioniert?

Wow, das ist eine schwere Frage! Ich wuchs in der Glaubensgemeinschaft der Christlichen Wissenschaft auf, deren Credo ist, dass die Welt – unsere Körper eingeschlossen – ein Spiegelbild unseres Geistes ist. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass man seinen Körper beeinflussen kann, indem man seinen Geist beeinflusst.

Im Laufe meiner Kindheit habe ich viele Heilungen miterlebt, die in mir ein Interesse an dem Thema geweckt haben, das mir all die Jahre erhalten geblieben ist. Ich habe Menschen getroffen, die behaupteten vom Krebs geheilt worden zu sein – und einen Typen, der sich angeblich einen Zeh abgetrennt hat, der dann nachwuchs. Von dem Buch erhoffte ich mir weder, die Dinge zu widerlegen, die ich als Kind erlebt hatte, noch sie zu stützen.

BELIEBT

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    Ob Placebos und die Kraft des Geistes wirksam gegen Krankheiten sind? Mein Fazit ist: Ja, aber nicht in jedem Fall. Es gibt Umstände unter denen diese Art der Heilung unglaublich wirkungsvoll ist: Parkinson, chronische Schmerzen, Reizdarmsyndrom, Depressionen, Angstzustände, bestimmte Arten von Asthma und Autoimmunerkrankungen kann man sehr gut mit Placebos behandeln. Krebs aber nicht.

    Christliche Wissenschaft, Homöopathie und andere nicht belegte Heilmethoden können dazu führen, dass der Patient sich etwas besser fühlt, aber wenn es einen lebensbedrohlichen Tumor zu behandeln gilt, sind sie die falsche Wahl.

    Ist das gesteigerte Interesse an spirituellen Heilmethoden ein Symptom der beängstigenden neuen Abkehr von der Schulmedizin, wie man es etwa bei Impfgegnern sieht? Macht Ihnen das Sorgen?

    Ich kann die Angst vor der Technologie und Ärzten nachvollziehen. Ich selbst habe keinen Arzt aufgesucht, bis ich achtzehn Jahre alt war. Wenn man [die moderne Medizin] nicht versteht und dazu erzogen wurde, nicht an sie zu glauben, dann macht sie Angst. Aber man muss eben auch zwischen den Fällen unterscheiden, in denen alternative Medizin und glaubensbasierte Heilmethoden angebracht sind, und denen, in denen sie nicht helfen können. Mich persönlich lässt es nicht weniger an die Kraft des Geistes glauben, dass ich weiß, dass sie gegen Mumps nichts ausrichten kann.

    Meine Kinder sind geimpft, ich bin geimpft, und ich bin sehr dankbar dafür, dass wir diese Möglichkeiten haben. Ich weiß aber auch, dass sich viele vor der Schulmedizin fürchten. Und diese Menschen dann dumm zu nennen, hilft nicht dabei, ihre Sicht auf die Dinge zu ändern. Man muss sie dort treffen, wo sie stehen. Ich bin Wissenschaftler, ich kennen die Daten, ich verstehe, wie Impfungen funktionieren und vertraue ihnen zu hundert Prozent. Und trotzdem habe auch ich Angst gespürt, als mein Sohn geimpft wurde. Man kann sich nicht dagegen wehren, es ist ein Bauchgefühl.

    Ein Kind erhält eine Schluckimpfung gegen Polio in einer Klinik in Dhaka, Bangladesch.

    Foto von Karen Kasmauski, National Geographic

    Bei der Behandlung der Parkinson-Krankheit hatten Placebos eine besonders hohe Wirksamkeit. Wie erklären Sie das?

    Parkinson ist das perfekte Beispiel, wenn man über die Wirksamkeit von Placebos sprechen möchte. Im Körper eines Parkinson-Patienten herrscht ein chronischer Mangel an Dopamin, das als Neurotransmitter in unserem Nervensystem viele Aufgaben in unserem Körper erfüllt. Eine der wichtigsten hat es im Belohnungszentrum, wenn wir an die schönen Dinge denken, die in der Zukunft auf uns warten.

    Die Einnahme von Placebos führt zu einer positiven Erwartungshaltung im Gehirn. Daraufhin wird verstärkt Dopamin freigesetzt, von dem ja sonst aufgrund der Parkinson-Krankheit ein Mangel herrscht.

    Schaut man sich im Gegensatz dazu den Placeboeffekt bei Alzheimer-Patienten an, ist dieser nicht so stark. Man merkt, dass es Regeln gibt, wann Placebos wirken, und wann nicht. Das Gehirn tut nicht plötzlich auf magische Weise irgendwelche Dinge – es gibt spezifische Stoffe, auf die wir durch Placebos zugreifen können, und andere, bei denen das nicht so ist.

    Warum sind Placebos trotz ihrer Wirksamkeit so ein Tabu?

    Wir wussten ja lange Zeit nichts von ihrer Wirksamkeit. Wenn man den Placeboeffekt oder Schweben durch Hypnose nie am eigenen Körper erlebt hat, klingen solche Dinge entweder wie Zauberei, oder als hätte sie sich ein Verrückter ausgedacht.

    Andererseits: Hat man eine solche Wirkung schon selbst erlebt, und sich, zum Beispiel, durch das Auflegen von Kristallen plötzlich besser gefühlt, ist es schwer mit dem Misstrauen der Menschen umzugehen, die das in Frage stellen. Man denkt sich: „Es hat doch funktioniert, warum erzählst du mir, das wäre nicht so?“

    Diese Art der Heilung gibt es schon tausende Jahre – wir Menschen tun das einfach. Ob es angemessen oder richtig ist – darum geht es gar nicht. Wir sind eben so. Wir setzen Erwartungen als Heilmittel ein.

    Ein Medizinmann in Catemaco, Mexico, führt ein Ritual durch, um einen Mann von bösen Kräften zu befreien.

    Foto von Ronaldo Schemidt, AFP/Getty Images

    Für Ihre Untersuchungen haben Sie, unter anderem, einen Medizinmann aufgesucht. Wo findet man so jemanden? Im Internet? Im Branchenbuch?

    [Lacht] Ich lebe in Mexico City und am Ende der Straße, in der ich wohne, gibt es einen berühmten Markt, auf dem man alles findet, was man für seinen täglichen, übersinnlichen Bedarf so braucht: Kojotenhaut, Schlangenbisse und Säbel für Heilungsrituale – es gibt nichts, was es nicht gibt.

    Ich dachte, ich würde geheime, dunkle Zauberei in irgendeinem düsteren Hinterhof finden – stattdessen werden magische Rituale ganz offen auf dem Markt beworben. Ist man auf der Suche nach schwarzer oder weißer Magie? Möchte man jemanden mit einem Fluch belegen, oder eine verlorene Liebe zurückgewinnen? Es war wirklich leicht, einen Medizinmann für meine Zwecke zu finden: Ich wollte mithilfe eines Fluchs das Gegenteil des Placeboeffekts erleben – den Noceboeffekt, eine negative Erwartungshaltung.

    Außerdem reiste ich nach Catemaco, einem Ort in Vera Cruz, der für seine Medizinmänner bekannt ist. Dort traf ich einen der führenden Heiler, um das „medizinische Schauspiel“ zu durchschauen. Das ganze Drumherum, die Requisiten der Heilkunde – zum Beispiel das Stethoskop und weiße Laborkittel in der westlichen Schulmedizin – die sich mit dem kulturellen Kontext eigentlich ändern. Umso interessanter fand ich es, dass bei vielen der traditionellen Heiler in Catemaco die Requisiten der modernen Medizin zum Einsatz kamen: Sie trugen weiße Kittel, kurzgeschnittene Haare, und wählten lange, komplizierte Begriffe, um eine Atmosphäre zu erzeugen, wie wir sie aus unseren Arztpraxen und Kliniken kennen.

    Mithilfe der funktionellen Kernspintomographie (fMRT) wird bei einem Patienten die Reaktion des Gehirns auf Schmerzimpulse untersucht.

    Foto von Erika Larsen, National Geographic

    Welche Lehren kann die Medizin aus Ihren Ergebnissen ziehen – in Hinblick auf unseren Umgang mit Ärzten und ihren mit uns?

    Die Lehre für den Patienten ist, dass [alternative Medizin] wirksam sein kann. Aber ich möchte einige Regeln dazu aufstellen, wann man sie in Betracht ziehen darf, und wann nicht:

    Die erste ist, sich nicht selbst zu schaden. Wenn man mit einer lebensbedrohlichen Krankheit kämpft, ist nicht der richtige Zeitpunkt, sich mit falschen Erwartungen zu belasten.

    Zweitens darf man sich nicht in den Ruin treiben. Ich habe so viele Menschen getroffen, die ihr gesamtes Vermögen für ein Versprechen auf Heilung ausgegeben haben, das nie eingelöst wurde.

    Und schließlich: Man darf der Umwelt nicht schaden. Wenn in die Herstellung eines Placebos bedrohte Tiere involviert sind, ist es wohl eine gute Idee, sich nach etwas anderem umzusehen.

    Galerie: Wie die traditionelle chinesische Medizin Tierarten gefährdet

    Hält man sich an diese Regeln, gibt es bestimmte Krankheiten, bei denen man Placebos gut einsetzen kann – denn nur weil es sich um ein Placebo handelt, heißt das nicht gleich, dass es nicht helfen kann. Das haben Labore wieder und wieder belegt.

    Ärzte erinnern meine Ergebnisse noch einmal daran, wie wichtig es ist, empathisch mit den Patienten zu sein, und sich Zeit für sie zu nehmen. Behandlungen können bis zu 30% weniger effektiv sein, wenn die Beziehung zwischen Arzt und Patienten schlecht ist – und dann ist es kein Wunder, wenn die Menschen sich nach anderen Alternativen umsehen. Alle Medizinmänner und Heiler der traditionellen chinesischen Medizin, mit denen ich gesprochen habe, haben das erkannt.

    In Ihrem Buch gibt es auch ein Kapitel über verfälschte Erinnerungen. In welchem Zusammenhang stehen Placebos, Hypnose und Gesundheit?

    Das ist eine gute Frage. Ich habe das Buch „Suggestible You“ genannt, weil es darin um Suggestion geht. Zu Placebos gibt es viele großartige wissenschaftliche Untersuchungen, die sehr spannend sind, aber ich wollte einen weitergefassten Blick auf die geistig-seelische Beeinflussung von Menschen werfen. Verfälschte Erinnerungen wirken sich körperlich aus, ebenso Hypnose.

    Hypnose ist eine Suggestion im Hier und Jetzt. Man spaziert durch ein Feld oder fliegt durch die Luft und fühlt, wie der Schmerz verschwindet.

    Die Suggestionswirkung von Placebos ist zukünftig. Nehme ich eine Ibuprofen-Tablette, habe ich das Gefühl, dass der Schmerz sofort verschwindet – obwohl das Medikament eigentlich zwanzig Minuten braucht, bis es tatsächlich wirkt.

    Mit der verfälschten Erinnerung verhält es sich so, dass dem Patienten suggeriert wird, dass in seiner Vergangenheit etwas passiert ist, oder nicht passiert ist. Dadurch ändert sich die Art, wie er die Wirklichkeit wahrnimmt.

    Ein hervorragender Placebo-Wissenschaftler hat mir gesagt, dass Wirklichkeit durch die Informationen unseres Körpers und die Informationen unseres Gehirns geformt wird. Dort, wo die beiden aufeinandertreffen, entsteht unsere Wirklichkeit.

    Kristalle mit heilenden Kräften liegen während einer Feier zur Wintersonnenwende in Stonehenge auf einem Stein.

    Foto von Alice Smeets, Laif, Redux

    Haben Sie selbst, nachdem sie all diese Erfahrungen gemacht haben, etwas in Ihrem Leben geändert? Haben Sie eine Empfehlung für unsere Leser?

    Ich bin mit meiner eigenen Beinflussbarkeit mehr im Reinen. In unser aller Leben gibt es Dinge, die wir tun, um uns besser zu fühlen: Wenn ich eine Erkältung habe, trinke ich sprudelnde Getränke und esse Knoblauch – das ist auch eine Art Placebo. Ich gebe mir außerdem Mühe, meine Denkmuster zu ändern, wenn es um körperliche Beschwerden und Schmerzen geht – ich habe mehr Respekt für die Energie, die mein Gehirn in die Verbesserung meiner Gesundheit steckt.

    So lange man die Regeln befolgt, die ich in meinem Buch etabliert habe, kann jeder seinen eigenen Umgang mit diesem Selbstbetrug finden. Manche Menschen finden was sie suchen im Mystischen, andere in hochmoderner Technologie. Jeder hat seinen eigenen Zugang und Dinge, die ihm helfen.

    Ich habe viele alternative Heilmethoden ausprobiert und keine davon weiterverfolgt. Doch meine Anerkennung für Menschen, die darin Antworten finden und mithilfe alternativer Heiler den Placeboeffekt für sich nutzen können, ist gestiegen.

    Das Interview wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

    Es wurde aus Gründen der Länge und Lesbarkeit gekürzt.

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