Traditionelle Indische Medizin: „Blutegel sind als Arznei anerkannt"
Aderlass, Quecksilberbehandlungen, blutiges Schröpfen – traditionelle Heilverfahren sind in Indien bis heute beliebt. In Essen erforscht Thomas Rampp an den Evangelischen Kliniken, welche Methoden wie wirksam sind.
Blutegel werden bereits seit Jahrhunderten bei der Behandlung verschiedener Krankheiten eingesetzt.
Indien befindet sich im Aufbruch und ist ein Land zwischen Tradition und Moderne. Das gilt auch für die indische Medizin. Trotz hochmoderner Kliniken konsultieren Millionen Menschen in Gesundheitsfragen noch immer traditionelle Heiler, deren Wissen teils über Jahrhunderte innerhalb der eigenen Familie weitergegeben worden ist. Ausgebildete Medizinerinnen und Mediziner sind sie meist nicht und die Wirksamkeit einiger Anwendungen ist umstritten, trotzdem ist das Vertrauen vieler Menschen in traditionelle Anwendungen groß. Mittlerweile versucht auch die indische Regierung, Qualitätsstandards für ayurvedische Behandlungen zu etablieren.
Auch in Deutschland gibt es viele Verfechter der traditionellen Medizin. Einer von ihnen ist Dr. Thomas Rampp, Oberarzt und Leiter des Instituts für Naturheilkunde, traditionelle chinesische und indische Medizin an den KEM | Evang. Kliniken Essen-Mitte. Er forscht mit seinem Team zu diesem Thema, das in der Schulmedizin nach wie vor teilweise umstritten ist.
Herr Rampp, was ist in all den Jahren Ihrer Forschung Ihre denkwürdigste Erfahrung in der traditionellen indischen Medizin gewesen?
Forschung hat ja häufig mit Selbsterfahrung zu tun. Auf einer Indienexkursion haben wir für Laboranalysen nach Wildkräutern gesucht. Ein Blutegel hat mich während der Wanderung gebissen und die Bissstelle hat sich fürchterlich entzündet. Mein Bein war gerötet, schwoll dick an und ich bekam Fieber. In meiner Not ging ich in ein lokales Ambulatorium. Für die Zubereitung der Arznei verschwand der Ayurveda-Arzt auf der Kuhweide hinter dem Gebäude, sammelte Kuhurin und hat ihn in einem Behälter mit Pulver und Kräutern vermischt. Diese Paste hat er mir dann auf’s Bein geschmiert. Man konnte regelrecht zusehen, wie die Schwellung und das Fieber zurückgingen. Das war wirklich phänomenal.
Traditionelle Indische Medizin hat nicht nur Fans. Viele kritisieren, es gebe zu wenig fundierte Studien. Was ist der neueste Stand der medizinischen Forschung zu traditioneller Indischer Medizin?
Insgesamt gibt es noch nicht so viele Studien, wie wünschenswert wären. Auch wenn durchaus die Möglichkeit besteht, authentisches Ayurveda mit modernen wissenschaftlichen Methoden zu beforschen. Aber hierfür fehlen oft die erforderlichen Forschungsgelder. Eine Studie aus dem Jahr 2011, an der die University of California, Los Angeles, beteiligt war, zeigt die Wirksamkeit ayurvedischer Behandlungen bei entzündlichem Gelenkrheuma.
Eine weitere wissenschaftliche Arbeit, die an der Freien Universität Berlin durchgeführt wurde, hat die Wirksamkeit von Ayurveda bei schmerzhafter Kniegelenkarthrose belegt.
Auch Sie forschen zu dem Thema. Was sind die Ergebnisse Ihrer Forschung?
In einer klinischen Studie zu Rückenschmerzen, die wir hier an den Kliniken durchgeführt haben, konnten wir zeigen, dass externe Anwendungen aus dem Ayurveda einen deutlich schmerzlindernden Effekt haben. Weitere Studien mit längerer Beobachtungsdauer müssen diese Ergebnisse noch bestätigen.
Eine der vielen Praktiken ist der Aderlass, bei dem traditionelle Heiler und Heilerinnen die Gliedmaßen ihrer Patienten mit Rasierklingen anritzen und kontrolliert Blut abfließen lassen. Funktioniert das wirklich?
Schon die Säftelehre der alten Griechen hat postuliert, dass sich schlechtes Blut in den Adern stauen kann und man reinigende Maßnahmen durchführen kann, um das schlechte, gestaute Blut aus dem Körper herauszulassen. In manchen Ländern wird das bis heute so gemacht, zum Beispiel in Japan. Und auch in unserer mittelalterlichen Medizin war Aderlass quasi das Kardinalmittel.
Schlechtes Blut?
Übersetzt in unsere moderne Schulmedizin ist das ein schlecht oxygeniertes, also sehr sauerstoffarmes, Blut. Wenn Sie das durch sauerstoffreiches Blut ersetzen, bewirken Sie einen besseren Stoffwechsel. Dazu gibt es bisher allerdings ganz wenig Forschung. Aber es ist auf jeden Fall ein über die Jahrhunderte gewachsenes System.
Eine feste Säule traditioneller indischer Medizin sind bis heute die Behandlungen mit Blutegeln. Wie funktioniert das genau?
Der Speichel des Blutegels enthält einen regelrechten Enzymcocktail, der durchblutungsfördernd, entzündungshemmend und schmerzlindernd sein kann. Mittlerweile sind mehr als hundert Enzyme bekannt. Hinzu kommt die Aderlass-Komponente: Wenn man den Egel an bestimmten Körperstellen ansetzt, kann das gestaute, ‚schlechte’ Blut den Körper verlassen und durch sauerstoffreiches Blut ersetzt werden.
Inwiefern sind solche Blutegelbehandlungen schulmedizinisch belastbar?
Wenn man bestimmte Kriterien einhält, dann können Blutegel auf jeden Fall eine Option sein. In Europa werden Egel nach standardisierten Vorgaben in speziellen Farmen gezüchtet und sind als Arzneimittel anerkannt. Dementsprechend streng werden sie auch kontrolliert und überwacht. In Indien werden Egel allerdings wild gefangen, insofern sind die Standards nicht vergleichbar. Trotzdem leistet die Blutegeltherapie in Indien einen wichtigen Beitrag in der medizinischen Versorgung der Bevölkerung. Beispiele der erfolgreichen Anwendung sind das Wundmanagement, diverse Schmerzsyndrome, Probleme im venösen System, Hautprobleme und vieles mehr.
Auch das blutige Schröpfen ist in Indien bis heute weit verbreitet. Wie kann man sich diese Schröpfart vorstellen?
Dabei geht es um das Nutzen der Reflexzonen der Körperoberfläche. Nehmen wir beispielsweise an, dass Patienten eine Lebererkrankung haben, dann wissen die Heilkundigen, wo sich die Reflexzone der Leber an der Körperoberfläche befindet. An genau dieser Stelle platzieren sie den Schröpfkopf für den Unterdruck und nehmen eine Ritzung der Haut vor, um Säfte, die die Leber belasten, an die Körperoberfläche zu holen.
Und dieses aufgesetzte Glas füllt sich durch die Ritzung mit Blut?
So ist es. Blut, Lymphflüssigkeit und alles, was sich im Gewebe befindet, sammelt sich im Glas. Anhand der Farbe und Konsistenz ziehen die Heilkundigen dann Rückschlüsse auf den Zustand der Patienten.
Vor allem in der Metropolregion Delhi sind sogenannte Unani-Behandlungen verbreitet, bei der sehr ungewöhnliche Stoffe verwendet werden. Was ist Unani genau?
Es mag unvorstellbar klingen, aber dabei werden Schwermetalle verwendet, vor allem Quecksilber. Man nennt dieses Vorgehen „Rasa Shastra“. Im Mittelalter wurden vor allem Syphiliskranke mit Quecksilberbädern behandelt und sind reihenweise an den Behandlungen gestorben. Aber offenbar macht die Dosis das Gift.
Aber Quecksilber ist doch hochgiftig. Wie kann das gutgehen?
Offenbar schaffen es einige Heilkundige, dass sich die Wirkung von Quecksilber durch die richtige Zubereitung verändert. In der Schulmedizin könnte man das mit Nanopartikeln vergleichen. Diese Partikel sind dann für den Organismus weniger giftig und können die Wirkung von Arzneimitteln, die im Zusammenspiel mit diesem Schwermetall verwendet werden, verbessern. Wissenschaftlich ist das allerdings noch sehr schlecht erforscht und die genauen Funktionsweisen verstehen wir bis heute nicht.
Behandlungen mit Schwermetallen sind sehr umstritten, in der jüngeren Vergangenheit hat es nachweislich und mehrfach schwerwiegende Vergiftungen gegeben. Wie schätzen Sie solche Vorfälle ein?
Hierbei muss man unterscheiden zwischen Heilkundigen aus der Unani-Tradition, die bei sachgerechtem Vorgehen tatsächlich in der Lage zu sein scheinen, Arzneimittel mit Hilfe von Metallen verträglicher oder besser wirksam zu machen. Im Gegensatz dazu sind mit Schwermetallen belastete Medikamente aus Indien oder Sri Lanka kritisch zu bewerten. Es ist deshalb unerlässlich, dass Medikamente aus Indien sorgfältig hergestellt sind und dass diese systematisch auf Verunreinigungen und Belastungen wie zum Beispiel Schwermetalle, Pestizide oder Mikroben getestet werden.
Welche Behandlungen traditioneller Indischer Medizin wenden Sie selbst in Deutschland an?
Sämtliche Therapieoptionen der Ayurvedischen Medizin. Durchgeführt werden die Therapien unter der Leitung von Dr. Kumar, einem Ayurveda-Arzt in fünfter Generation. Unterstützt wird unser Team immer wieder durch Gastärzte und Gast-Wissenschaftler. Unter anderem durch Siddha-Ärzte, die mit sogenannten Marma-Punkten, also Vitalpunkten, arbeiten.
Was kann die moderne europäische Schulmedizin von der traditionellen indischen Medizin lernen?
Dr. Thomas Rampp ist Oberarzt und Leiter des Instituts für Naturheilkunde, traditionelle chinesische und indische Medizin an den KEM | Evang. Kliniken Essen-Mitte.
Definitiv Geduld. In traditionellen Heilanwendungen schluckt man keine Pille und hofft auf Heilung, es ist immer ein Prozess. Auf manche Anwendungen werden Patienten und Patientinnen wochenlang vorbereitet. Dabei spielt vor allem Ernährung eine Rolle. Sie werden niemals einen traditionellen indischen Arzt verlassen, ohne dass er Ihnen ein Ernährungskonzept mit an die Hand gegeben hat. Das spielt in Europa meist eine sehr, sehr untergeordnete Rolle.
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