Winterspeck – sind wir alle Opfer der Evolution?

Stetige Gewichtszunahme ist längst kein Winterphänomen mehr. Und doch scheint uns das kalte Wetter zu reichhaltigerem Essen zu verführen. Warum eigentlich: Ist der „Winterspeck“ ein unnötiges Überbleibsel der Evolution – oder sollten wir ihn begrüßen?

Von Isabella Neber
Veröffentlicht am 13. Dez. 2021, 10:59 MEZ
Eichhörnchen frisst Nuss im Schnee

Tiere bauen zusätzliches Fettgewebe auf, um das beschränkte Nahrungsangebot im Winter zu kompensieren. Betrifft das auch noch den Menschen?

Foto von Stock.adobe.com, Mr Twister

Wird es draußen kalt und nass, verändern sich bei den meisten Menschen auch die Essensvorlieben. Ein deftiger Eintopf nach einem kurzen Winterspaziergang scheint uns nun passender als ein gemischter Salatteller nach einer langen Radtour im Sommer. Bei weniger Bewegung und höherer Kalorienaufnahme ist es nicht verwunderlich, wenn sich dies auch im Gewicht niederschlägt. Pünktlich zum neuen Jahr scheint dann das schlechte Gewissen zuzuschlagen: Die Suchanfragen für kalorienarme Rezepte zum Abnehmen steigen sprunghaft an und es erfolgen deutlich mehr Anmeldungen in den Fitnessstudios. Dem Winterspeck wird der Kampf angesagt.

Woher kommt der Winterspeck?

Dabei ist der Winterspeck aus evolutionsbiologischer Sicht für den Körper stets von Nutzen gewesen. Fettgewebe wird aufgebaut, um das beschränkte Nahrungsangebot im Winter zu überstehen. Noch vor 250 Jahren waren die Menschen auch in unseren Breitengraden noch sehr stark von den Jahreszeiten abhängig. Die Haupterntezeit lag im Spätsommer und Herbst, auch das Vieh wurde noch vor dem Winter geschlachtet, damit man es über die ertragsschwachen Monate nicht füttern musste. „Der evolutionsbiologische Nutzen von Energiereserven in Form von Speck war immer da. Er ist es noch immer in den vielen Regionen, in denen auch heute immer wieder Hungerphasen auftreten,“ erklärt Ernährungswissenschaftler und Buchautor Dr. Malte Rubach gegenüber NATIONAL GEOGRAPHIC. Laut Welthunger-Index 2021 wird etwa die Hungerlage in Somalia heute als gravierend eingestuft, in neun weiteren Ländern sehr ernst. Im Jahr 2020 hungerten weltweit bis zu 811 Millionen Menschen, also ein Zehntel der Menschheit.

Studie belegt Gewichtszunahme über die Feiertage

Anders sieht es in Wohlstandsländern aus. Hier ist es das Übergewicht, das eine immer besorgniserregendere Rolle einnimmt. Laut Ärzteblatt leiden in Deutschland schätzungsweise 25 Prozent der Erwachsenen an Adipositas. „Stetige Gewichtszunahme ist schon längst kein Winterphänomen mehr bei uns,“ erklärt Dr. Rubach. Doch nach dem Jahreswechsel scheint es uns am meisten bewusst zu werden: „Das Jahr geht zu Ende, die Menschen haben gegessen und das Jahr mit seinen Höhen und Tiefen hinter sich gebracht. Im Januar wollen dann alle den vermeintlichen Winterspeck wieder loswerden – ein Paradoxon für jeden Ernährungswissenschaftler.“

Deftige Mahlzeiten mit Fleisch und Wurstwaren sind im Winter besonders beliebt.

Foto von Stock.adobe.com, Sinisa Botas

Im Rahmen einer Studie untersuchte ein internationales Forscherteam die Gewichtszunahme von fast 3000 Studienteilnehmer über wichtige Feiertage in drei wohlhabenden Ländern. Besondere Beachtung fanden Thanksgiving in den USA, Weihnachten in Deutschland und die Goldene Woche in Japan, in der zwischen 29. April und 5. Mai gleich mehrere nationale Feiertage wie der Tag der Verfassung oder der Tag der Kinder liegen.

Tatsächlich konnte das Team in allen drei Ländern die stärkste Gewichtszunahme im Jahresverlauf rund um die Feiertage erkennen. So lag das Gewicht der deutschen Studienteilnehmer zehn Tage nach Weihnachten bereits um 0,6 Prozent über dem Gewicht, das zehn Tage vor Weihnachten gemessen wurde – somit die stärkste Gewichtszunahme im Jahresverlauf. Alleine in der Zeit um Weihnachten nahmen deutsche Studienteilnehmer etwa ein Prozent ihres festgestellten Minimalgewichts zu, das in den Sommermonaten gemessen werden konnte. Deutliche Gewichtszunahmen wurden auch rund um andere große Feiertage im Jahr wie Ostern festgestellt, jedoch nicht so stark wie in der Weihnachtszeit.

Kälte, Essen, Bewegungsmangel – wer ist schuld am Winterspeck?

Die von vielen gefürchtete Gewichtszunahme in der kalten Jahreszeit scheint neben der evolutionären Veranlagung unseres Körpers, Reserven einzuspeichern, durch weitere Faktoren begünstigt zu werden. „Während man im Sommer gerne zu saisonalem Obst und Gemüse greift, essen wir im Winter lieber etwas deftiger“, so Dr. Rubach. Auch das Angebot an süßen Leckereien ist in der Zeit rund um Weihnachten besonders groß und wird in Supermärkten prominent platziert.

Die Lust auf mehr Kohlenhydrate in der kalten Jahreszeit hängt ebenfalls mit dem Absinken des Serotoninspiegels zusammen. Fehlt uns im Winter das Tageslicht, geht auch die Produktion des Stimmungsaufhellers Serotonin zurück. Der Botenstoff Melatonin, der uns müde und antriebsarm macht, nimmt zu. Schokolade, aber auch Fleisch, Käse, Fisch, Hülsenfrüchte und Nüsse enthalten die Aminosäure Tryptophan, aus der im Gehirn der Stimmungsaufheller Serotonin gebildet wird. Eine deftige Mahlzeit unterstützt also durchaus auch im Kampf gegen den Winterblues.

BELIEBT

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    Dr. Malte Rubach ist Ernährungswissenschaftler und Buchautor. Zuletzt erschienen die Bücher „Magic Eating“ (Knaur Verlag) und „Die Ökobilanz auf dem Teller“ (Hirzel).

    Foto von Ingolf Hatz

    „Es spricht überhaupt nichts dagegen, im Winter leckere Eintöpfe, Suppen oder auch mal einen Braten zu essen,“ meint der Ernährungsexperte. „Der alte Ernährungsspruch, dass der halbe Teller aus Gemüse bestehen sollte, ist aber nach wie vor ein guter Richtwert.“

    Ein weiterer guter Tipp vom Experten, um den vielen herzhaften und süßen Versuchungen in der kalten Jahreszeit nicht völlig ausgeliefert zu sein: Mikro-Intervallfasten. „Das bedeutet einfach, dass man nach jeder Mahlzeit oder nach jedem Snack zwei bis drei Stunden Zeit vergehen lässt ohne etwas zu essen. So gibt man dem Körper die Gelegenheit, das, was man gegessen hat, zu verstoffwechseln“, erklärt Dr. Rubach. Eine gute Hilfe sei es, sich sogar einen Timer zu stellen. Wenn man diese Tipps über das ganze Jahr beherzigt, spielt auch eine geringe Gewichtszunahme über die Weihnachtszeit keine allzu große Rolle.

    „Tatsächlich kann die Gewichtsdifferenz auf der Waage von Tag zu Tag um etwa zwei Kilogramm schwanken“, so der Experte. Dies liege in erster Linie an Verdauungsprozessen, dem Wasserhaushalt, Alter, Geschlecht und aktuellen Lebensumständen.

    Das Immunsystem braucht Energie

    Im Rahmen der Evolution ist unser Körper auch heute noch so programmiert, dass er die Nahrung optimal verwertet und Reserven einspeichert, um auf Hungerperioden reagieren zu können. Dies mache durchaus noch Sinn, meint der Ernährungsexperte Dr. Rubach: „Unser Immunsystem kann ein riesiger Energiefresser werden, wenn es beschäftigt ist. Schon eine kleine Infektion wie eine leichte Erkältung im Winter steigert den Basisenergiebedarf um acht Prozent.“ Eine kleine Reserve kann also überlebenswichtig sein. Wer krank ist, müsse daher auch bei Appetitlosigkeit dafür sorgen, dass er genug Energie aufnimmt. Als besonders gesunden Energielieferanten nennt der Experte Pflanzenöle: „Ein wenig Pflanzenöl über das Essen liefert gute Energie mit wertvollen Fettsäuren.“ Dafür könne man beim Kochen auf etwas Öl oder Fett verzichten.

    Aus evolutionsbiologischer Sicht hat der Mensch also durchaus eine Ausrede parat, warum er in der kalten Jahreszeit meint, mehr und deftiger essen zu müssen. Wer sich jedoch über das Jahr hinweg ausgewogen und gesund ernährt, braucht auch den sogenannten Winterspeck nicht zu fürchten.

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