Die Kraft der Schimpfwörter: Warum Fluchen gesund ist

Fluchen lässt einen Menschen nicht unbedingt höflich erscheinen, hat aber überraschend positive Effekte: Es lindert Schmerzen und stärkt Beziehungen. Die Wissenschaftlerin Emma Byrne hat darüber ein Buch geschrieben.

Von Simon Worrall
Veröffentlicht am 30. Dez. 2021, 14:38 MEZ
Schimpansen, denen Wissenschaftler Zeichensprache beigebracht haben, fanden einen Weg, zu fluchen.

Schimpansen, denen Wissenschaftler Zeichensprache beigebracht haben, fanden einen Weg, zu fluchen.

Foto von Cyril Ruoso, Minden Pictures, Nat Geo Image Collection

 

Fluchen gilt gemeinhin als anstößig, unhöflich und unzivilisiert. Doch Emma Byrne beruft sich in ihrem Buch Swearing is Good for You: The Amazing Science of Bad Language auf aktuelle Forschungsergebnisse, die zeigen, dass Profanität auch ihre positiven Seiten haben kann: von der Stärkung von Beziehungen und besserem Teamwork im Job bis hin zur Linderung von Schmerzen.

National Geographic traf die Autorin in ihrem Zuhause in London und sprach mit ihr darüber, warum Menschen nicht die einzigen Primaten sind, die Schimpfwörter benutzen, und warum das Fluchen noch immer als „unweiblich“ gilt, obwohl Frauen schon immer so oft geflucht haben wie Männer.

Emma Byrne – Swearing is good for you (2018)

Mit freundlicher Genehmigung von W.W. Norton & Company

Sie schreiben, dass Sie „in gewisser Weise stolz auf ihr Talent für besonders bildhaftes Fluchen“ sind. Welche Beziehung haben Sie zu Schimpfwörtern und in welcher Hinsicht sind diese gut für uns?

Zum ersten Mal wurde ich für das Benutzen eines Schimpfworts bestraft, als ich meinen kleinen Bruder twat nannte. Damals dachte ich, das Wort wäre nur eine seltsam ausgesprochene Form des Wortes twit [Anmerkung: Beide Worte sind im Englischen Beleidigungen, das erste Wort ist jedoch sehr viel derber]. Ich muss damals ungefähr acht Jahre alt gewesen sein, mein Bruder ging noch zur Vorschule. Als meine Mutter mich hörte, verpasste sie mir links und rechts eine Ohrfeige. In diesem Moment verstand ich, dass es Worte gab, die sehr viel mächtiger waren als andere, und dass sich durch die schlichte Verschiebung eines Vokals die emotionale Wirkung eines Wortes komplett wandeln konnte.

Dinge, für die ich mich eigentlich nicht interessieren durfte, haben mich immer besonders neugierig gemacht – deswegen bin ich beruflich auch in der Männerdomäne der Künstlichen Intelligenz gelandet. Es ist tief in meiner Persönlichkeit verankert, dass, wenn jemand sagt, etwas sei nicht für mich bestimmt, ich es erst recht wissen oder haben will.

Meine Neigung zum Fluchen ist ein Beispiel dafür. Ich benutze oft Schimpfwörter, um mich meinen männlichen Kollegen anzupassen. Sie helfen mir dabei, nicht zum Außenseiter zu werden, nur weil ich einem anderen Geschlecht angehöre.

Es gibt eine tolle Studie aus Australien und Neuseeland, die zeigt, dass scherzhaftes Necken und insbesondere Fluchen unter Freunden deutliche Hinweise darauf sind, dass zwischen diesen Freunden starkes Vertrauen besteht. Wenn man sich diese Fälle ansieht und ähnliche Studien über effiziente Teamarbeit in der Herstellung oder Informationstechnik, erkennt man schnell, dass die, die miteinander Witze machen, die die Grenzen der Höflichkeit überschreiten – und da ist Fluchen mit inbegriffen –, ein großes Vertrauen zueinander zu haben.

Das hängt vermutlich damit zusammen, dass Fluchen sich auf emotionaler Ebene auswirkt. Man zeigt damit, dass man sich mit dem Gegenüber ausreichend beschäftigt hat, um einschätzen zu können, wo für ihn die Grenze zwischen derbem Spaß und gemeiner Beleidigung verläuft. Das ist ein äußerst schmaler Grat. Wenn es gelingt, nur die Schimpfwörter zu benutzen, die für die andere Person akzeptabel sind, ist das ein Beweis dafür, dass man sie kennt und ihr mentales Modell versteht.

BELIEBT

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    Sie wurden zu Ihrem Buch von einer Studie von Dr. Richard Stephens inspiriert. Erzählen Sie uns bitte etwas über sein Experiment und warum es für unser Verständnis vom Fluchen von Bedeutung ist.

    Richards Stephens ist Verhaltenspsychologe an der University of Keele in Newcastle in England. Er interessiert sich besonders für die Frage, warum wir Dinge tun, vor denen wir eigentlich gewarnt wurden. Über Jahre vertrat man in der Medizin die Meinung, dass Fluchen bei Schmerzen kontraproduktiv sei, weil es dazu führe, dass man sich auf diese negative Sache konzentriert. Richard Stephens fragte sich also, warum wir es trotzdem tun, wenn es doch so schlecht für uns ist.

    Den ersten Versuch führte er mit 67 Freiwilligen durch, wobei er das Experiment später noch mehrere Male wiederholte. Die Probanden mussten ihre Hände in Eiswasser halten, vorher war nach dem Zufallsprinzip bestimmt wurde, wer fluchen durfte und wer nicht. Dann wurde gemessen, wie lang jeder Teilnehmer seine Hand im Wasser halten konnte. Der Vergleich der Ergebnisse zeigte, dass die Zeit, die verging, bis die fluchenden Teilnehmer ihre Hand aus dem Wasser zogen um 50 Prozent länger war als bei der anderen Gruppe. Zu fluchen, wenn man Schmerzen hat, ist also alles andere als kontraproduktiv. Im Gegenteil: Es hilft sogar dabei, Schmerzen länger auszuhalten.

    Fluchen Männer traditionell mehr als Frauen? Wenn ja, warum?

    Absolut nicht! Englischen Sprachhistorikern zufolge haben Frauen in der Vergangenheit ähnlich viele Beleidigungen und Schimpfwörter benutzt wie Männer. Das änderte sich, als im Jahr 1673 ein Buch von Richard Allestree mit dem Titel The Ladies Calling erschien. In diesem stand, dass fluchende Frauen sich auf eine Weise verhielten, die mit dem Frausein biologisch nicht kompatibel sei. Sie würden demnach männliche Merkmale wie Gesichtsbehaarung entwickeln und unfruchtbar werden. Richard Allestree schrieb: „Es gibt kein Geräusch, das in den Ohren Gottes widerwärtiger klingt als ein Schimpfwort aus dem Mund einer Frau.“

    Es ist entsetzlich, aber es ist nach wie vor so, dass fluchende Männer akzeptabel sind und fluchende Frauen anstößig. Man meint zwar, Frauen würden seltenerer und weniger Schimpfwörter verwenden als Männer, aber Studien haben gezeigt, dass das nicht der Fall ist. Einstellungsbezogene Umfragen belegen jedoch, dass sowohl Frauen als auch Männer das Fluchen bei Frauen härter verurteilen – und das kann schwerwiegende Folgen haben. Wenn zum Beispiel eine Frau, die an Brustkrebs oder Arthritis erkrankt ist, deshalb flucht, ist es sehr viel wahrscheinlicher, dass sie dadurch Freunde verliert – insbesondere weibliche. Benutzt aber ein Mann Schimpfwörter, wenn er zum Beispiel über seinen Hodenkrebs spricht, bringt ihnen das seinen männlichen Freunden sogar näher, weil sie ein ähnliches Vokabular verwenden. Für Frauen sind die Grenzen, innerhalb derer es ihnen erlaubt ist, negative Emotionen mit Schimpfwörtern auszudrücken, einfach viel enger gesteckt.

    Sehr faszinierend ist, dass nicht nur Menschen, sondern auch andere Primaten fluchen. Erzählen Sie uns etwas mehr über das Project Washoe.

    Schimpansen in freier Wildbahn benutzen ihre Exkremente, um ihr Territorium zu markieren – und ihren Unmut über etwas auszudrücken. Soll ein Primat Zeichensprache lernen, muss er erst stubenrein sein. Ähnlich wie bei kleinen Menschenkindern werden Fäkalien im Laufe dieses Prozesses auch bei Primaten zu einem Tabu. In der Project Washoe-Zeichensprache wurde das Wort „schmutzig” mit einer Geste ausgedrückt, bei der die Knöchel der Hand an die Unterseite des Kinns gehalten werden. Ohne dass die Wissenschaftler darauf Einfluss genommen hätten, begannen die Schimpansen, dieses Zeichen in Situationen einzusetzen, in denen Menschen wahrscheinlich ein fäkales Schimpfwort verwendet hätten.

    Das Schimpansenweibchen Washoe wurde in den späten Sechzigerjahren von einem Forscher namens Roger Fouts aufgenommen. Sie war die Matriarchin in einer Gruppe von Schimpansen, zu der noch drei jüngere Tiere gehörten: Loulis, Tatu und Dar. Als die Jüngste, Loulis, zu der Gruppe stieß, hatten die Wissenschaftler damit aufgehört, den Tieren Zeichensprache beizubringen. Jetzt wollten sie herausfinden, ob die Schimpansen die erlernte Sprache untereinander und von Generation zu Generation weitergeben würden – was tatsächlich der Fall war.

     

    Koko der Gorilla nutzt Gebärdensprache (1981)
    Die Gorilladame Koko starb im Juni 2018 im Schlaf. 1981 drehte National Geographic eine Dokumentation über Koko und ihre bemerkenswerten Fähigkeiten.

    Sobald die Tiere das Fäkalien-Tabu erlernt und das Zeichen für „schmutzig“ als etwas Beschämendes verstanden hatten, nutzten sie es wie ein Schimpfwort zur Warnung oder als Ausdruck für Ärger. Wenn Washoe oder die anderen Affen richtig wütend waren, schlugen sie ihre Knöchel gegen die Unterseite des Kinns, sodass ihre Zähne ein klackendes Geräusch machten, wenn sie aufeinanderstießen.

    Im Zorn sagten sie in Zeichensprache „Schmutziger Roger!“ oder „Schmutziger Affe!“, ohne dass ein Mensch ihnen das beigebracht hätte. Sie hatten einzig und allein das Tabu verinnerlicht, ein Zeichen damit verbunden und dadurch diese extrem mächtige Sprache erschaffen, mit der man einfach um sich werfen konnte – so wie wilde Schimpansen es mit ihren Fäkalien tun.

    Sie sagen „Fluchen ist ein Stimmungsbarometer, der Kanarienvogel im Bergwerk, der uns warnt, wenn die Grenzen der sozialen Tabus erreicht sind“. Können Sie das genauer erläutern und erklären, welche Veränderungen es in diese Hinsicht gab?

    Ein gutes Beispiel hierfür ist Blasphemie. In den USA gibt es zwar noch immer gewisse Orte, an denen man in Bezug auf die Christlichkeit sehr vorsichtig ist, generell kann man aber sagen, dass Worte, die früher zensiert worden wären, heute problemlos in den Medien verwendet werden können. Auf der anderen Seite steht das N-Wort, das früher sogar in Kinderliedern vorkam, heute aber ein Tabu geworden ist. Es gibt inzwischen ein stärkeres Bewusstsein für seinen schmerzhaften Ursprung und die Jahrhunderte des Rassismus, unter denen der afro-amerikanische Teil der Bevölkerung leiden musste und muss. Die Gemeinschaften, die das Wort nutzen, sagen, dass sie es quasi zurückerobert haben und sich vor seiner negativen Wirkung schützen, indem sie es selbst verwenden.

    Es ist ein Beispiel für ein Wort, das einst in der Literatur und dem öffentlichen Sprachgebrauch fest verankert war und inzwischen unsagbar geworden ist. Weil es so spaltend ist, unterscheidet es sich von anderen geläufigen Schimpfwörtern, die einen sexuellen oder fäkalen Ursprung haben. Das Schöne an diesen ist, dass ihr Hintergrund in der Natur aller Menschen auf der ganzen Welt zu finden ist.

    In der digitalen Welt kann man heute jemanden beschimpfen, ohne ihm ins Gesicht sehen zu müssen. Verändert sich dadurch die Art, wie wir fluchen? Wie wird das Fluchen in der Welt von morgen sein?

    Dass Fehlen der Mimik ist eines der größten Probleme von Streitigkeiten, die online ausgetragen werden: Es entmenschlicht. Doch das eigentliche Problem sind nicht die Schimpfwörter, sondern das Entwerten von Menschen basierend auf ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts und ihrer Sexualität unter Zuhilfenahme zivilisierter Sprache. Donald Trump hat Hillary Clinton zum Beispiel „a nasty woman [eine scheußliche Frau]“ genannt. Er hätte auch andere, derbere Schimpfwörter nutzen können. Das hat er aber nicht getan und das musste er auch nicht, weil die meisten von uns auch so verstanden haben, was er eigentlich meint. Da er aber nicht direkt ein Schimpfwort verwendet hat, war seine Ausdrucksweise im Diskurs akzeptabel.

    Ich denke, das Fluchen wird zwangsläufig neu erfunden werden – allein in den letzten Jahren hat es sich stark gewandelt. Jedes Mal, wenn sich die gesellschaftlichen Tabus ändern, erhält unsere Sprache neues Potenzial, uns zu überraschen, zu schockieren oder zu erstaunen. Und jedes Mal verändert sich dadurch auch die emotionale Seite unseres Gehirns ein wenig. Aber welche alten Tabus verschwinden und welche neuen dazukommen werden – das kann ich leider nicht voraussagen.

    Dieses Interview wurde aus Gründen der Lesbarkeit gekürzt und ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht

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