Es ist zu laut: Die gefährlichen Folgen von Lärm

Quietschende Reifen, Baustellenlärm und Kindergeschrei können nicht nur nerven, sondern auch krank machen – wie zahlreiche Studien belegen.

Laute Geräusche umgeben uns täglich – und können krank machen. Wenn uns der Lärm zu viel wird, reagiert der Körper. Das Resultat reicht von dauerhaften Gehörschäden bis hin zu permanentem Lärmstress, der zum Beispiel Herz-Kreislauf-Erkrankungen auslösen kann.

Foto von ohurtsov / Pixabay
Von Anna-Kathrin Hentsch
Veröffentlicht am 19. Juli 2022, 11:35 MESZ

Bereits vor über 100 Jahren beklagte der deutsche Philosoph Theodor Lessing die Lärmbelastung in der Stadt. Die „Qual und Pein“ des „unerschöpflichen Gelärms“ veranlasste ihn 1908 zur Gründung des ersten Deutschen Anti-Lärm Vereins.

In seinem Buch Der Lärm. Eine Kampfschrift gegen die Geräusche unseres Lebens klagt Lessing über rasselnde Maschinen und Bäckerkarren, die ständig vorüber rollen. Er beschwert sich über die feilschenden Menschen in den Gassen, rammelnde Handwerker und sich prügelnde Kinder. Der Lärm raubt dem Autor Energie und Schlaf: „Alle seelische Kraft wird zur Überwindung dieser ewigen Spannungen verbraucht. Der Mangel an gesundem, tiefem Schlaf zerrüttet unsre Nerven.“

Was Lessing vor über hundert Jahren als subjektive Schilderungen niederschrieb, hat die Forschung inzwischen mit Daten belegt: Eine dauerhafte Lärmbelastung, wie sie insbesondere in Ballungsräumen vorkommt, ist nicht nur laut und nervig – sie kann auch gefährliche gesundheitliche Folgen haben.

“Es gibt genug gute Gründe, Lärm in seiner gesamten Ausprägung als gefährlich anzuerkennen.”

von Philip Leistner

Wann wird Lärm gefährlich?

In einer Umfrage des Umweltbundesamts aus dem Jahr 2020 gaben 76 Prozent der Befragten an, sich in ihrem Wohnumfeld durch Straßenverkehr gestört oder belästigt zu fühlen. Für 57 Prozent sorgten Geräusche der Nachbar:innen für Beeinträchtigungen, gefolgt von Flug- und Schienenverkehr. 88 Prozent der Bürger:innen waren mehr als einer der Lärmquellen ausgesetzt.

Wenn aus Schall Lärm wird, reagiert der Körper. Abhängig von der Lautstärke kann Lärm aurale Wirkungen verursachen, die das Gehör beeinträchtigen. Je nach Intensität und Dosis können akute und chronische Hörschwellenverschiebungen, also dauerhafte Gehörschäden die Folge sein. „Die Lärmschwerhörigkeit zählt nach wie vor zu den relevanten Berufskrankheiten, da es immer noch viele laute Arbeitsplätze gibt“, erklärt Philip Leistner, Direktor des Instituts für Akustik an der Universität Stuttgart. „Aber auch zu lautes und häufiges Musikhören kann dazu führen.“

Daneben gibt es eine breite Palette extra-auraler Lärmwirkungen. Eine Studie des Robert-Koch-Instituts belegt gesundheitsschädigende Effekte, die nicht durch einen hohen Schallpegel hervorgerufen werden, sondern durch Schall, der immer wieder über einen langen Zeitraum auf den menschlichen Organismus einwirkt. „Diese Wirkungen betreffen nicht direkt das Gehör, treten aber vielfach auf und sind weit verbreitet“, so Leistner. „Dazu gehören Störungen des Schlafs, der Aufmerksamkeit und der Kommunikation. Auch der durch Lärm verursachte Ärger und ausgelöste Stress gehören in diese Kategorie.“ Zahlreiche Studien bringen permanenten Lärmstress mit Herz-Kreislauf- und Gefäßerkrankungen in Verbindung. „Es gibt genug gute Gründe, Lärm in seiner gesamten Ausprägung als gefährlich anzuerkennen.“

BELIEBT

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    Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzte 2011, dass im westlichen Teil Europas „jährlich mindestens eine Million gesunde Lebensjahre durch Verkehrslärm verloren“ gehen. „Daher wird Lärmbelästigung nicht nur als Umweltbeeinträchtigung, sondern auch als Gefahr für die öffentliche Gesundheit angesehen.“ Gelistet als entscheidende gesundheitliche Folgen werden: ischämische Herzkrankheiten, Schlafstörungen, Tinnitus, kognitive Beeinträchtigungen von Kindern und Gehörschäden, hinzu kommen pränatale Beeinträchtigungen und Fehlgeburten, Auswirkungen auf die Lebensqualität, das allgemeine Wohlbefinden und die mentale Gesundheit, sowie metabolische Auswirkungen. Die European Environment Agency (EEA) spricht von verfrühter Sterblichkeit als Folge der Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die dauerhafter Lärm ausgelöst.

    Schutz vor Umgebungslärm

    Als Reaktion auf die alarmierenden Ergebnisse und vielen Wirkungsdimension von Lärm veröffentlichte die WHO 2018 für die Europäische Region neue Leitlinien für Umgebungslärm. Im Bericht des Umweltbundesamtes dazu heißt es: Ziel dieser Leitlinien sei, „die Menschen der europäischen Region umfassend vor den negativen gesundheitlichen Auswirkungen von Umgebungslärm zu schützen“.

    Die Wissenschaft ist alarmiert, es scheint Zeit (politisch) zu handeln. Laut einem Faktenblatt der Europäischen Umweltagentur (EEA) sind 16 Millionen Deutsche einer hohen Lärmbelastung durch Verkehrs- und Industrielärm ausgesetzt, Tendenz steigend. Das ist nicht nur für das Individuum gefährlich, auch auf die Gesellschaft kommen höhere Gesundheitskosten zu.

    Das Umweltbundesamt sieht einen dringenden Überarbeitungsbedarf der bestehenden Vorschriften, insbesondere durch die Erkenntnisse zu den erhöhten Risiken für ischämische Herzkrankheiten. Aktuell relevante Vorschriften in Deutschland geben für tagsüber noch einen Schwellenwert von 70 Dezibel an. Die EEA, wie auch die WHO, sprechen jedoch inzwischen ab 55 Dezibel von einer hohen Lärmbelästigung mit Folgen für die Gesundheit. Die verantwortlichen Wissenschaftler:innen der WHO-Studie fanden bereits bei 40 Dezibel einen Zusammenhang zwischen Straßenlärm und dem relativen Risiko an einer Herzkrankheit zu erkranken.

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    Lärmempfinden ist individuell

    Ein Problem stellt jedoch die einheitliche Messung und Bewertung von Lärmbelästigung dar. Messgeräte zeigen den Lärmpegel zwar präzise in Dezibel an, doch inwieweit die Geräuschkulisse stört, hängt von individuellen Faktoren ab.

    Wie sehr uns Baustellenlärm ärgert, kann von Tag zu Tag unterschiedlich sein. Lärm definiert sich nicht nur physikalisch als zu lauter Schall, sondern bezieht die Perspektive der Betroffenen mit ein. Neben der Lautstärke hängt die Beurteilung als Lärm von der Dauer sowie der Zusammensetzung der Frequenz ab: Handelt es sich um Töne, Rauschen und Klänge oder um informationshaltige Geräusche, wie Sprache oder Signale? Daneben spielen „Disposition und Erfahrung bei der Wirkung des Schalls ebenfalls eine große Rolle“, so Leistner. „Ist es ein vertrautes Geräusch? Entspricht es bestimmten Erwartungen und kann der betroffene Mensch das Geräusch beeinflussen?“ Schließlich komme noch der Kontext hinzu, da die Schallwirkung auch von der jeweiligen Situation und dem Umfeld der Menschen abhänge. Laute Musik wirke im Kontext der heimischen Umgebung und kurz vor dem Einschlafen anders als beim Konzertbesuch. „So bewirken laute Verkehrsgeräusche bei Betroffenen mitunter besondere Effekte, weil sie ihnen hilflos ausgeliefert sind.“

    Die Welt ist nirgendwo ganz leise. Wie laut es wo in Deutschland ist, zeigt die objektive Lärmkarte. Selbst im Wald herrschen bis zu 45 Dezibel. Meeresrauschen bringt es auf bis zu 90 Dezibel, das ist so laut wie ein vorbeifahrender Lastwagen. Doch wieso stört uns das eine Geräusch mehr als das andere?

    Das Gehör ist unser Alarm-Organ, wir können es nicht abschalten, es steht Tag und Nacht in Verbindung mit der Umwelt, um uns vor Gefahren zu warnen. „Geräusche aus der Natur sind uns vertraut. Von ihnen geht kaum eine Gefahr aus und wenn der Schallpegel moderat ist, werden Wind- und Wasserrauschen sowie Stimmen von Menschen oder Tieren kaum zu Beschwerden führen. Es sei denn, sie enthalten alarmierende Informationen wie einen bellenden Nachbarshund“, erklärt Leistner.

    Es sind also vor allem menschlich produzierte Geräusche wie Hupen oder Baustellenlärm, die den Stress erzeugen, der langfristig krank macht. Dezibel-Grenzwerte sind sinnvoll, doch sie alleine treffen noch keine Aussage über die möglichen extra-auralen Folgen.

    Die Zukunft des Lärms

    „Der von Menschen verursachte Lärm musste bislang keine Zukunftsängste haben“, so der Akustikforscher. „Deshalb gilt es mehr denn je, die akustischen Umgebungseinflüsse in nahezu allen Lebensräumen zu erkennen, konkret zu bewerten und in den meisten Fällen geeignet zu behandeln.“ Wie so eine Behandlung von Straßenlärm aussehen könnte, erläutern die WHO-Wissenschaftler in ihrem Bericht. Sie empfehlen „insbesondere Maßnahmen zur Lärmminderung an der Quelle durch regulatorische (eine Regelgeschwindigkeit von 30 km/h im innerstädtischen Raum), technische (die Verwendung lärmarmer Reifen) und bauliche Maßnahmen (der Einbau von lärmmindernden Fahrbahnbelägen)“.

    Für Leistner sollte noch ganzheitlicher gedacht werden: „Es ist ratsam, nicht einzelne Aspekte oder Lebensräume hervorzuheben, sondern eine nachhaltige Gesamtbilanz in den Vordergrund zu stellen.“ Gesicherte Erkenntnisse müssten dafür in verbindliche Regeln und Anreize überführt werden. Die Reihe von Gestaltungskonflikten – zum Beispiel zwischen Mobilität und Ruhebedürfnis, zwischen Wirtschaftlichkeit und Lebensqualität – bedürfe der Investition in neue, praktikable Technologien.

    Er weist darauf hin, dass uns akustisch verursachter Stress nicht nur in der Stadt und durch Verkehr begegnet. „Auch in Unterrichtsräumen oder Sporthallen klagt das Lehrpersonal über Lärmstress, in manchen Fabrikhallen geht es den Menschen genauso, und in Großraumbüros führt die hörbare und verständliche Sprache der anderen Büroinsassen zu Stress, da sie unwillkürlich die Konzentration stört.“ Hier sind die Architekten und Sound Designer in Zukunft gefragt. Denn dass wir heute permanent Lärmquellen ausgesetzt sind, führt zusätzlich zu einer Überbelastung. „Unser Lebensalltag besteht überwiegend aus Informationsverarbeitung, ob in Schulen, bei der Arbeit oder in der Freizeit. Die dauerhafte Konzentration erfordert letztlich eine akustische Erholung in Form von Ruhepausen, die wir zu selten finden oder uns zu selten nehmen“, so der Akustikforscher.

    Solche Orte der Ruhe sind in Städten zum Beispiel Parks, in denen die Bäume viel unerwünschten Schall schlucken. Noise Cancelling-Kopfhörer spenden Erholung und wirken sich positiv auf die Konzentration aus. Architekten und Landschaftsplaner legen vermehrt einen Fokus auf die Klänge von Räumen und kreieren Soundscapes. Einer der besten Orte für Ruhesuchende sind übrigens Bibliotheken – bei stillen 35 Dezibel kam dort sicher auch schon Lessing zur Ruhe.

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