Rettung der Ruhe: Wie Lärm unsere Lebensqualität bedroht

Richtig still ist es eigentlich nie: Was die permanente Alltagsgeräuschkulisse mit Körper und Geist macht, warum wir Stille so schlecht aushalten und beim nächsten Waldspaziergang besser zuhören sollten.

Von Barbara Buenaventura
Veröffentlicht am 5. Juli 2021, 12:56 MESZ
Eine Feder auf einem dunklen See

„Die absolute Stille ist ein unnatürlicher Zustand“, sagt Psychologe Michael Gutmann. „Sie kollidiert mit dem natürlichen Fluss unserer Gedanken, den wir haben, wann immer wir wach sind."

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Es fällt kaum mehr auf – doch fast immer agiert der Mensch vor einer Geräuschkulisse, die sich von leichter Beschallung bis hin zu echter Lärmbelastung erstrecken kann. Umgebungslärm war im Jahr 2020 einem Bericht des Umweltbundesamts zufolge eines der bedeutendsten Umweltprobleme, das sich schädlich auf die Gesundheit auswirken kann. Tinnitus, Herz-Kreislauferkrankungen, Schlafstörungen, sogar Hirnschädigungen können dauerhafter Lärmbelastung zugeschrieben werden. Bereits 2011 bezifferte die WHO die durch Umgebungslärm verlorenen gesunden Lebensjahre erschreckend hoch: „(…) durch Umgebungslärm verlorene 61000 Jahre für ischämische Herzerkrankungen, 45000 Jahre für kognitive Beeinträchtigungen von Kindern und 903000 Jahre für Schlafstörungen, 22000 Jahre für Tinnitus und 587000 Jahre für (allgemeine) Belästigung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und anderen westeuropäischen Ländern“, heißt es im entsprechenden WHO-Bericht.

Zu den störendsten Geräuschen gehört laut Umweltbundesamt Verkehrslärm, von dem sich einer 2018 durchgeführten Umfrage 75 Prozent belästigt fühlen. Auch die WHO beziffert die verlorenen gesunden Lebensjahre durch Verkehrslärm mit 1,6 Millionen Jahren am höchsten. Aber auch Geräusche der Nachbarn gehören zu bedeutenden Lärmverursachern: Rund 60 Prozent der vom UBA Befragten fühlten sich davon in ihrem Wohnumfeld beeinträchtigt. Soweit die Geräuschkulisse im eigenen Zuhause – im Arbeitsumfeld sieht es nicht besser aus: Eine Schweizer Studie identifizierte vor allem den Lärmpegel während der Arbeit als störend, der in Großraumbüros um die 70 Dezibel betragen kann – das entspricht etwa einem Wasserkocher in Aktion. Dieser so genannte „leise Lärm“ schädigt zwar nicht das Trommelfell, dafür aber die Psyche der Betroffenen.

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Wie wirken Geräusche auf die Psyche?

Während das Umweltbundesamt Lärm als „jedes unerwünschte laute Geräusch“ definiert, belasten häufig auch leisere Geräusche wie der laufende Fernseher oder Staubsauger den Menschen – oder eben auch nicht. Denn ob ein Geräusch als störend empfunden wird, ist nicht nur von seiner Lautstärke abhängig, sondern vor allem von der subjektiven Wahrnehmung und der Situation, in der sich die Person empfindet. „Nicht nur der Schalldruck allein macht das Problem aus. Ob ich Geräusche als schlimm erlebe, hat auch mit mir zu tun“, sagt Michael Gutmann, Professor für Gesundheits- und Sportpsychologie an der Privaten Hochschule Göttingen. Die Herausforderung: „Bei visuellen Reizen kann ich die Augen schließen, akustischen Reizen kann ich mich nicht so weit entziehen. Wenn diese Reize mich in meiner Aufmerksamkeit stören, habe ich ein Problem: Sie können mich daran hindern, das zu tun, was ich gerade tun will. Willensbildung und Handlungsablauf werden gestört, eventuell gerate ich in Stress. Hält dieser Zustand an, kann sich dies zu Dauerstress entwickeln, der Folgeschäden nach sich ziehen kann.“

Die Auswirkungen von kontinuierlicher Geräuschbelastung auf die Psyche sind weniger untersucht als die körperlichen Schäden. In einem Positionspapier des Umweltbundesamts aus dem Jahr 2016 heißt es jedoch: „Alle (vorgenannten) Studien weisen auf einen Anstieg psychischer Erkrankungen, insbesondere der unipolaren Depression, bei steigendem Schalldruckpegel hin.“ Besieht man sich die Wirkung von Lärm aufs Gehirn, scheint das logisch: Pausenlos – ob im Schlaf, im Gespräch oder beim augenscheinlichen „Nichtstun“ – reagiert das Gehirn auf Geräusche. Ungewohnter oder auch potenziell belastender Lärm aktiviert die Amygdala, die gemeinsam mit dem Hippocampus emotionale Äußerungen regelt. Vor allem die Entstehung von Angstgefühlen ist hier verankert. Über die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrindem-Achse (HHN-Achse) wird das Stresssystem des Körpers aktiviert – das Resultat ist die Produktion von Kortisol, das ins Blut geschwemmt wird.

Stille wäre für den menschlichen Körper und Geist mehr als nur sinnvoll: Das Gehirn kann in einer reizarmen Phase die zuvor aufgenommenen Reize verarbeiten, die kognitive Entwicklung wird angeregt. 

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Wie der einzelne mit Lärm umgeht, ist von unterschiedlichen Faktoren abhängig, sagt Michael Gutmann, der als sportpsychologischer Betreuer unter anderem Hochleistungssportler berät, die sich auch unter widrigen Bedingungen auf den Wettkampf konzentrieren müssen. „Es ist eine Mixtur von überdauernden und sich verändernden Merkmalen bis hin zu situationsspezifischen Faktoren, bei denen auch der psychische Zustand der Person eine Rolle spielt: Wie ausgeprägt ist etwa die persönliche Kompetenz, sich zu konzentrieren? Das Ausblenden von Faktoren, die ablenkend sind, gelingt zudem mit zunehmendem Alter weniger gut. Außerdem ist die aktuelle Verfassung wichtig: Wer ausgeruht ist, kann vieles besser wegstecken als Menschen, die schlecht geschlafen und nicht alle Kräfte beisammen haben.“

„Absolute Stille ist unnatürlich“

So sehr man sich bei andauernder Lärmbelastung nach Ruhe sehnt – die Vorstellung der totalen Stille ohne jegliche akustische Reize wirkt nicht nur wenig erstrebenswert, sie ist – außerhalb von schallisolierten Räumen – auch nahezu unmöglich: „Die absolute Stille ist ein unnatürlicher Zustand“, sagt der Psychologe. „Sie kollidiert mit dem natürlichen Fluss unserer Gedanken, den wir haben, wann immer wir wach sind. Er wird durch alles gesteuert, was wir wahrnehmen, auch visuell und akustisch. Dezente Hintergrundgeräuschekönnen uns in diesem Fluss begleiten und bestätigen.“

Und doch passiert es, dass man vor lauter Dauerbeschallung gar nicht mehr zur Ruhe kommt: Permanent laufende Fernseher oder Radios, Musik und Videos, die auch unterwegs per Smartphone konsumiert werden können, lenken ab, verhindern Langeweile – und behindern die natürlichen Ruhepausen. „Wir kommen mit Momenten, in denen es keine Anforderungen an uns gibt, immer schlechter klar“, sagt Prof. Gutmann. „Wir suchen zunehmend Input von außen und halten die Augenblicke, in denen nichts zu tun ist, kaum mehr aus. Das hat auch damit zu tun, dass wir stets einen Grundumsatz an Beschäftigung brauchen. Aber wenn man diesen nicht mehr über sich selbst abwickeln kann und immer externen Input braucht, ist das als Entwicklung durchaus besorgniserregend.“

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Dabei wäre Stille für den menschlichen Körper und Geist mehr als nur sinnvoll: Das Gehirn kann in einer reizarmen Phase die zuvor aufgenommenen Reize verarbeiten, die kognitive Entwicklung wird angeregt. Ein 2013 im Fachmagazin Brain Structure & Function veröffentlichter Artikel zeigte die Auswirkungen von auditiven Reizen und ihrer Abwesenheit auf die Nervenzellentstehung im Hippocampus: Stillephasen fördern demnach das Wachstum neuer Zellen in dem für Gedächtnis und Lernfähigkeit verantwortlichen Areal. Die Ergebnisse der Untersuchung, die an Mäusen durchgeführt wurde, sind sicher nicht 1:1 auf das menschliche Gehirn übertragbar. Ein wichtiges Signal zeigte die Studie jedoch ganz klar: dass es im Kopf alles andere als still ist, wenn es außen ruhig wird. Auch Psychologe Gutmann plädiert für mehr Stille in Form von Ruhephasen: „Unser Leben besteht aus Momenten der Entspannung und Anspannung. Nach Phasen, in denen wir körperlich oder mental beansprucht sind, brauchen wir Regeneration. Dazu reicht der Nachtschlaf nicht. Zu den Ruhephasen tagsüber kommen wir aber nicht, wenn wir in Momenten, in denen wir nichts zu tun haben, mit einem externen Input unser System sofort wieder beschäftigen.“ Die Folge: ein Dauerbelastungszustand.  „Hohes Stressempfinden hat nicht immer nur mit Belastungssituationen zu tun, sondern auch damit, dass wir Ruhephasen als solche nicht mehr für uns nutzen können. Es fehlt das Bewusstsein: Tut mir das gut?“

Ruhe statt Stille: Wie wirken Naturgeräusche?

Die positive Wirkung der Natur auf Körper und Seele ist vielfach belegt. Geräusche aus der Natur von Meeresrauschen bis Vogelgezwitscher haben sich auf Meditations- und Achtsamkeitsapps etabliert, die die Konzentration fördern und die Entspannung unterstützen sollen. Solche Programme sind nicht nur für Menschen konzipiert, die vor der totalen Stille zurückschrecken. Studien zufolge profitieren auch Menschen, die übermäßig geräuschempfindlich sind (Hyperakusis), von der dezenten Hintergrundbeschallung, weil sie andere, als unangenehm empfundene Geräusche, überdeckt.

Dr. Michael Gutmann ist Professor für Gesundheits- und Sportpsychologie an der PFH Private Hochschule Göttingen, seit 2010 leitender Psychologe des Deutschen Leichtathletikverbandes (DLV) und freiberuflich als Betreuer für Einzelsportler und Sportverbände tätig.

Foto von PFH Private Hochschule Göttingen

Die US-Organisation Quiet Parks International hat es sich zum Ziel gemacht, Orte der Ruhe in der Natur zu etablieren und zu schützen – möglichst in jedem Land der Erde: Von Wildparks über Stadtparks bis hin zu Wanderwegen werden von der Organisation Ruheoasen zertifiziert, die besonderen Schutz verdienen. Zudem werden virtuelle „Nature Walks“ und „Forest Bathing“ mit entsprechendem Sound-Hintergrund angeboten, auch reine Klangaufnahmen aus den bestehenden Quiet Parks sind auf der Website QuietParks.org abrufbar. Die Gleichmäßigkeit eines plätschernden Gebirgsbachs oder Blätterrauschens kann uns im Alltag durchaus unterstützen, findet auch Psychologe Gutmann: „Naturgeräusche, aber auch leichte Musik liefern eine gewisse Begleitung für unseren Gedankenfluss, sie fordern aber nicht zu viel Aufmerksamkeit, weil zum Beispiel etwas passieren könnte. Vor diesem dezenten Hintergrund kann man gut die Gedanken schweifen lassen.“ Ob solche der Muße förderlichen Hintergrundgeräusche stets aus der Natur stammen müssen, bezweifelt Gutmann allerdings: „Die Natur ist ein Architekt von Sinnesreizen, die sicherlich nicht für oder gegen den Menschen konstruiert wurden. Es kann auch eine andere Umweltsituation sein, die bei einer Person Ruhe auslöst und in der sie sich wohlfühlt. Es ist nicht die Natur alleine, sondern das, was sie anbietet.“

Lernen mit Geräuschen zu leben

Dezente Dauerbeschallung – ob aus der Natur oder artifiziell - mag störende Geräusche punktuell in den Hintergrund rücken lassen. Von allein verschwinden wird lästiger Lärm jedoch kaum. Sollte sich die Lärmquelle nicht beseitigen lassen und weder Ohrstöpsel noch Entfernung gegen die Belästigung helfen, lässt sich auch an der Einschätzung der Geräuschquelle arbeiten. Ein Beispiel: der Lärm in einer Anflugschneise, der mit der Erinnerung an die letzte Flugreise in den Urlaub weniger verärgernd wirken kann. „Wenn der Lärm für mich emotional eine andere Bedeutung gewinnen kann als das bloße störende Geräusch, stecke ich ihn ganz anders weg. Indem ich eine andere Bewertung der Geräuschquelle gewinne, kann ich auch anders damit umgehen“, sagt Michael Gutmann.

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