Jennifer sitzt vor einem schwarzen Hintergrund und stillt ihr Baby.

Warum fällt so vielen Frauen das Stillen schwer?

Wir wissen mehr über Kuh- als über Muttermilch. Neue Forschungsergebnisse über ihre Zusammensetzung und Produktion im Körper könnten das Leben von Millionen Menschen verändern.

Jennifer McClure ist eine von vielen Frauen, die Probleme mit dem Stillen hatten. Nach der Geburt ihrer Tochter Esme zwang sie ein längerer Krankenhausaufenthalt dazu, ihr Kind mit der Flasche zu füttern. Esme gewöhnte sich daran und obwohl McClure alles versuchte, musste sie das Stillen acht Monate nach der Geburt aufgeben.

Foto von Jennifer McClure
Von Amy McKeever
Veröffentlicht am 24. Nov. 2023, 08:35 MEZ

Im Mai 2010 brachte die 29-jährige Chandra Burnside ihr erstes Kind zur Welt – per Notfallkaiserschnitt. Sie war enttäuscht, dass die Entbindung nicht so verlaufen war, wie sie es geplant hatte, aber wild entschlossen, ihren neugeborenen Sohn zumindest zu stillen. Schließlich hatte jahrzehntelange Forschung bewiesen, dass Muttermilch Babys wesentliche gesundheitliche Vorteile bringt, sie vor Krankheiten wie Diabetes schützen und sogar das Risiko für den plötzlichen Kindstod senken kann.

Alle 45 Minuten – so hatte sie es im Geburtsvorbereitungskurs gelernt – stillte Burnside ihren Sohn oder pumpte Milch ab, um die Produktion am Laufen zu halten. Doch auch nachdem sie dieses Regime mehrere Wochen verfolgt hatte, nahm ihr Kind nicht an Gewicht zu. Der Kinderarzt riet ihr, ihren Sohn häufiger zu füttern und auf Babymilchpulver zurückzugreifen, falls die Muttermilch nicht ausreichen sollte. Ganz aufs Stillen zu verzichten, kam für Burnside aber nicht in Frage.

Um herauszufinden, ob bei ihr eine Insulinresistenz vorliegt, die die Milchproduktion behindern kann, ließ Burnside sich von einem Endokrinologen untersuchen. Die Tests ergaben zwar Hinweise auf das polyzystisches Ovarialsyndrom – ein möglicher Auslöser für eine Insulinresistenz – eine medikamentöse Behandlung wurde jedoch nicht empfohlen.

Die Selbsthilfegruppe, der sich Burnside anschloss, bot ihr zwar ein großes Maß an Unterstützung – Antworten fand sie dort aber keine. Sie stillte ihren Sohn weiter und fütterte zähneknirschend zusätzlich Babymilch.

Jennifer McClure und ihre Tochter Esme neben der Milchpumpe, die der Mutter während ihres Krankenhausaufenthalts gegeben wurde. Während der Trennung von ihrem Kind pumpte McClure alle drei Stunden Milch ab, um sicherzustellen, dass ihre Tochter weiterhin ausschließlich mit Muttermilch gefüttert wird.

Foto von Jennifer McClure

Wunsch und Wirklichkeit

Viele Frauen haben Probleme mit dem Stillen. Laut dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft planen 90 Prozent der werdenden Mütter in Deutschland, ihr Kind ausschließlich mit Muttermilch zu ernähren – doch nur 68 Prozent tun es tatsächlich. Vier Monate nach der Geburt – der empfohlenen Mindeststilldauer – werden nur noch rund 40 Prozent der Babys ausschließlich gestillt. Die meisten Mütter füttern zu diesem Zeitpunkt ergänzend Babymilch oder haben bereits komplett abgestillt.

Schätzungen zufolge klappt es bei fünf bis zehn Prozent aller Frauen weltweit aus physiologischen Gründen nicht mit dem Stillen – doch der Anteil der Mütter, die angeben, nicht genug oder zu wenig nahrhafte Milch zu haben, um ihre Kinder gedeihen zu lassen, liegt sehr viel höher. Es ist überraschend, wie wenig diese Probleme bisher untersucht wurden – und wie wenig Unterstützung betroffene Frauen Expert*innen zufolge erhalten. Während die Milchindustrie Studien zur Milchproduktion bei Kühen mit viel Geld unterstützt, kratzt die Wissenschaft hinsichtlich der Muttermilchproduktion bislang nur an der Oberfläche.

Doch langsam kommt Bewegung in die Sache: In den vergangenen Jahren ist das Thema präsenter geworden. Inzwischen beschäftigen sich immer mehr Forschende mit genetischen sowie umwelt- und ernährungsbedingten Faktoren, die Stillprobleme erklären könnten – in der Hoffnung, es zukünftigen Generationen von Müttern mit ihren Erkenntnissen leichter machen zu können.

„Die Forschung entwickelt sich so schnell – in einem Jahrzehnt wird dies ein äußerst gefragtes Gebiet sein“, sagt Shannon Kelleher, Biomedizinerin und Ernährungswissenschaftlerin an der University of Massachusetts in Lowell.

Laktation: Zusammenspiel der Hormone

Von außen betrachtet ist die Laktation – also die Milchabgabe – eine einfache Sache: Die Mutter legt das Kind an die Brust, es dockt an und trinkt. Tatsächlich – Mütter wissen das – handelt es sich dabei um einen komplexen Vorgang mit enormem Fehlerpotenzial.

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    “Die Laktation ist ein fein abgestimmter Prozess, bei dem verschiedene Hormone an bestimmte Rezeptoren andocken müssen, um eine spezifische Reaktion auszulösen.”

    von Shannon Kelleher
    University of Massachusetts Lowell

    „Die Laktation ist ein fein abgestimmter Prozess, bei dem verschiedene Hormone an bestimmte Rezeptoren andocken müssen, um eine spezifische Reaktion auszulösen“, sagt Kelleher. Jede Störung dieser Reaktionen „legt die Laktation still – manchmal innerhalb von Stunden“.

    Weibliche Brüste reifen erst in der Schwangerschaft vollständig heran. In dieser Zeit durchströmt ein wahrer Hormoncocktail den Körper und sorgt dafür, dass sich die Grundlagen für die Milchproduktion bilden. Der Aufbau der Milchdrüsen ähnelt laut Kelleher dem von Weintrauben: Die Milchgänge bilden das Gerüst und die Alveoli, also die Bläschen, in denen sich die Milch sammelt, sind die Traubenfrüchte. In jeder Brust befinden sich Dutzende dieser Strukturen, jede von ihnen besteht aus zwei Zellarten: Zellen in den Alveoli, die Milch produzieren, und äußere Muskelzellen, die durch Kontraktionen die Milch in die Milchgänge pumpen.

    Wenn die Plazenta nach der Geburt abgestoßen wird, kommt es zu einem plötzlichen Rückgang des Hormons Progesteron. Das ist der Startschuss für die Milchproduktion. Saugt das Neugeborene an der Brustwarze, werden sensorische Nervenimpulse ausgelöst, die den Körper der Mutter anregen, Prolaktin und Oxytocin auszuschütten. Diese Hormone geben den Zellen der Milchdrüsen das Signal, Milch abzugeben. Um die Milchproduktion am Laufen zu halten, muss das Baby regelmäßig an die Brust angelegt werden, andernfalls entwickeln sich die Milchdrüsen zurück.

    “Die ersten Tage sind für die Laktation wesentlich.”

    von Parul Christian
    Ernährungswissenschaftlerin und Spezialistin für öffentliche Gesundheit

    Neugeborene müssen sofort gestillt werden

    Als Burnside im Jahr 2012 mit ihrem zweiten Kind schwanger war, war sie Stillexpertin. Die Erfahrung nach der Geburt ihres ersten Sohnes hatte sie dazu inspiriert, den Beruf zu wechseln und im Rahmen einer Krankenpflegeausbildung mehr über die Laktation zu lernen. „Ich war überzeugt, dass sich dadurch alles ändern würde“, sagt sie. Sie kannte die Faktoren, die die Milchproduktion negativ beeinflussen – etwa, dass das Neugeborene nicht schnell genug an die Brust angelegt wird oder nicht konsequent gestillt wird.

    „Die ersten Tage sind für die Laktation wesentlich“, sagt Parul Christian, Leiterin des Human Nutrition Program der John Hopkins Bloomberg School of Public Health in Baltimore. Expert*innen zufolge sollte mit dem Stillen innerhalb der ersten Stunde nach der Geburt begonnen werden, um den signalgebende Hormon-Prozess in Gang zu bringen.

    Füttert man stattdessen Babymilch, bringt man das Neugeborene außerdem um das Kolostrum – die Milch, die der Körper der Mutter in den ersten zwei bis vier Tagen nach der Geburt produziert. Sie enthält besonders viele Nährstoffe, Antikörper und Antioxidantien.

    Mangelnde Aufklärung zum Thema Stillen

    Laut Ann Kellams, Kindermedizinerin an der University of Virginia in Charlottesville und Vorsitzende der Academy of Breastfeeding Medicine, hängen Stillprobleme oft damit zusammen, dass sowohl Eltern als auch Ärzte nicht gut genug über das Thema informiert sind. Während ihrer eigenen pädiatrischen Facharztausbildung wurde Kellams von Vertretern aus der Babymilch-Industrie über das Stillen aufgeklärt. Im Februar 2023 veröffentlichte die Fachzeitschrift The Lancet eine Reihe von Artikeln über diese Marketingstrategie der Milchpulver-Industrie.

    Eine fundierte Aufklärung, so Kellams, könne Eltern viele Sorgen nehmen. Wüssten sie beispielsweise, dass der Umfang der Milchproduktion durch den Entwicklungsstand des Babys beeinflusst wird oder dass nicht jedes Baby dieselbe Milchmenge benötigt, könnten sie sich in dieser Hinsicht besser entspannen. Viele wüssten zudem nicht, dass das Zufüttern mit Babymilch die Muttermilchproduktion weiter drosseln und dadurch Stillprobleme verstärken kann.

    „Damit der Körper weiß, dass er Milch produzieren muss, ist es wichtig, das Baby immer anzulegen, wenn es hungrig ist“, sagt Kellam. „Es kann Wochen dauern, bis die Milchproduktion auf Hochtouren läuft – man kann sie nicht an- und ausknipsen wie eine Lampe.“

    Manchmal liegen die Schwierigkeiten auch beim Baby. Ein zu kurzes Zungenband – die Membran, die die Zungenspitze mit dem unteren Teil des Mundes verbindet – kann zum Beispiel das ordentliche Andocken an der Brust verhindern.

    Man könne, so Kellams, von frischgebackenen Eltern nicht erwarten, dass sie all diese möglichen Probleme selbst erkennen und lösen. Sie setzt sich darum für eine umfassende Verfügbarkeit von Stillberatenden ein.

    Jennifer McClure wollte, dass ihre Tochter von den gesundheitlichen Vorteilen der Muttermilch voll profitiert – doch das ständige Abpumpen schlug sich schließlich negativ auf ihr eigenes Wohlbefinden nieder.

    Foto von Jennifer McClure

    Biologie als Schlüssel: Gründe für Stillprobleme

    Chandra Burnside hatte auch für ihr zweites Kind nicht genug Milch. Nachdem sie es zwei Wochen gestillt hatte, schlug der Kinderarzt Alarm: In diesem Alter trinken Babys alle paar Stunden zwischen 60 und 90 Milliliter Milch. Burnside produzierte jeden Tag fast 180 Milliliter zu wenig – und niemand wusste, warum.

    Laut Kelleher werden die biologischen Ursachen für Stillprobleme erst allmählich wissenschaftlich untersucht. Zu den medizinischen Faktoren, die sich negativ auf die Laktation auswirken, zählen zum Beispiel Brust-OPs wie Mastektomien – also das chirurgische Entfernen von Brustgewebe – sowie Brustvergrößerungen und -verkleinerungen, bei denen die Milchdrüsen zerstört werden. Schilddrüsenerkrankungen, Diabetes und das polyzystische Ovarialsyndrom können sich ungünstig auf den Hormonspiegel auswirken und das feine Zusammenspiel, das für die Milchproduktion nötig ist, stören. Auch chronischer Stress ist ein Faktor, denn er entzieht dem Körper Energie, die er braucht, um Milch herzustellen.

    Der bisher am besten erforschte Faktor ist die Ernährung. Sowohl Übergewicht als auch Mangelernährung beeinflussen den Hormonspiegel direkt. Wie viele Vitamine und wie viel Fett in ihrer Milch enthalten ist, steuert die Mutter über ihr eigenes Essverhalten. Viele stillende Frauen nehmen darum Nahrungsergänzungsmittel zu sich und ihnen wird empfohlen, gesund zu essen und die Kalorienzufuhr nicht durch Diäten plötzlich drastisch zu senken.

    Laut Kelleher konzentriert sich die Forschung derzeit verstärkt auf die Rolle, die Antioxidantien bei der Reduzierung von oxidativem Stress spielen. Wenn es im Körper zu einem Ungleichgewicht zwischen freien Radikalen und Radikalfängern kommt, greifen Erstere Körperzellen an. Handelt es sich dabei um Milchdrüsenzellen, kann dies die Alveoli schrumpfen lassen. Bockshornklee, der oft in laktationsfördernden Nahrungsergänzungsmitteln enthalten ist, ist ein Antioxidans, das dabei helfen kann, das Gleichgewicht wieder herzustellen.

    Gene und Umweltgifte

    Wenn es aber um die Frage geht, inwiefern die Gene die Laktation beeinflussen, ist uns die Milchindustrie laut Kelleher meilenweit voraus. Viel Zeit und Geld wurde investiert, um in Kühen die Gene zu identifizieren, die den Proteingehalt oder die Menge der Milch steigern. Beim Menschen ist die Studienlage hingegen extrem dünn.

    Kellehers eigene Forschung beschäftigt sich mit spezifischen genetischen Mutationen, die die Versorgung der Milchdrüsen mit Zink stören. Weil das Mineral in hoher Konzentration im Kolostrum enthalten ist, ist davon auszugehen, dass es für Neugeborene essenziell ist.

    Forschende der Penn State University haben eine Genvariante ausgemacht, die die Produktion von Lactadherin begünstigt – ein Protein, das sich negativ auf die Milchmenge auswirkt. „Wir wissen nicht, wie genau das Protein in der Milchdrüse wirkt – wir kennen nur seinen Effekt“, sagt Kelleher.

    Ähnlich im Dunkeln tappen die Forschenden bei der Frage, wie sich Chemikalien, Mikroplastik und andere gefährliche Substanzen, denen wir in unserer Umwelt ausgesetzt sind, auf die Qualität und die Menge von Muttermilch auswirken. Für Forschende ist es sehr schwer, festzustellen, welche Stoffe in welcher Quantität wie schaden. „Da können viele schlimme Sachen passieren – das tun sie jetzt schon.“, sagt Kelleher. „Doch aus einer ganzen Reihe von sozialen, politischen und finanziellen Gründen haben wir noch kein umfassendes Bild.“

    Zukunft der Muttermilchforschung

    Einer der Gründe, warum man heute so wenig über die Biologie des Stillens weiß, ist der Mangel an finanziellen Mitteln. Dass dieser Forschungsbereich so schlecht gefördert wird, liegt Kelleher zufolge teilweise an der Diskriminierung von Frauen, auf die man auch in anderen medizinischen Bereichen stößt. Zudem würden die Hürden des Stillens nicht als dringend zu lösendes Problem wahrgenommen, weil viele Babymilchpulver als adäquate Ausweichlösung ansehen. Lieferengpässe dieser Produkte haben gezeigt, wie schwach das Argument ist.

    Doch ein Sinneswandel scheint sich einzustellen: Im Jahr 2020 förderte die Bill and Melinda Gates Foundation die Gründung des International Milk Composition Consortium, dessen Ziel es ist, den Nährwert von Muttermilch zu steigern. Zur selben Zeit riefen die National Institutes of Health eine Arbeitsgruppe ins Leben, die sich mit der Muttermilch-Ökologie befasst. Und die Academy of Breastfeeding Medicine erarbeitet derzeit eine Liste der wichtigsten Fragen, die sich Eltern zum Thema Laktation stellen.

    „Die Motivation dahinter ist nicht nur die wissenschaftliche Neugier“, sagt Parul Christian. Vielmehr habe ein besseres Verständnis für die Biologie der Muttermilch das Potenzial, die Leben von Millionen Frauen und Kindern zum Besseren zu verändern – insbesondere in Familien mit geringem Einkommen, in denen Mangelernährung ein häufiges Problem ist.

    Für Burnside und ihre Familie kommt all dies zu spät. Die inzwischen zertifizierte Stillberaterin ist vor drei Jahren zum dritten Mal Mutter geworden – und wieder klappte es mit dem Stillen nicht. Nach der Geburt kam es bei ihr zu einer postpartalen Blutung, die erwiesenermaßen zu einer Verzögerung des Einsetzens der Laktation führt. Als die Muttermilch schließlich einschoss, war die Menge wieder um bis zu 170 Milliliter pro Tag zu niedrig.

    Ob es an der Blutung oder einem größeren biologischen Problem lag, werde sie nie erfahren. „Ich hatte das nötige Wissen und mein Job erlaubte es mir, wann immer ich wollte, abzupumpen“, sagt sie. „Die Umstände waren perfekt – und trotzdem stehe ich nach all dem noch immer vor einem großen Fragezeichen.“

    Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht und durch die Redaktion gekürzt und ergänzt.

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