Spricht man in Hannover gar nicht das beste Hochdeutsch?

Wenn es um Hannover geht, hält sich ein Mythos hartnäckig: Hier ist die deutsche Sprache am Dialekt-freisten. Ob das wirklich so ist und woher die Annahme kommt, hat ein Forschungsteam nun untersucht.

Von Insa Germerott
Veröffentlicht am 9. Dez. 2024, 08:51 MEZ
Kupferstich der Skyline Hannovers aus dem Jahr 1840.

Hannover, Mitte des 19. Jahrhunderts. Schon damals war die Annahme, dass hier das beste Hochdeutsch gesprochen wird, weit verbreitet. Der Mythos hält sich bis heute.

Foto von gemeinfrei / Zeichnung: Georg Osterwald, Stahlstich: Louis Hoffmeister

In Deutschland ist man sich seit Langem einig: Die Hannoveraner*innen sprechen das reinste Hochdeutsch. Ob die Menschen in und aus Hannover tatsächlich so perfekt Hochdeutsch sprechen, hat Sprachwissenschaftler Dr. François Conrad mit seinem Team am Deutschen Seminar der Leibniz Universität Hannover (LUH) untersucht. Das Ergebnis ihres Projektes „Die Stadtsprache Hannovers“ fiel überraschend aus. 

Porträt des Wissenschaftlichers.

Dr. François Conrad konzentrierte sich in seiner Forschung vor allem auf die Phonetik von Sprachen – ihre Produktion, Wahrnehmung und ihre Rolle in der Kommunikation.

Foto von Marie-Luise Kolb

Herr Conrad, Sie haben untersucht, wie die Einwohner*innen Hannovers wirklich sprechen. Dabei kam heraus: Sie sprechen gar nicht das beste Hochdeutsch des Landes?

Was wir vor allem herausgefunden haben: Die Sprache innerhalb Hannovers ist dynamisch und divers, und die Aussprache variiert je nach Alter und Situation der Person. Bei älteren Menschen hört man zum Beispiel oft Reste von Niederdeutsch heraus: Sie nutzen Varianten, die auf das frühere Plattdeutsch in der Region zurückgehen. Zum Beispiel haben ältere Personen in den Tests eher Zuch statt Zug gesagt oder Bad mit kurzem statt langem A gesprochen. 

Und die Jüngeren?

Sie nutzen die niederdeutschbasierten Merkmale relativ selten und nähern sich immer mehr dem Hochdeutschen an. Der ganze norddeutsche Raum spricht jedoch mittlerweile – bis auf kleinste Merkmale – relativ ähnlich, auch die Menschen in Hannover. Darum erkennt man heutzutage auch wirklich schlecht, woher jüngere Personen kommen.

Aber kein reines Hochdeutsch?

Genau. Es gibt zwar das intendierte Standard-Deutsch, das ist die Referenz, mit der man Vergleiche herstellen kann, aber niemand spricht das so richtig. Die meisten Leute sprechen einen sogenannten standardnahen Regiolekt. In Norddeutschland wird zum Beispiel Hochdeutsch mit einer regionalen Färbung gesprochen, also einem leichten regionalen Akzent. Aber der Trend geht deutschlandweit definitiv in Richtung Hochdeutsch, Dialekte verschwinden immer mehr. 

Und wo sprechen die Menschen das beste Hochdeutsch?

Ganz korrektes Hochdeutsch findet man eigentlich nirgendwo, am ehesten vielleicht noch auf der Bühne oder in der Tagesschau. Da, wo Menschen trainiert werden, Norm-Hochdeutsch zu sprechen. Aber auch diese Norm verändert sich. Sogar im Duden findet man mittlerweile regionale Aussprachevarianten. Auch Tagesschausprecher*innen nutzen sie schon unbewusst. Es wird zum Beispiel häufig Würtschaft statt Wirtschaft gesagt. Ingo Zamperoni macht das die ganze Zeit – und ich bin mir sicher, dass er das nicht weiß. 

Warum ist das so?

Sprache ist wie Mode: Wenn man eine Sache in seinem Umfeld immer wieder hört, spricht man irgendwann auch so. Das ist überall auf der Welt so, auch in Hannover.

Kommen Sprachtrends – wie Modetrends – auch irgendwann wieder?

Das konnten wir in unserem Projekt spannenderweise auch beobachten. Es gab alte sprachliche Merkmale, die in der älteren Generation schon zurückgegangen waren, und jetzt bei den Jüngeren wieder in Mode kommen. Zum Beispiel: Universiteet statt Universität zu sagen oder Keese statt Käse. Es war in der Vergangenheit schon mal ‚in‘, ein langes E statt Ä zu sprechen. Das kommt jetzt wieder, beziehungsweise wird jetzt wieder stärker gemacht als zuvor. 

Weil es einfacher ist?

Eher, weil das lange Ä als Vokal ‚überflüssig‘ wird. Normalerweise gibt es im deutschen Vokalsystem immer Lautpaare, zum Beispiel ein langes I wie in Miete und ein kurzes I wie in Mitte. Ein langes Ü wie in Bühne und ein kurzes Ü wie in Glück. Beim Ä gibt es allerdings drei Laute: ein langes Ä wie in Mähne, ein langes E wie in Rede und ein kurzes Ä wie in Bäcker. Der Mensch neigt dazu, ‚überflüssige‘ Dinge in der Sprache unbewusst auszugleichen, damit das System symmetrisch wird. So ersetzt das lange E in Norddeutschland gerade langsam aber sicher das lange Ä. 

Wie genau haben Sie die Sprache der Menschen in Hannover untersucht?

Wir haben insgesamt 100 Menschen interviewt, die in Hannover aufgewachsen sind. Sie kamen aus verschiedenen Altersstufen, Gesellschaftsschichten und Stadtvierteln. Mal mussten die Teilnehmer*innen Lückentexte vorlesen und dabei ein gesuchtes Wort einfügen. Mal wurden ihnen Bilder gezeigt und sie mussten das darauf abgebildete Objekt, zum Beispiel einen Tisch, benennen. Dabei haben wir den Leuten bewusst nicht gesagt, dass es uns vor allem um ihre Aussprache geht, damit sie möglichst natürlich bleiben beim Sprechen. Außerdem haben wir die Teilnehmer*innen zu ihren Einstellungen und Bewertungen von Sprache, vor allem zum Hochdeutschen, befragt. 

BELIEBT

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    Ist Ihnen dabei noch etwas Wichtiges aufgefallen?

    Eine weitere Erkenntnis war, dass Menschen aus Hannover und darüber hinaus fest daran glauben, dass in Hannover das beste Hochdeutsch gesprochen wird. Die meisten Projektteilnehmer*innen waren davon überzeugt. Viele Hannoveraner*innen sind stolz darauf. Der Mythos ist eng mit der hannoverschen Identität verbunden.

    Wie ist dieser Mythos entstanden?

    Unsere Theorie: Früher gab es das Königreich Hannover, das beinahe ganz Niedersachsen umfasst hat. Ab 1866 gab es dann die preußische Provinz Hannover. Und seit Ende des 19. Jahrhunderts wird nur noch von der Stadt Hannover gesprochen. Der gleiche Name für unterschiedliche räumliche Gebilde. Eine parallele Entwicklung haben wir beim Mythos des Hochdeutschen erkannt: Im 17. und 18. Jahrhundert wurde geschrieben, dass in ganz Norddeutschland das beste Hochdeutsch gesprochen wird. Dann wurde die Region auf ein Gebiet eingegrenzt, was damals ungefähr dem Königreich Hannover entsprach. Und schließlich – ab Ende des 19. Jahrhunderts – wurde die Aussage nur noch auf die Stadt Hannover bezogen. Der Begriff Hannover ist geblieben, aber als das Königreich über die Jahrzehnte zur preußischen Provinz und schließlich zur Stadt „schrumpfte“, ist auch das Gebiet des Mythos mitgeschrumpft. 

    Karte des Königreichs Hannover von 1815-1866.

    Karte des Königreichs Hannover von 1815-1866.

    Foto von kgberger / Wikimedia Commons

    Also wird in der ganzen Region des ehemaligen Königreichs Hannover gleich gesprochen?

    Um das herauszufinden, haben wir noch ein paar Tests mit den Projektteilnehmer*innen durchgeführt. Unter anderem haben wir ihnen kurze Sprachaufnahmen von Personen aus anderen Städten nahe Hannover vorgespielt und sie sollten raten, woher die jeweilige Person kommt. Wir haben uns gefragt: Kann man einer Person anhören, ob sie aus Hannover kommt? Die Antwort ist: nein. Während Magdeburg, Bremen und Kassel recht gut eingeordnet werden konnten, haben die meisten vor allem Braunschweig, Hannover und Göttingen komplett miteinander verwechselt. Da kann man keinen Unterschied hören. Auch Vergleichsstudien in verschiedenen Städten der Region haben gezeigt, dass es keine großen sprachlichen Unterschiede gibt. 

    Wie kommt das?

    Früher war die ganze Region ein Dialektraum, das sogenannte Ostfälische. Zu dieser Region gehörten zum Beispiel Celle, Hildesheim, Hannover, Braunschweig, Helmstedt, Göttingen und Hameln. Es ist nur logisch, dass es sehr ähnlich klingt, wenn Leute aus dieser Region heute Hochdeutsch sprechen, da sie das auf der gleichen dialektalen Grundlage tun. 

    Also spricht man in Braunschweig genauso gutes Hochdeutsch wie in Hannover?

    Da hat die Rivalität der Städte wohl ein Ende. Es tut mir leid, aber ja, die Hannoveraner*innen sprechen wie die Leute in Braunschweig. Es gibt nicht die eine Stadt, in der das beste Hochdeutsch gesprochen wird. Man kann höchstens sagen: Wenn es eine Region gibt, in der das „beste“ Hochdeutsch gesprochen wird, dann ist es die ostfälische. 

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