Wie viel Eskapismus ist gesund?

Rettender Ausgleich oder gefährliches Abwenden von der Wirklichkeit: Eskapismus kann beides sein. So findet man das richtige Maß.

Von Lisa Lamm
Veröffentlicht am 16. Mai 2025, 09:03 MESZ
Ein Mann liegt mit Popcorn auf seinem Bett und schaut auf seinen Laptop.

Gründe, sich den Problemen des Alltags zu entziehen, gibt es viele: Job, Stress in der Familie oder die allgemeine politische Situation. Doch ist das gesund?

Foto von Andrii Lysenko / adobe.stock.com

Streamingdienste, Social Media, Videospiele, Bücher: Noch nie gab es medial so viele Möglichkeiten, dem Alltag zu entfliehen. Das Phänomen, bei dem Menschen in eine – meist fiktive – Welt abtauchen, um sich ihren Problemen zu entziehen, nennt sich Eskapismus. 

Oft wird dieser als Vermeidungsverhalten verstanden und deshalb negativ bewertet. Dabei sind Forschende sich längst einig: Für eine kurze Zeit die Probleme des Alltags auszublenden, ist eine valide Bewältigungsstrategie. Sie kann Menschen sogar helfen, besser mit der Wirklichkeit umzugehen.

Ein bisschen Eskapismus kann also nicht schaden. Doch wann geht er zu weit?

Von Serien schauen bis Sport treiben: Tools des Eskapismus

Der Medienpsychologe Leonard Reinecke von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz forscht schon lange zum Thema Eskapismus. Er sagt: „Eskapismus ist das Flüchten in andere Gedanken, Inhalte oder Bereiche des Lebens, die einem angenehmer sind als die realen Umstände.“ Dabei kämen besonders häufig Medien zum Einsatz.

„Vor allem Serien, Filme und Fernsehen eignen sich hervorragend, um der Wirklichkeit zu entfliehen“, sagt Reinecke. „Sie arbeiten mit Narration, die uns in ihren Bann zieht und empathisch mitfiebern lässt. Außerdem bieten sie oft ein hohes Spannungserleben.“ Beliebt sind auch die sozialen Medien: Sie sind sehr leicht zugänglich und durch das Smartphone immer mit dabei. Manche nutzen auch immersive, interaktive Medien wie Computerspiele als Tool zur Realitätsflucht. Diese verlangen Konzentration und Interaktion von den Spieler*innen und befördern sie dadurch für einen Moment vollständig in eine andere Welt.

Allerdings sind Medien nicht die einzigen Eskapismus-Werkzeuge. Auch Sport oder künstlerische Betätigung können Eskapismus sein. Denn diese Aktivitäten helfen ebenfalls dabei, eine Distanz zu belastenden Umständen oder Problemen zu schaffen. „Letztendlich kann jegliche ablenkende Handlung eskapistisch motiviert sein, wenn man sie ausführt, um mental ein Stück weit aus dem Alltag zu flüchten“, so Reinecke.

“Es ist durchaus sinnvoll, sich nicht ständig mit seinen Sorgen und Ängsten zu konfrontieren. Wir brauchen auch Ruhephasen, um uns zu entlasten.”

von Leonard Reinecke
Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Wer neigt am ehesten zu Eskapismus?

Die Tendenz zum Eskapismus ist nicht bei allen Menschen gleich ausgeprägt. In der Psychologie unterscheidet man grob zwischen zwei Arten der Bewältigungsstrategien: emotionsbezogene, die temporäre Ablenkung von negativen Gefühlen schaffen, und solche, die auf das Lösen von Problemen fokussiert sind. Menschen, die eher zu emotionsbezogenen Bewältigungsstrategien neigen, betreiben eher Eskapismus.

Eine Studie aus dem Jahr 2021 konnte außerdem zeigen, dass Menschen, die sich im Alltag oft einsam fühlen, stärker zu einer eskapistischen Mediennutzung tendieren. Ihr liebstes Eskapismus-Tool: Binge-Watching, also das Schauen von vielen Folgen einer Serie am Stück. Dabei spiele vor allem die Identifikation mit Charakteren aus der Serie eine Rolle, wodurch Menschen den Mangel an realen sozialen Bindungen kompensieren können, heißt es in der Studie.

Nutzen und Gefahren der Realitätsflucht

Auch wenn eine solche eskapistische Mediennutzung von der Gesellschaft oft als schädlich wahrgenommen wird: „Aus der psychologischen Perspektive ist Eskapismus erstmal wertneutral“, sagt Reinecke. Wird die Taktik zweckmäßig genutzt, also zur kurzzeitigen Erholung von der Alltagsbelastung, ist Eskapismus sogar wichtig. „Es ist durchaus sinnvoll, sich nicht ständig mit seinen Sorgen und Ängsten zu konfrontieren“, sagt Reinecke. „Wir brauchen auch Ruhephasen, um uns zu entlasten.“

Vor allem bei größeren globalen Krisen kann Eskapismus einen wichtigen Stellenwert einnehmen. „Wenn wir von Problemen belastet sind, an denen wir gar nicht viel verändern können, wie bei einer Pandemie oder der Wahl eines neuen US-Präsidenten, können wir mit problemorientierten Bewältigungsstrategien wenig ausrichten“, sagt Reinecke. In dieser Hinsicht seien emotionsbezogene Coping-Strategien wichtig, damit negative Gefühle nicht überhandnehmen. Und dazu gehöre eben auch der Eskapismus. Die Covid-19-Pandemie hat beispielsweise nachweislich zu einer erhöhten Mediennutzung geführt. Laut Reinecke ist das nicht per se schlimm.

Problematisch wird dieses Verhalten erst, wenn Menschen sich so sehr in die fiktive Welt zurückziehen, dass sie sich gar nicht mehr mit Problemen des Alltags beschäftigen. Denn Eskapismus soll zwar helfen, sich kurzfristig von diesen Problemen abzulenken, aber nicht dazu führen, dass man ihnen langfristig den Rücken kehrt.

BELIEBT

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    Frau nachts mit Smartphone im Bett

    Die Folgen davon zeigt eine Studie aus dem Jahr 2022: Eine erhöhte eskapistische Mediennutzung kann den Ergebnissen zufolge zu einer „schädlichen oder unverhältnismäßigen Nutzung von digitalen Netzanwendungen“ führen. Dazu gehören unter anderem Online-Glücksspiel, exzessives Gaming und eine generelle exzessive Internetnutzung. Folgen von einem solchen dysfunktionalen Eskapismus können soziale Isolation und ein dauerhafter Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben sein. Laut Reinecke kommt das aber weitaus seltener vor, als man vermuten würde.

    Eine Prise Eskapismus fürs Wohlbefinden

    Wenn einen die negativen Schlagzeilen in den Nachrichten also das nächste Mal zu sehr belasten, ist ein Serien- oder Gaming-Marathon also durchaus erlaubt. Man sollte nach der Flucht in andere Welten nur wieder in den Alltag zurückkehren und etwaige Probleme direkt angehen.

    In Lebensbereichen, in denen man Stressoren mit konkreten Lösungen bekämpfen kann, sollte man allerdings eher auf problembezogene Bewätigungsmechanismen – also konkrete Maßnahmen zur Problemlösung – setzen, statt auf Eskapismus. 

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