Diese frühen Menschen lebten vor 300.000 Jahren – hatten aber moderne Gesichter

Einige Eigenschaften moderner Menschen entwickelten sich recht früh und in größeren Teilen Afrikas als einst vermutet.

Von Michael Greshko
Veröffentlicht am 2. Nov. 2017, 09:58 MEZ

In einer mit Bäumen gesprenkelten Savanne im heutigen Marokko saß einst eine Gruppe früher Menschen um ein Lagerfeuer gedrängt. Ihre Werkzeuge lagen verteilt auf dem Boden ihrer Lagerstätte und wurden vom Feuer erhitzt.

Jetzt legen Untersuchungen der Steingeräte nahe, dass diese alten Menschen vor über 300.000 Jahren gelebt haben. Damit wären sie doppelt so alt wie zunächst angenommen.

Die Ergebnisse, die am Mittwoch in „Nature“ präsentiert wurden, füllen eine wesentliche Lücke in der fossilen Überlieferung der Menschheitsgeschichte. Das liegt daran, dass die gefundenen Exemplare auffallende Ähnlichkeiten zu modernen Menschen aufweisen, obwohl sie deutlich früher lebten, als das Alter der ältesten Fossilberichte des Homo sapiens vermuten lassen würde. Diese stammen aus einer Ausgrabungsstätte in Äthiopien und lassen sich auf ein Alter von 195.000 Jahren datieren.

Die ehemaligen Bewohner der Stätte in Marokko waren noch nicht wirklich die heutigen Homo sapiens. Ihre Schädel waren weniger abgerundet, sondern langgezogener als unsere. Das lässt eventuell auf Unterschiede zwischen ihren und unseren Gehirnen schließen. Allerdings ähnelten ihre Zähne sehr stark denen, die man im Mund moderner Menschen finden würde – und sogar ihre Gesichter sahen genau wie unsere aus.

„Das Gesicht das ist Gesicht einer Person, der man in der U-Bahn begegnen könnte“, sagt Jean-Jacques Hublin. Der Paläoanthropologe des Max-Planck-Instituts für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig hat das neue Forschungsprojekt geleitet. „Das ist ziemlich erstaunlich.“

Sind dies die ältesten Fossilien moderner Menschen, die je gefunden wurden?

Noch dazu befindet sich die marokkanische Ausgrabungsstätte im Nordwesten Afrikas, weit entfernt von vielen der Stätten in Ost- und Südafrika, in denen viele der Hominini-Fossilien des Kontinents gefunden wurden.

Für Paläoanthropologen ist die Kombination aus dem Alter und dem Ort der Stätte eine eindringliche Erinnerung daran, dass die Evolution moderner Menschen aller Wahrscheinlichkeit nach viel früher anfing und weiter über Afrika verbreitet war, als frühere Entdeckungen vermuten ließen.

„Ich denke, es war unvermeidlich, dass man Hinweise auf moderne Menschen in anderen Teilen Afrikas entdecken würde. Und es ist auch unvermeidlich, dass die Zeitangaben nach hinten korrigiert werden“, sagt der Paläoanthropologe Bernard Wood von der George Washington Universität, der an der Studie nicht beteiligt war.

Die Fossilien und Werkzeuge, die in Marokko gefunden wurden, erinnern uns daran, unser Verständnis der menschlichen Entwicklung immer wieder zu hinterfragen.

„Das Fehlen von Beweisen ist noch kein Beweis für ein Fehlen.“

DAS SPIEL MIT DEN ZAHLEN

Die marokkanische Ausgrabungsstätte Djebel Irhoud war noch ein Barytbergwerk, als sie in den 1960ern zum ersten Mal wissenschaftliche Wellen schlug. Ausgrabungen offenbarten Steinwerkzeuge und rätselhafte Schädelfragmente, die Wissenschaftler zuerst einem alten Verwandten der modernen Menschen zuordneten.

Für eine tatsächliche Platzierung in der menschlichen Geschichte war jedoch eine verlässliche Datierung der Stätte nötig. Das war eine schwierige Aufgabe, da man für eine präzise Datierung wissen muss, in welche Gesteinsschicht ein Fossil eingebettet war. Diese Informationen wurden während der 1960er Ausgrabungen in Djebel Irhoud größtenteils nicht aufgezeichnet.

Seit er von ihr erfahren hat, hatte sich Hublin danach gesehnt, Djebel Irhout wieder als Ausgrabungsstätte zu eröffnen. 2004 hatte er die örtlichen marokkanischen Behörden endlich von seinem Vorhaben überzeugt. Die Straße in das Gebiet musste neu gebaut werden und 200 Kubikmeter Geröll wurden vorsichtig abgetragen.

Zur Freude der Wissenschaftler hatte ein Stück der archäologischen Stätte unter dem Minenschutt überlebt. Dort fand man noch mehr Steinwerkzeuge, umfangreiche Hinweise auf eine menschliche Nutzung von Feuer und einige Knochenüberreste, darunter ein Unterkiefer und ein Hirnschalenfragment.

Was noch wichtiger war: Da sie die Steinwerkzeuge und die Knochenfragmente in derselben Gesteinsschicht fanden, konnten Hublin und sein Team die Werkzeuge nutzen, um die Fossilien von Djebel Irhoud präziser zu datieren.

Das Team hatte den Vorteil, dass die Steinwerkzeuge um den Lagerplatz herum verteilt lagen und unbeabsichtigt von der Hitze des Lagerfeuers der Djebel-Irhoud-Menschen erwärmt worden waren. Die Erhitzung der Steine hatte die elektrische Ladung in ihnen neutralisiert. Das bedeutet, dass jegliche Ladung, die heute noch in den Werkzeugen messbar ist, von den umgebenden Sedimenten stammen muss, welche die Steine mit ihrer natürlichen Radioaktivität bombardiert haben.

Hublins Team hat ein Jahr damit verbracht, die Radioaktivität der Djebel-Irhoud-Stätte zu messen. Dann haben die Teammitglieder diese jährliche Strahlungsdosis mit der aktuellen elektrischen Ladung der Werkzeuge verglichen. Auf diese Weise konnten sie feststellen, dass die Djebel-Irhoud-Lagerfeuer die Steinwerkzeuge vor rund 315.000 Jahren erhitzt haben, plus/minus 34.000 Jahre.

Das entspricht dem Doppelten des Alters, das eine andere Studie der Djebel-Irhoud-Stätte 2007 zugesprochen hatte. Die Diskrepanz ergibt sich daraus, dass die frühere Studie, dessen Co-Autor Hublin war, kein so gründliches Strahlungsmodell hatte. Bewertet man jedoch die früheren Studiendaten im aktuellen Modell, ergibt sich ein Alter von etwa 286.000 Jahren – das passt auch zu den Ergebnissen der neue Studie.

Diese Entdeckung verschaffen Djebel Irhoud einen Platz in der sehr kurzen Liste der gut datierten afrikanischen Fossilienfundstellen, in denen Überreste moderner Menschen und ihrer Vorgänger gefunden wurden.

Zusätzlich überschneiden sich die Zeiträume von Djebel Irhoud mit denen, die kürzlich Homo naledi zugeschrieben wurden, einer ausgestorbenen – und anatomisch bizarren – Hominini-Art, die in Südafrika entdeckt wurde. Die Funde liefern weitere Belege dafür, dass mindestens zwei Hominini-Arten zur selben Zeit in Afrika lebten, die sich deutlich voneinander unterschieden.

DAS MOSAIK DER MENSCHHEIT

Aufgrund der modernen Gesichter und der primitiven Hirnschädel der Fossilien von Djebel Irhoud liegt für Hublin und sein Team der Schluss nahe, dass sich die physischen Eigenarten moderner Menschen vermutlich nicht alle gleichzeitig entwickelten. Stattdessen traten wohl diverse Eigenschaften, die wir mit anatomisch modernen Menschen assoziieren, in einer „mosaikartigen Evolution“ auf, die auch Neandertaler aufwiesen.

Der moderne Mensch „war kein neues Automodel, das in einem Showroom mit allem Drum und Dran seinen Auftritt hatte“, sagt Wood. „Verschiedene Teile der modernen menschlichen Morphologie und des Verhaltens entwickelten sich wahrscheinlich schrittweise.“

Der Fund zeigt auch, wie sich die Vorgänger der modernen Menschen weit über Afrika hinweg verstreut haben könnten, sagt Hublins Team. Beispielsweise könnten sie sich während periodisch auftretender Zeiträume, in denen die Sahara bewachsen war, nach Nordafrika ausgebreitet haben. Mitunter wich die unwirtliche Wüste etwas einladenderem Grasland.

Hublin und sein Co-Autor Shannon McPherron betonen jedoch, dass sie noch nicht genau sagen können, wo auf dem Kontinent sich moderne Menschen entwickelt haben.

Außerdem erzeugen die Funde ein spannendes Dilemma: Sollten Paläoanthropologen die Überreste von Djebel Irhoud als Teil der Art Homo sapiens behandeln?

„Das Material von Djebel Irhoud trägt zu der Debatte bei, wo genau Anthropologen die Grenze dabei ziehen, wie ‚menschlich‘ etwas sein muss, um als ‚moderner Mensch‘ zu gelten“, sagt Tanya Smith. Die Paläoanthropologin der Harvard Universität und der Griffith Universität in Australien war an den neuen Studien nicht beteiligt.

John Hawks, ein Paläoanthropologe von der Universität Wisconsin-Madison, ist von der Behauptung der Autoren der Studie beunruhigt, dass die marokkanischen Fossilien zur Klade des Homo sapiens gehören.

„Ich denke, diese Abhandlung geht einen Schritt zu weit“, sagt er. „Sie definieren das Konzept des Homo sapiens neu, indem sie diese Kategorie des ‚frühen modernen Menschen‘ aufmachen, die ich noch nie gesehen habe.“

Obwohl Hawks die Forscher für ihre sorgfältigen Widerausgrabungen lobt, warnt er auch davor, die Bedeutung der Abhandlung überzubewerten.

„Vielen Wissenschaftlern sind die sehr archaischen Merkmale des Hirnschädels [von Djebel Irhoud] schon aufgefallen, ebenso einige Ähnlichkeiten zu modernen Menschen beim Gesicht“, fügt er per E-Mail hinzu. Hublin und seine Kollegen „haben dem wirklich nichts Neues hinzugefügt, abgesehen von der Zeitspanne.“

Wood hingegen findet, dass Hublins Kategorie des „frühen modernen Menschen“ sinnvoll ist. Und unabhängig von der Bezeichnung, so sagt er, haben die Fossilien von Djebel Irhoud ihren Platz im Wandteppich der Menschheitsgeschichte.

„Es gibt fossile Beweise für eine Population, die vor 300.000 Jahren lebte und modernen Menschen auf verschiedene Art bemerkenswert ähnlich sah. Davon kann sich jeder sein eigenes Bild machen“, sagt Wood.

„Man kann entweder die Definition des Homo sapiens erweitern, um [die Fossilien von Djebel Irhoud] einzuschließen, oder es waren eben Lebewesen, die auf dem Weg dahin waren, moderne Menschen zu werden.“

Michael Greshko auf Twitter folgen.

Hinweis: In einer früheren Version des Artikels wurde das Geschlecht von Shannon McPherron fälschlicherweise als weiblich angegeben. Der Artikel wurde korrigiert.

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