Nach dem Krieg das Trauma: Das Leid der Flüchtlingskinder
Auf Lesbos zeichnet sich unter den Kindern und Jugendlichen eine wachsende Krise im Bereich der psychischen Gesundheit ab.

Im Herbst 2015 stand Essam Daod am Strand der griechischen Insel Lesbos, als ein überfülltes Schlauchboot mit Flüchtlingen eintraf. Unter den Menschen an Bord befand sich auch ein untröstlicher fünfjähriger Junge namens Omar aus Syrien.
Daod nahm ihn seiner Mutter ab und zeigte auf den Polizeihubschrauber, der über ihren Köpfen kreiste: „Der ist gekommen, um dich mit großen Kameras zu fotografieren, weil nur so große und starke Helden wie du das Meer überqueren können!“ Omar hörte auf zu weinen. „Ich bin ein Held?“, fragte er auf Arabisch. Nachdem ihm das versichert wurde, zeigte er dem Fremden das Boot, in dem er angekommen war. „Ich zeig dir, wo ich gesessen habe und wie ich die Wellen mit meinen Händen gestoppt und alle beschützt habe“, sagte er stolz.

In diesem Moment begriff Daod, ein palästinischer Kinderpsychiater, dass es eine Möglichkeit gab, um Traumata umzugestalten, während sie sich gerade bildeten. Kurze Zeit später startete seine Organisation für psychische Gesundheit, Humanity Crew, das „Heroes Project“ (dt. Heldenprojekt), bei dem freiwilligen Rettern beigebracht wurde, die Erinnerungen an die gefährliche Reise gewissermaßen umzuschreiben.
Letztes Jahr verkündete eine syrisch-amerikanische medizinische Organisation, dass die Schwere der posttraumatischen Belastungsstörung syrischer Kinder die klinischen Definitionen bei Weitem übersteigt und in „human devastation syndrome“ (dt. etwa „Syndrom der menschlichen Zerstörung“) umbenannt werden sollte. Die psychische Gesundheitsfürsorge für Flüchtlinge ist eine unsichtbare Krise, die von Nichtregierungsorganisationen und der internationalen Gemeinschaft jedoch eher stiefmütterlich behandelt wird. Es stehen kaum finanzielle Mittel zur Behandlung zur Verfügung. Die Folge ist, dass 1,5 Millionen Flüchtlinge, die seit 2015 über den Seeweg nach Europa kamen, bei Bewältigung ihrer Traumata sich selbst überlassen bleiben.

Auf Lesbos sitzen seit 2016 etwa 8.000 Flüchtlinge fest, nachdem ihnen durch eine Vereinbarung zwischen Europa und der Türkei die Weiterreise nicht mehr möglich war. Seither haben sich nicht nur die Lebensbedingungen der Menschen verschlechtert, sondern auch ihre Aussichten auf ein Leben in Europa. Das größte Lager, Moria, hat seine Kapazität um das Zweifache überschritten. Einige der Menschen harren dort seit Jahren aus. Viele wurden durch das Gefühl der Hoffnungslosigkeit und des nie enden wollenden Aufenthalts an den Rand ihrer Leidensfähigkeit getrieben.
“Die Menschen glauben, dass ihr Kampf vorbei ist, sobald sie zu Flüchtlingen werden. In Wahrheit fängt der Kampf dann aber gerade erst an.”
Eine Rettung ist oft eine sehr chaotische Szene: Wenn sich Mannschaften von freiwilligen Helfern einem Boot nähern, kann Panik ausbrechen. Die dehydrierten, sonnenverbrannten Passagiere schreien, weinen und springen manchmal ins Meer – aus Angst, dass man sie wieder nach Hause schickt. Diejenigen, die über den Seeweg kamen – besonders die Kinder –, werden noch jahrelang Angst vor dem Meer haben.
Als einige benommene Flüchtlinge von einer Schiffsmannschaft an Bord gebracht wurden, die von Humanity Crew trainiert wurde, beglückwünschten die Crewmitglieder die Kinder dafür, ihre Familien gerettet zu haben, fragten nach Autogrammen und machten Fotos mit ihnen. Nach 15 Minuten veränderten sich die Kinder völlig. Sie erzählten selbstbewusst davon, wie sie die Lage gerettet hatten. Als sie später in einem Lager auf Lesbos unterkamen, machten Geschichten und Lieder über ihren Mut die Runde.
„Kinder haben sehr formbare Gehirne“, sagt Daod. „Wenn man korrekt interveniert, während sich das Trauma noch formt, kann man eine traumatische Erfahrung in eine Erfahrung umwandeln, die das Kind bestärkt.“


Als im Jahr 2015 tagtäglich Tausende Flüchtende in Booten ankamen, reiste Daod als freiwilliger Arzt nach Lesbos. Als er später nach Israel zurückkehrte, fingen die Alpträume an. Immer wieder verfolgte ihn das Bild eines Kindes, das er aus dem Wasser gezogen und wiederbelebt hatte. „Okay, ich habe ihn gerettet, ihn erfolgreich wiederbelebt – und sonst?“, dachte Daod sich „Er wird für den Rest seines Lebens traumatisiert sein. Wenn ich ihm keine Hilfe für seine psychische Gesundheit leiste, sollte ich ihm auch keine Hilfe für sein Leben leisten.“
“Erste Hilfe darf nicht nur für den Körper sein, sie muss auch für den Geist und die Seele geleistet werden.”
Um diesen schier endlosen und größtenteils ignorierten Bedarf nach psychologischer Fürsorge anzugehen, gründete er zusammen mit anderen Helfern Humanity Crew. Das kleine Team verfolgte einen neuen Ansatz: Anstatt psychologische Traumata einfach als Nebeneffekt der Flucht und Vertreibung aus der Heimat anzusehen, betrachteten sie diese als es ebenso wichtig wie Decken und Nahrung – wenn nicht gar als noch wichtiger. „Erste Hilfe darf nicht nur für den Körper sein, sie muss auch für den Geist und die Seele geleistet werden“, sagt Daod.
Seenotrettern brachten sie bei, wie sie das Narrativ von traumatischen Ereignissen formen konnten, während sie passierten. Später begannen sie, jede der vier Phasen eines Traumas zu behandeln, das ein Flüchtender durchläuft: das Verlassen der Heimat, das Eintreffen in einem Übergangszentrum oder einem Lager, die Asylsuche und der Umzug in ein neues Land.


In fremden Ländern sehen sich Geflüchtete, insbesondere Minderjährige, einer Reihe von neuen Gefahren gegenüber. Die humanitäre Hilfe krankt an Unterfinanzierung – der Flüchtlingsbehörde der Vereinten Nationen fehlen in diesem Jahr 1,5 Milliarden Dollar –, sodass sich viele Menschen von schlecht ausgestatteten und gefährlichen Lagern aus auf die Suche nach Arbeit machen. Allein in Griechenland gibt es etwa 22.500 Flüchtlingskinder, von denen UNICEF zufolge nur die Hälfte eine Schule besucht. In den meisten Ländern ist es illegal, Geflüchtete offiziell anzustellen, sodass sie auf illegale Tätigkeiten ausweichen – Schwarzarbeit, Bettelei und Prostitution.
Die psychischen Probleme der Geflüchteten sind thematisch mittlerweile zwar mehr in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt, aber nach wie vor gibt es nicht genügend finanzielle Mittel und konkrete Maßnahmen in diesem Bereich. „Wir müssen die Notfallversorgung für Menschen viel weiter definieren und nicht nur die körperlichen Risiken einbeziehen, sondern auch die psychologischen“, sagt Nutt von der Organisation War Child. „Es gibt diese Vorstellung, dass psychologische Betreuung eher ein ‚weicher‘, sekundärer Faktor ist, verglichen mit ‚härteren‘ Faktoren wie der Anzahl der Decken, die man verteilt, oder der Zelte, die man aufstellt.“
Daod zufolge werden die Projekte für die psychologische Fürsorge, die es in Griechenland gibt, nicht priorisiert. Oft arbeiten dort Leute, die kein Arabisch sprechen oder Traumata nicht im passenden kulturellen Kontext verstehen. Ein schädlicher Trend sind auch kurzfristige Freiwillige, die tiefe Bindungen zu Kindern aufbauen und dann wieder gehen. Unqualifizierte freiwillige Helfer würden in den USA auch nicht eingesetzt, um Überlebende eines Schulmassakers zu betreuen, sagt Daod. Seiner Meinung nach sollte das Gleiche auch für die Betreuer von Kriegsüberlebenden in einem Flüchtlingslager gelten.


Der effizienteste Weg bestünde darin, diese Probleme so früh wie möglich anzugehen. Kurzsichtigkeit würde hingegen den Weg für eine verlorene Generation ebnen. Doad sagt jedenfalls eine düstere Zukunft voraus, wenn die Krise im Bereich der psychischen Gesundheit der jungen Geflüchteten weiterhin ignoriert wird. „Der Terrorismus rekrutiert keine Menschen – er füllt Lücken, und die psychische Gesundheit ist eine große Lücke“, sagt er. „[Die Extremisten] werden kommen und ihrem Leben eine Bedeutung geben, nachdem sie jahrelang in den Slums von Athen in Lagern gesessen haben.“
Wie auch immer die Zukunft aussehen mag – jene, die in Europa ein Leben suchen wollten, haben die dunkelste Seite der Menschheit erlebt und sind nun in der Schwebe gefangen, ohne Möglichkeiten, ihre Erfahrungen zu verarbeiten. Nach dem Krieg gibt kein „normales Leben“, in das sie zurückkehren könnten. „Diese Vorstellung, dass die Menschen zu einer Normalität zurückkehren können, ist ein Mythos“, sagt Nutt. „Man kann ihnen dabei helfen, mit ihrem Leben fertig zu werden, aber dafür sind langfristige Strategien und Ressourcen nötig. Leider denken die meisten Regierungen sehr kurzfristig und die Menschen haben dann das Nachsehen.“
Das Projekt Entstand in Zusammenarbeit mit Ärzte ohne Grenzen.
