Lager Sylt: Archäologen werfen Licht auf ein „vergessenes“ KZ auf Kanalinseln
Eine zehnjährige Untersuchung förderte auf der Insel Alderney ein Kapitel des Zweiten Weltkriegs zutage, das viele lieber vergessen würden.
Die Pfeiler des Eingangstores zum KZ Sylt zählen zu den wenigen verbleibenden, gut sichtbaren Überresten des Lagers auf der Kanalinsel Alderney.
Heutzutage ist das ehemalige Lager Sylt kaum mehr als eine grasbewachsene Fläche über den zerklüfteten Klippen der Kanalinsel Alderney. Aber noch vor 75 Jahren war es ein gefürchtetes und streng bewachtes deutsches Gefängnis, in dem hunderte Männer durch die Hände ihrer nationalsozialistischen Wärter litten und starben.
Mit Kriegsende wurden das Lager Sylt und einige kleinere deutsche Lager auf Alderney geräumt, demontiert und langsam von der Vegetation gefressen. Ein Team aus britischen Archäologen hat das Lager Sylt nun rekonstruiert und seine Entwicklung während seiner kurzen, aber brutalen Geschichte rekonstruiert. Ihre Forschungsergebnisse veröffentlichen sie im Fachmagazin „Antiquity“.
Caroline Sturdy Colls ist eine Archäologin und Expertin für Stätten des Holocaust – und die Hauptautorin der Studie. Ihr zufolge wurden die Beweise für die Verbrechen, die im Lager begangen wurden, „sowohl physisch wie auch metaphorisch vergraben“.
Lage der Kanalinsel Alderney.
„Ich bin eine britische Bürgerin und Forscherin und hatte noch nie von den Grausamkeiten gehört, die sich im Zweiten Weltkrieg auf Alderney zugetragen hatten, bis ich die Forschung für meine Doktorarbeit begann“, sagt Sturdy Colls. Sie ist mittlerweile eine Professorin für Konfliktarchäologie und Genozidforschung an der Staffordshire University in England. „Mir war schon bewusst, dass die Deutschen die Kanalinseln besetzt hatten – aber mir war nicht wirklich klar, dass sie diese Lager gebaut hatten.“
Sturdy Colls und ihre Kollegen wollten herausfinden, inwiefern die Methoden der forensischen Archäologie die Geschichte dieser Lager ans Licht bringen könnten. Sie begannen im Jahr 2010 damit, das Lager Sylt zu erforschen, und kombinierten dafür Hinweise aus archivierten Aufzeichnungen, historischen Luftaufnahmen und neuen, nicht invasiven Vermessungstechniken wie LiDAR und Bodenradar.
Ein wichtiger Aspekt ihrer Forschung bestand vor allem darin, einfach zu beweisen, dass ein Großteil des Lagers auch heute noch existiert. Auf der Insel ist die Geschichte dieser Stätte ein Tabuthema. Sturdy Colls zufolge haben einige Bewohner von Alderney ihr Projekt befürwortet. Aber das Team stieß auch auf Ablehnung und Hindernisse, vor allem von lokalen Behörden. Der Unmut über ihre Arbeit nahm insbesondere 2019 zu, nachdem eine Dokumentation namens „Adolf Island“ auf ihre Forschungen zu dem Lager Bezug nahm und die Theorie aufstellte, dass es dort noch unbekannte Massengräber auf dem Friedhof aus dem Zweiten Weltkrieg geben könnte.
Eine Luftaufnahme des Lagers Sylt aus dem Jahr 2017 offenbart, dass nur wenige Teile der Anlage am Boden noch sichtbar sind. Eine Gedenkplakette (Markierung A) wurde 2008 von einem Überlebenden des Lagers angebracht.
Ein vergessenes KZ
Nachdem Frankreich im Juni 1940 an die Nazis gefallen war, entschied die britische Regierung, dass es zu schwierig sein würde, die Kanalinseln zu verteidigen. Das Archipel, dass eine Kronbesitzung der britischen Krone ist, befindet sich zwischen Frankreich und England. Während viele Zivilisten auf den zwei größten Kanalinseln Jersey und Guernsey blieben, wurde Alderney fast vollständig evakuiert. Als die Deutschen in jenem Juli auf der 7,8 Quadratkilometer großen Insel anlandeten, trafen sie praktisch auf keinerlei Widerstand.
Die besetzten Kanalinseln wurden Teil des Verteidigungssystems der Nazis, das sich entlang der Westküste Europas erstreckte. Um die Befestigungen auf Alderney zu erbauen, errichtete die paramilitärische Bautruppe Organisation Todt diverse Zwangsarbeitslager auf der Insel. Die meisten Gefangenen kamen aus der Ukraine, Polen, Russland und anderen sowjetischen Gebieten. Einen beträchtlichen Anteil machten aber auch französischstämmige Juden aus. Im März 1943 wurde das Lager Sylt – damals schon das gefürchtetste Arbeitslager auf Alderney – zum Konzentrationslager umgebaut und von den SS-Totenkopfverbänden betrieben.
Die Einwohner Alderneys, die während des Kriegs evakuiert wurden, werden bei ihrer Rückkehr 1946 von britischen Truppen auf der Insel willkommen geheißen.
Nach dem Krieg kehrten die Zivilisten nach Alderney zurück und das britische Militär untersuchte die verlassenen und teilweise zerstörten Lager. Die Ermittler kartierten die Überreste vom Lager Sylt und sammelten Zeugenberichte, in denen von Hundeangriffen, körperlichen Misshandlungen und Erschießungen die Rede war. Sie rekonstruierten, was geschah, wenn einer der Gefangenen starb: Der Lagerarzt durfte den Leichnam oft nicht begutachten und musste vorgedruckte Totenscheine unterschreiben. Die Todesursache wurde dort für gewöhnlich mit „Herzversagen“ oder „Durchblutungsstörungen“ angegeben. Auf einem Friedhof der Insel entdeckten die Ermittler einen Sarg mit einem doppelten Boden.
Weitere Berichte von Gefangenen, die in den folgenden Jahrzehnten gesammelt wurden, offenbarten noch mehr Details über die unmenschliche Behandlung der Gefangenen. Francisco Font, ein spanischer Republikaner und Zwangsarbeiter in einem der Lager auf Alderney, erinnert sich daran, dass er bei der Arbeit in der Nähe von Sylt einen Mann gesehen hat, der am Eingangstor „aufgehängt“ worden war. „An seiner Brust hatte er ein Schild, auf dem geschrieben stand: für das Stehlen von Brot“, erzählt Font in einer Aufzeichnung, die in einem Archiv auf Jersey aufbewahrt wird. „Sein Leichnam wurde dort vier Tage lang hängen gelassen.“
Oft bekamen die Gefangenen gerade so viel zu essen, dass sie überlebten. Die raue See verhinderte aber mitunter, dass Nahrungslieferungen regelmäßig eintrafen. Selbst an diesen mickrigen Rationen mangelte es deshalb manchmal, sagt der Historiker Paul Sanders. Durch die Kombination aus Mangel und der Korruption unter den SS-Offizieren „erhielten die Gefangenen sogar noch weniger Essen als in anderen Teilen des besetzten Europas“, erklärt Sanders, der ein Buch über die deutsche Besatzung der britischen Kanalinseln geschrieben hat. Auf Alderney kam zu dieser „besonders tödlichen Kombination“ noch die Abwesenheit ziviler Zeugen dazu.
„Für die Täter macht es einen Unterschied, ob sie von der Zivilbevölkerung beobachtet werden“, sagt Sanders. „Der Umstand, dass es auf ganz Alderney nicht ein einziges ziviles Augenpaar gab, das beobachtete, was dort vor sich ging, führte zu einem ungemein brutalen Umfeld.“
Die Widerentdeckung des Lagers
Die Archäologen kombinierten mehrere Fotografien, um ein 3D-Modell eines Tunnels zu erstellen, der unterirdisch vom Haus des Nazikommandanten auf das Gelände des Lagers Sylt führte.
Im Rahmen ihrer neuen Studie fanden Sturdy Colls und ihr Team physische Beweise für die Zeugenberichte über die schlimmen Bedingungen im Lager Sylt. Sie kartierten die niedrigen Senken der ehemaligen Baracken des Lagers und bestätigten Berichte, laut denen viel zu viele Menschen auf kleinstem Raum lebten: Jeder Gefangene hätte im Bestfall anderthalb Quadratmeter zur Verfügung gehabt. Als die Forscher die Stätte von der natürlichen Vegetation befreiten, entdeckten sie auch die Toiletten der Gefangenen. Außerdem fertigte das Team digitale Visualisierungen bestimmter Bereiche an – beispielsweise ein unterirdischer Tunnel, der vom Haus des Kommandanten zum Lager führte –, die vor Ort aufgrund der schlechten Lichtverhältnisse nicht gut sichtbar waren.
Mit Hilfe historischer Luftaufnahmen konnten die Forscher auch rekonstruieren, wie drastisch die Größe und die Sicherheitsvorkehrungen des Lagers Sylt zugenommen hatten, nachdem es 1943 von einem Arbeitslager zu einem Konzentrationslager umgewandelt worden war.
Die SS hatte beispielsweise große Anstrengungen unternommen, um das Lager mit imposanten Zäunen und Wachtürmen auszustatten, die zweifelsfrei einen psychologischen Effekt auf die Insassen hatten.
„Eigentlich waren diese Maßnahmen gar nicht nötig, weil es eine Ecke auf einer kleinen Insel war, die von Minenfeldern umgeben war“, sagt Sturdy Colls. „Die Gefangenen hätten nirgends hingekonnt.“
Gedenken an das Lager Sylt
Nach wie vor wird darüber debattiert, wie genau das Erbe des Lagers Sylt und Alderneys unter der Besetzung der Nazis heutzutage präsentiert werden sollte. Eines der wenigen deutlich sichtbaren Bauwerke des Lagers, die noch verblieben sind, sind die Pfeiler des Haupteingangstors. Einer der steinernen Pfeiler ist mit einer kleinen Plakette versehen, die dort 2008 im Rahmen einer Zeremonie angebracht wurde – auf Bitten ehemaliger Gefangener.
Bisher wurden Anträge auf die Ausgrabung von Lager Sylt abgelehnt, sagt Sturdy Colls. Gerade deshalb ist die forensische Studie der Stätte, die ihr Team durchgeführt hat, umso wichtiger.
„Wir sind nicht die ersten, die entdecken, dass dieses Lager existiert hat. Aber trotz all dieser Zeugenberichte und trotz aller vorherigen Bemühungen war die Geschichte dieser Stätte unbekannt“, erzählt die Forscherin.
„Das Ziel unserer Arbeit war es, die Geschichten der Leute, die dort gelitten haben, mehr Menschen zugänglich zu machen.“
„Ich glaube, die Studie wird Alderney dabei helfen, das Ausmaß der Spuren zu sehen, die das Lager Sylt in der Landschaft hinterlassen hat – und deshalb auch darüber nachzudenken, wie das Lager in Zukunft in der Strategie für das geschichtliche Erbe der Insel genutzt werden könnte“, sagt Gillian Carr, eine Archäologin der University of Cambridge. Carr hat die Besetzung der Kanalinseln erforscht, war aber in dieser Studie nicht beteiligt.
Ende 2017 hat die Regierung Alderneys das Lager Sylt formal zu einem Schutzgebiet erklärt. Damit sind dort nun Bauprojekte verboten, die die Stätte schädigen oder zerstören könnten. Graham McKinley, ein Abgeordneter der States of Alderney, würde das Lager Sylt gern für Besucher zugänglicher machen. Er versucht, ein Komitee wiederherzustellen, das Möglichkeiten zur Erforschung, zum Erhalt und zum Denkmalschutz der Stätte untersuchen könnte.
„Es gibt nach wie vor eine kleine Gruppe von Leuten, die mit der Vergangenheit abschließen wollen, ohne sie allzu genau zu betrachten“, sagt McKinley. „Ich glaube, dass wir viel mehr tun sollten, um der Welt zu zeigen, was hier wirklich passiert ist.“
Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.