Mythos Absinth: Die Rückkehr der Grünen Fee

Die legendäre Spirituose umweht der Hauch des Verruchten. Jahrzehntelang war der Absinth geächtet, heute wird er wieder begeistert getrunken – vor allem in seiner Heimat Frankreich und der Schweiz.

Von Carolyn Boyd
Veröffentlicht am 25. Juni 2020, 14:47 MESZ
Mythos Absinth

Trinkkultur: Stilecht trinkt man den Schnaps à la Parisienne – mithilfe eines Absinthbrunnens, aus dem eiskaltes Wasser auf einen Zuckerwürfel tropft, der auf einem gelochten Löffel liegt.

Foto von Idijatullina Veronika, Stock.adobe.com

Als ich den ersten Schluck aus meinem Glas nehme, erwarte ich fast, dass Polizisten hinter den Bäumen hervorspringen und mich festnehmen – wegen des Konsums illegaler Substanzen. Ich stehe mitten im Wald an einem Brunnen namens Fontaine à Louis, der von einer Quelle gespeist wird. Hier, im Schweizer Juragebirge, ist der Absinth zu Hause.

Lieblingsgetränk der Pariser Bohème

Yann Klauser, der Direktor des örtlichen Absinth-Museums Maison de l’Absinthe, gießt den Schnaps in seinem Glas mit Quellwasser auf. „Während der gut 100 Jahre, in denen der Absinth hier verboten war, hat man ihn heimlich an Orten wie diesem im Schutz der Bäume getrunken“, erklärt er mir. In Deutschland war die Spirituose von 1923 bis 1998 illegal, in der Schweiz ist der Genuss seit 2008 wieder erlaubt, in Frankreich seit 2011. Bis heute jagt der Name Absinth so manchem Spirituosenfreund einen wohligen Schauer über den Rücken. In den rauschenden Tagen der Belle Epoque avancierte la Fée Verte (die „Grüne Fee“) zum bewusstseinserweiternden Lieblingsgetränk von Zola, van Gogh, Rimbaud, Toulouse-Lautrec und anderen Künstlern der Pariser Bohème. Auch wo er nicht verboten war, haftete ihm der Beigeschmack gefährlicher Extravaganz an – als trendige Zutat in Cocktails wie dem Sazerac und dem Corpse Reviver No. 2 oder als brennender, von furchtlosen Teufelskerlen hinuntergekippter Kurzer.

Absinth zu Unrecht berüchtigt?

Mit einem Alkoholgehalt zwischen 50 und 60 Prozent ist Absinth tatsächlich nichts für Zartbesaitete, aber meine Reise in seine Heimat, das Grenzgebiet zwischen der Schweiz und Frankreich, überzeugt mich zunehmend, dass er zu Unrecht berüchtigt ist. Hier gibt es das wirklich gute Zeug: einen frischen Schnaps, destilliert aus bis zu zehn verschiedenen pflanzlichen Komponenten, darunter Anis, Minze und Zitronenmelisse, die die bittere Note der Hauptzutat Wermut abmildern. Traditionell wird Absinth à la Parisienne serviert. Die zentrale Rolle bei diesem aufwendigen Ritual spielt der Absinthbrunnen, ein großer, kunstvoll verzierter, auf einem Gestell befestigter Topf mit mehreren Zapfhähnen. Aus diesen lässt man eiskaltes Wasser auf einen Zuckerwürfel tropfen, der auf einem gelochten Löffel über den Gläsern mit Absinth liegt. Sobald der Schnaps mit dem Wasser in Berührung kommt, wird er milchig wie ein Pastis. In den Bars und Probierstuben der ortsansässigen Destillerien ist diese Prozedur unerlässlicher Teil des Erlebnisses. Doch bei aller Neigung zur Nostalgie strebt die Branche auch entschlossen in Richtung Zukunft. Sie erlebt eine Renaissance, die mit dem Comeback des Gin in Großbritannien vergleichbar ist: In den traditionellen Absinthregionen kreieren Dutzende kleiner, familiengeführter Brennereien ihre eigenen Kräutermischungen.

Reiseroute auf den Spuren des Absinth

Meine Reise beginnt in Pontarlier, einem ruhigen Städtchen am Fuß des Jura im Osten Frankreichs. Ende des 19. Jahrhunderts gab es hier 25 Absinthdestillerien, die für den Lebensunterhalt von gut 3000 der etwa 8000 Einwohner sorgten. Entsprechend ist dem Getränk heute ein ganzes Stockwerk des städtischen Museums gewidmet. Die Kulturbeauftragte Elise Berthelot erzählt mir, dass die Beliebtheit des Absinth den Unmut der Weinindustrie erregte, insbesondere als ein Schädlingsbefall in den Weinbergen der Region die Preise in die Höhe trieb. Schon bald starteten Kirche und Behörden eine groß angelegte Kampagne gegen die konkurrierende Spirituose. Schaurige Plakate aus dieser Zeit veranschaulichen im Museum, wie die „Grüne Fee“ alle, die sich von ihr verführen ließen, sicher ins Verderben stürzte. „Als gefährlich galt das Nervengift Thujon, das in der Wermutpflanze enthalten ist. Aber: Um dessen schädliche Wirkung zu beweisen, wurde es Mäusen ins Gehirn injiziert. Dass Menschen Thujon nicht auf diese Weise zu sich nehmen, ist wohl klar“, sagt Bertholet und verdreht die Augen. Als 1904 ein Schweizer Arbeiter im Absinthrausch seine Familie tötete, brachte das das Fass zum Überlaufen: Der Konsum wurde als Erstes in der Schweiz verboten, in den darauffolgenden Jahrzehnten schlossen sich viele andere Länder an.

Traditionelle Rezepte mit Absinth

Beim Mittagessen mit Fabrice Hérard, dem Leiter des französischen Teils der Route de L’Absinthe (einer touristischen Themenroute durch Frankreich und die Schweiz), lasse ich mir ein in der Spirituose flambiertes Steak schmecken, serviert mit einer köstlichen Absinthsauce. „Ich habe mich immer gewundert, dass die Franzosen das Verbot trotz ihrer berühmten Aufmüpfigkeit einfach akzeptiert haben“, merkt Hérard an. „Die Schweizer dagegen, denen ja eine gewisse Fügsamkeit nachgesagt wird, haben im Val de Travers einfach heimlich weitergemacht.“ Zum Glück – sonst wären viele der Rezepte und Herstellungsmethoden wohl verloren gegangen. Das Val de Travers ist ein weites, grünes Tal mit Dörfern, deren Geschichte eng mit dem Absinth verknüpft ist. Yann Klauser empfängt mich im Absinth-Museum. Es ist in einem ehemaligen Gerichtsgebäude untergebracht – und zeigt deutlich, dass der Absinth nie wirklich verschwunden war. „Früher tranken die Menschen in den Wirtschaften angeblich Ovomaltine aus undurchsichtigen Tassen“, erzählt der Museumsdirektor. „In Wirklichkeit befand sich Absinth darin.“ Um den Destillationsprozess zu verschleiern und den Alkoholgeruch zu überdecken, verbrannte man Autoreifen oder rührte in Jauchegruben. Und das fertige Produkt wurde zum Beispiel in wiederverwendeten Ananasdosen getarnt. Manchmal siegte auch schlicht die Dreistigkeit über das Gesetz. Klauser erzählt von einem Besuch des damaligen französischen Präsidenten François Mitterand im Jahr 1983. Als Dessert hatte ein einheimischer Koch für den hohen Gast ein kaltes Soufflé mit der speziellen Zutat Absinth zubereitet. Ein anwesender französischer Journalist rief überrascht aus: „Ist Absinth nicht verboten?“ Den Koch habe das nicht beunruhigt, gelassen habe er geantwortet: „Klar!“ Beim Mittagessen habe ich Gelegenheit, das Dessert zu probieren. Es schmeckt köstlich – der Absinth verleiht dem feinen Soufflé eine zarte Minznote. In der Museumsbar, deren kühle Modernität in ziemlichem Kontrast zu dem idyllischen Dörfchen vor der Tür steht, bewundere ich die 28 Absinthsorten von 17 Schweizer Destillerien – alle haben wunderschöne Etiketten, verziert mit Feen, Jugendstilornamenten oder Kopien historischer Plakate. Die meisten Hersteller der Gegend produzieren einen klaren Schnaps, es gibt aber auch einige grüne Sorten. „Die Farbe entsteht durch das Chlorophyll von Nessel, Minze, Eisenkraut oder sogar Spinat. Es ist sehr schwierig, das richtige Mischungsverhältnis und die gewünschte Farbe zu bekommen“, erklärt Klauser.

In Boveresse, dem nächsten Ort, führt Philippe Martin die einst geheime Destillerie seiner Familie weiter. Schon in seiner Kindheit war der Absinth allgegenwärtig. „Mein Vater war Alkoholschmuggler, wie sein Onkel. Irgendjemand in der Familie hatte immer damit zu tun. Ich weiß noch, dass die Badewanne genutzt wurde, um die Destille zu kühlen, als ich klein war.“ Martins Brennerei La Valote Martin, ist eine der wenigen, die jeden Schritt des Entstehungsprozesses selbst übernimmt – vom Anbau der Pflanzen über deren Trocknung bis hin zur Herstellung des Absinth. Die Kupferdestillen nehmen einen Ehrenplatz auf einer der riesigen Feuerstellen des Bauernhauses ein, im Garten wachsen die Wermutpflanzen neben anderen benötigten Kräutern und Blumen. Wir steigen eine knarzende Treppe zum Dachboden hinauf, wo die Pflanzen getrocknet werden. Das letzte Stück Stiege ist fast so steil wie eine Leiter. Oben hängen die grauen Blüten in Bünden an langen Reihen alter Holzgestelle. Ein würziger Duft weht durch den Raum, diffuses Licht scheint durch die Fenster. Fast rechne ich damit, in einer der Ecken die alte Miss Havisham aus Charles Dickens’ Roman „Große Erwartungen“ zu entdecken. Unseren Rundgang beenden wir mit einer Verkostung in der kleinen Probierstube. Dort erklärt mir Martin, dass viele Brenner heute Absinthe kreieren, die von sich aus so süß sind, dass man sie auch ohne Zucker trinken kann. Der Geschmack seiner Version ist frisch, die Schärfe des Anis wird durch eine angenehme Komposition anderer pflanzlicher Aromen aufgefangen. Später fahre ich mit Yann Klauser zu einem Waldweg, der zu einer geheimen Absinthhöhle früherer Zeiten führt. Eine Viertelstunde später erreichen wir die Quelle und füllen unsere Gläser mit klarem Wasser auf. „Santé!“, prosten wir uns zu. Ich bin nun ganz sicher, dass weder meine körperliche noch meine geistige Gesundheit in Gefahr sind.

Aus dem Englischen von Gundula Müller-Wallraf

National Geographic Reise-Tipps:

ANREISE Die am günstigsten gelegenen Flughäfen sind Lyon in Frankreich und Basel-Mulhouse-Freiburg im Elsass. Um die eher ländliche Region zu erkunden, bietet es sich an, einen Mietwagen zu nehmen.

ÜBERNACHTEN In der Frühstückspension La Maison d’à Côté in Portarlier gibt es zwei mit Dachbodenfunden liebevoll dekorierte Doppelzimmer. lamaison-da-cote.fr

INFORMATIONEN Die Webseite der Route de l’Absinthe vermittelt alles Wissenswerte über die Destillerien, Boutiquen, Museen und Waldquellen zu beiden Seiten der Grenze. Um eine Destillerie zu besichtigen, empfiehlt sich eine Anmeldung. routedelabsinthe.com

 

Der Artikel wurde ursprünglich in der Januar 2020-Ausgabe des deutschen National Geographic Traveler veröffentlicht. Keine Ausgabe mehr verpassen und jetzt ein Abo abschließen!

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