Wie das Fahrrad die Welt revolutionierte

Heute eine Selbstverständlichkeit: das Fahrrad. Aber im 19. Jahrhundert beflügelte es die Emanzipation der Frau und brachte preiswerte Mobilität in alle Gesellschaftsschichten.

Von Roff Smith
Veröffentlicht am 22. Juni 2020, 11:54 MESZ
Die erste Tour de France wurde im Juli 1903 ausgetragen. Von den 60 Radfahrern, die am ...

Die erste Tour de France wurde im Juli 1903 ausgetragen. Von den 60 Radfahrern, die am ersten Rennen teilnahmen, absolvierten nur 21 die zermürbende 2.400 Kilometer lange Strecke. Der Tour-Organisator Henri Desgrange ist für seinen Ausspruch berühmt, dass die ideale Tour de France so schwierig wäre, dass nur ein einziger Teilnehmer das Ziel erreichen würde.

Foto von Universal History Archive, Universal Images Group, Getty

Manchmal wiederholt sich die Geschichte zwar nicht – aber sie reimt sich ein wenig. Die Nachfrage nach Fahrrädern steigt aktuell und etliche Länder bereiten sich darauf vor, Milliarden für die Neugestaltung ihrer Städte auszugeben – mit einem neuen Schwerpunkt auf Radfahrer und Fußgänger. Es wäre nicht die erste Revolution, die das Fahrrad ausgelöst hat.

Im späten 19. Jahrhundert erwies es sich der Drahtesel als bahnbrechende neue Technologie, deren Auswirkungen vergleichbar mit dem Siegeszug des Smartphones sind. Für ein paar berauschende Jahre in den 1890er Jahren war das Fahrrad das ultimative Must-have – ein schnelles, erschwingliches und elegantes Transportmittel, das einen überall und jederzeit kostenlos hinbringen konnte.

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Fast jeder konnte das Radfahren erlernen, und fast jeder tat es. Der Sultan von Sansibar fuhr mit dem Rad. Der Zar von Russland ebenfalls. Der Amir von Kabul kaufte Fahrräder für seinen gesamten Harem. Aber es war die Mittel- und Arbeiterklasse rund um den Globus, die sich das Fahrrad wahrhaftig zu eigen machte. Zum ersten Mal in der Geschichte waren die Massen mobil und konnten kommen und gehen, wie es ihnen gefiel. Teure Pferde und Kutschen waren nicht mehr nötig. Der „Volksgaul“, wie das Fahrrad im Englischen auch genannt wurde, war nicht nur leicht, erschwinglich und wartungsfreundlich, sondern auch das schnellste Fortbewegungsmittel auf den Straßen.

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    In den 1890er Jahren wurde das Fahrrad zum Symbol der Neuen Frau, die unabhängig und fortschrittlich war und politische Teilhabe forderte. In „Godey’s“, der damals wichtigsten Frauenzeitschrift der USA, hieß es: „Für die Tochter des 19. Jahrhunderts ist der Besitz eines Fahrrads ihre Unabhängigkeitserklärung.“

    Foto von Illustration by O.C. Malcolm, courtesy the Library of Congress

    In den 1940er Jahren bauen Arbeiterinnen in der Fabrik von Hercules Cycle in Birmingham Fahrradräder zusammen. Das 1910 gegründete Unternehmen Hercules war in den 1930er Jahren einer der größten Fahrradhersteller der Welt und produzierte mehr als 1.000 Fahrräder pro Tag.

    Foto von Hulton-Deutsch Collection, CORBIS/Corbis

    Es transformierte die Gesellschaft. Besonders Frauen waren begeistert und legten ihre schwerfälligen viktorianischen Röcke ab. Stattdessen trugen sie Pluderhosen (ein Skandal!) und „vernünftige“ Kleidung und eroberten in Scharen die Straße. „Ich glaube, das Radfahren hat mehr zur Emanzipation der Frau beigetragen als alles andere auf der Welt“, sagte Susan B. Anthony 1896 in einem Interview mit der New Yorker Sunday World. „Ich stehe jedes Mal auf und freue mich, wenn ich eine Frau auf einem Rad vorbeifahren sehe [...] es ist das Bild einer freien, ungehemmten Weiblichkeit.“

    Bis 1898 war das Radfahren in den Vereinigten Staaten so populär geworden, dass das „New York Journal of Commerce“ behauptete, es koste Restaurants und Theater jährlich mehr als 100 Millionen Dollar an verlorenen Einnahmen. Die Fahrradproduktion wurde zu einer der größten und innovativsten Industrien Amerikas. Ein Drittel aller Patentanmeldungen betrafen Fahrräder – so viele, dass das US-Patentamt einen separaten Anbau errichten musste, um sie alle zu bearbeiten.

    Von der Kuriosität zum Must-have

    Gemeinhin wird die Erfindung des modernen Fahrrads dem Engländer John Kemp Starley zugeschrieben, der damit als erster kommerziell erfolgreich war. Sein Onkel, James Starley, hatte in den 1870er Jahren das Hochrad entwickelt. Der junge Starley vermutete, dass die Nachfrage nach Fahrrädern größer wäre, wenn sie nicht so furchterregend und gefährlich zu fahren wären. 1885 begann der damals 30-jährige Erfinder, in seiner Werkstatt in Coventry mit einem kettengetriebenen Fahrrad zu experimentieren, das zwei deutlich kleinere Räder besaß. Nachdem er mehrere Prototypen getestet hatte, entwickelte er das Sicherheitsniederrad „Rover“. Das etwa 20 Kilogramm schwere Gerät sah schon mehr oder weniger wie heutige Fahrräder aus.

    Als Starleys Erfindung 1886 erstmals auf einer Fahrradmesse gezeigt wurde, galt sie als Kuriosität. Aber nur zwei Jahre später wurde sie mit den gerade neu erfundenen Luftreifen kombiniert. Es Ergebnis war magisch: Die Bereifung federte Unebenheiten ab und machte das Fahrrad etwa 30 Prozent schneller.

    Der erste Superstar des Radsports war der Amerikaner Marshall Walter „Major“ Taylor. Er professionalisierte sich 1896 als Teenager und stellte im Laufe seiner Radsportkarriere sieben Weltrekorde auf. Sein Rekord für die schnellste Meile aus dem Start (1:41) blieb 28 Jahre ungebrochen.

    Foto von GL Archive, Alamy

    Fahrradhersteller auf der ganzen Welt drängten auf den Markt, um ihre eigenen Modelle anzubieten. Hunderte von neuen Unternehmen schossen aus dem Boden, um die gigantische Nachfrage zu befriedigen. Auf der Stanley Bicycle Show in London stellten 1895 rund 200 Fahrradhersteller 3.000 Modelle aus.

    Einer der größten Hersteller war Columbia Bicycles, dessen Fabrik in Hartford, Connecticut, dank seiner automatisierten Fertigungsstraße in der Lage war, ein Fahrrad pro Minute herzustellen. Diese bahnbrechende Technologie sollte eines Tages zum Markenzeichen der Automobilindustrie werden. Als Spitzenarbeitgeber in einer boomenden Branche stellte Columbia seinen Mitarbeitern außerdem Fahrradparkplätze, private Schließfächer, subventionierte Mahlzeiten in der Betriebskantine und eine Bibliothek zur Verfügung.

    Die unersättliche Nachfrage nach Fahrrädern brachte auch andere Industrien hervor – Kugellager, Draht für Speichen, Stahlrohre, Präzisionswerkzeugbau –, die die Fertigungswelt noch lange, nachdem das Fahrrad in die Spielzeugabteilung verbannt worden war, prägen sollten. Auch in der Werbung schlug der Fahrradeffekt seine Wellen. Künstler wurden beauftragt, ästhetische Plakate zu entwerfen, die einen lukrativen Markt für die neu entwickelten Lithografieverfahren boten – diese ermöglichten Drucke in satten, lebendigen Farben. Marketingstrategien wie die geplante Obsoleszenz und die jährliche Einführung neuer Modelle begannen in den 1890er Jahren mit dem Fahrradhandel.

    Das Fahrrad in Genpool und Politik

    Mit einem Fahrrad schien alles möglich, und ganz gewöhnliche Menschen machten sich zu außergewöhnlichen Reisen auf. Im Sommer 1890 radelte ein junger Leutnant der russischen Armee von St. Petersburg nach London – im Schnitt etwa 122 Kilometer pro Tag. Im September 1894 brach die 24-jährige Annie Londonderry mit einem Satz Wechselkleidung und einem Revolver von Chicago aus auf, um als erste Frau die Welt mit dem Fahrrad zu umrunden. Knapp ein Jahr später kam sie wieder in Chicago an und nahm ihren Preis in Höhe von 10.000 Dollar entgegen.

    In Australien fuhren reisende Schafscherer auf der Suche nach Arbeit regelmäßig Hunderte von Kilometern durch das ausgedörrte Outback. Dabei sahen sie aus, als würde sie nur eine Runde im Park spazieren fahren, erinnerte sich der Zeitungskorrespondent C.E.W. Bean in seinem Buch „On The Wool Track“. „Er fragte nach dem Weg, zündete seine Pfeife an, schwang ein Bein über sein Fahrrad und fuhr davon. Wenn er aus der Stadt kam, wie viele Schafscherer, begann er seine Fahrt in einem schwarzen Mantel und mit einer Melone, als würde er nur mal eben zum Tee bei seinen Tanten vorbeifahren.“

    Auch für das Militär war das Fahrrad von Nutzen. Um das zu demonstrieren, unternahm im Sommer 1897 das 25. Regiment der U.S. Army – eine afroamerikanische Einheit namens Buffalo Soldier – eine außergewöhnliche Reise über 3.000 Kilometer von Fort Missoula, Montana, nach St. Louis, Missouri. Mit voller Ausrüstung fuhren die Buffalo Soldiers über raue, schlammige Pisten und legten dabei im Schnitt fast 80 Kilometer pro Tag zurück. Damit waren sie doppelt so schnell unterwegs wie eine Kavallerieeinheit – und zu einem Drittel der Kosten.

    Der Siegeszug des Fahrrads berührte praktisch jeden Bereich des Lebens: Kunst, Musik, Literatur, Mode und sogar den menschlichen Genpool. Die Kirchenbücher in England zeigen einen deutlichen Anstieg der Heiraten zwischen den Dörfern während der Fahrradwelle der 1890er Jahre. Junge Menschen zogen nach Belieben durch die Landschaft, genossen ihre neue Freiheit, trafen sich in entfernten Dörfern und – wie damals von finsteren Moralaposteln bemerkt wurde – waren dabei oft schneller als ihre älteren Anstandsdamen.

    Der englische Musiker Henry Dacre landete 1892 auf beiden Seiten des Atlantiks einen großen Hit mit „Daisy Bell“ und dem berühmten Refrain „a bicycle made for two“ (dt.: „ein Fahrrad für zwei“). Der Schriftsteller H.G. Wells, ein begeisterter Radfahrer und aufmerksamer Beobachter, schrieb mehrere „Fahrradromane“. In deren Mittelpunkt standen die romantischen, befreienden, Möglichkeiten dieses wunderbaren neuen Verkehrsmittels, das die Grenzen zwischen den gesellschaftlichen Klassen verwischte.

    Junge Radfahrer machen 1942 eine Spritztour im New Yorker Central Park. Nachdem sie in den 1890er Jahren die Welt im Sturm erobert hatten, wurden Fahrräder bald in die Spielzeugabteilung verbannt, als Autos die Straßen übernahmen.

    Foto von the Library of Congress

    Wells war nicht der einzige Visionär, der bei der Gestaltung der Zukunft eine Rolle für das Fahrrad sah. „Die Wirkung [des Fahrrads] auf die Entwicklung der Städte wird nichts weniger als revolutionär sein“, schwärmte schon 1892 ein Schriftsteller in einer amerikanischen Soziologiezeitschrift. In einem Artikel mit dem Titel „Wirtschaftliche und soziale Einflüsse des Fahrrads“ (orig.: „Economic and Social Influences of the Bicycle“) prophezeite er sauberere, grünere, ruhigere Städte mit glücklicheren, gesünderen, nach außen orientierten Bewohnern. Dank des Fahrrads, so schrieb er, sehen junge Menschen „mehr von der Welt und erweitern durch diese Kontakte ihren Horizont. Während sie sich ansonsten nur selten weiter als einen Spaziergang von ihrem Zuhause entfernen würden, durchstreifen sie mit dem Fahrrad beständig zahlreiche umliegende Städte, lernen ganze Landkreise kennen und erkunden in den Ferien nicht selten mehrere Bundesstaaten. Solche Erfahrungen bringen einen Zuwachs an Energie, Selbstständigkeit und charakterliche Unabhängigkeit mit sich [...]“.

    Das politische Gewicht von Millionen von Radfahrern und einer der größten Industrien der USA führte zu raschen Verbesserungen auf Stadt- und Landstraßen: Die Radfahrer ebneten buchstäblich den Weg für das künftige Zeitalter des Automobils. Brooklyn eröffnete 1895 einen der ersten Radwege der Nation, eine Route vom Prospect Park nach Coney Island. Etwa 10.000 Radfahrer nutzten ihn allein am ersten Tag. Zwei Jahre später erließ New York City die erste Straßenverkehrsordnung der USA, um der wachsenden Zahl der Raser Einhalt zu gebieten. Der Polizeikommissar der Stadt, Teddy Roosevelt, führte eine Fahrradstaffel ein, um die Raser festzunehmen – denn der Volksgaul war immer noch das schnellste Straßenverkehrsmittel in den Städten.

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    Lange blieb das aber nicht mehr so. Noch ehe das Jahrzehnt vorbei war, hatten Tüftler im Fahrradhandel auf beiden Seiten des Atlantiks herausgefunden, dass sich Räder mit Speichenspannung, Kettenantriebe und Kugellager auch mit Motoren kombinieren ließen. So entstanden noch schnellere Fahrzeuge – nicht so leise wie das Fahrrad und auch nicht so billig im Betrieb, aber mit Spaß am Fahren und profitabel in der Herstellung. In Dayton, Ohio, tüftelten zwei Fahrradmechaniker – die Brüder Wilbur und Orville Wright – an einer Flugmaschine. Sie schnallten Flügel an Fahrräder, um aerodynamische Möglichkeiten zu testen, und finanzierten ihre Forschung mit den Gewinnen aus ihrem Fahrradladen.

    In der nordenglischen Stadt Coventry starb James Kemp Starley, mit dessen Sicherheitsniederrad Rover in den 1880er Jahren alles begonnen hatte, 1901 plötzlich im Alter von 46 Jahren. Zu diesem Zeitpunkt war seine Firma bereits dabei, von der Produktion einfacher Fahrräder auf Motorräder und schließlich umzustellen. Das schien der Weg der Zukunft zu sein: Drüben in Amerika fuhr ein anderer ehemaliger Fahrradmechaniker namens Henry Ford schon ziemlich gut damit.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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