Zu Besuch in Japans Dorf der Hundertjährigen

Die Bewohner von Ogimi scheinen das Geheimnis eines langen Lebens entdeckt zu haben. Auffällig viele der etwa 3.000 Dorfbewohner werden 100 Jahre oder älter – und sind noch ziemlich aktiv und glücklich dabei.

Von Rob Goss
bilder von Alessandro Gandolfi, Parallelozero
Veröffentlicht am 13. Okt. 2020, 14:32 MESZ
Veranstaltungen wie das Ungami-Fest, das in der Shioya-Bucht stattfindet und dem Gott des Meeres gewidmet ist, ...

Veranstaltungen wie das Ungami-Fest, das in der Shioya-Bucht stattfindet und dem Gott des Meeres gewidmet ist, bringen die Gemeinschaft in Ogimi zusammen. Ein stabiles soziales Beziehungsgeflecht soll den Bewohnern des Dorfes angeblich dabei helfen, länger zu leben.

Foto von Alessandro Gandolfi, Parallelozero, Insititute

Das Dorf Ogimi liegt im ländlichen Norden von Okinawa Hontou, der Hauptinsel der Okinawa-Inselgruppe. Dort gibt es eine kleine Steinmarkierung mit einigen japanischen Sätzen. Grob übersetzt kann man dort lesen: „Mit 80 Jahren bist du nur ein Jugendlicher. Wenn dich deine Vorfahren mit 90 Jahren in den Himmel rufen, bitte sie, zu warten, bis du 100 Jahre alt bist – dann kannst du darüber nachdenken.“

Das ist keine bloße Übertreibung: Nach der letzten Zählung sind 15 der 3.000 Dorfbewohner von Ogimi hundert Jahre oder älter. 171 sind in ihren Neunzigern. Selbst in Japan, wo derzeit mehr als 70.000 Menschen über 100 Jahre alt sind, ist das eine bemerkenswerte Statistik.

Haru Miyagi ist eine Witwe, deren Mann im Zweiten Weltkrieg gefallen ist. Sie ist 100 Jahre alt und hat einen Sohn, der in Tokio arbeitet.

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Miyagi ist eine von mehreren Hundertjährigen, die in Ogimi leben, dem „Dorf der Hundertjährigen“.

Foto von Alessandro Gandolfi, Parallelozero, Insititute

Vor COVID-19 wurden Reisende allmählich auf den besonderen Ort aufmerksam. Masataka Nozato vom Büro von Ogimi sagt, dass es einen leichten Besucheranstieg im Dorf gibt, das eigentlich weit abseits der üblichen Touristenpfade liegt. Aber die Leute waren neugierig auf die Langlebigkeit der Bewohner.

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    Die südlich des japanischen Festlands gelegene Insel Okinawa ist einer von fünf Orten auf der Welt, die der Autor und National Geographic Explorer Dan Buettner als „Blaue Zone“ bezeichnet. Dort führen die Menschen seiner Meinung nach das längste und glücklichste Leben. Zu den anderen Blauen Zonen gehören Sardinien, Italien; Nicoya, Costa Rica; Ikaria, Griechenland; und Loma Linda, Kalifornien. All diese Orte halten auch Lektionen darüber bereit, wie man schwierige Zeiten nicht nur durchsteht, sondern auch das Beste aus ihnen macht.

    „Jede Langlebigkeitskultur in der Welt litt unter Zeiten der Not“, sagte Buettner im Interview mit TODAY. „Sie erlebten Kriege, Hungersnöte, die gleiche Art von Stress, unter der wir jetzt leiden, und das ist eine Lektion für uns alle.“

    Was können uns die Okinawaer lehren? Warum haben Ogimi und andere Orte auf der Insel so langlebige Einwohner? Das lasse sich auf drei Hauptfaktoren zurückführen – Ernährung, soziale Bräuche und Genetik –, erklärt Craig Willcox, Professor für öffentliche Gesundheit und Gerontologie an der Okinawa International University. Er ist einer der Hauptforscher der Okinawa Centenarian Study, die seit 1975 die Langlebigkeit auf Okinawa untersucht.

    „Etwa zwei Drittel der Langlebigkeit hängen mit der Ernährung und Lebensweise zusammen, der Rest ist genetisch bedingt. Im Allgemeinen braucht man diesen genetischen Raketenantrieb, wenn man in die Hunderter kommen will, und nicht nur eine gute Ernährung“, so Willcox. „Wir haben nicht untersucht, ob Okinawa einen genetischen Vorteil gegenüber anderen Teilen Japans hat oder nicht. Aber die Langlebigkeit verläuft hier entlang der Familienstammbäume.“

    Essen als Medizin

    Anders als bei der Genetik lässt sich anhand der Ernährung leichter erkennen, wie sich die Einheimischen unterscheiden. Wer in Tokio in ein typisches „Okinawa-Restaurant“ oder in ein Touristenrestaurant auf Okinawa geht, wird eine Speisekarte mit viel Schweinefleisch und hochprozentigem Alkohol finden. Awamori, die feurige regionale Spirituose, hat etwa 40 Prozent. Eine solche Karte ist aber keineswegs repräsentativ für die Insel.

    Chouju-zen, oder „Langlebigkeitsnahrung“, hat viele Nährstoffe, aber wenig Kalorien, was nach Meinung mancher zu einer langen Lebensdauer beiträgt.

    Foto von Alessandro Gandolfi, Parallelozero, Insititute

    Als Priesterinnen spielen die älteren Frauen in Ogimi eine wichtige Rolle beim Ungami-Festival. Sie beteiligen sich an Ritualen, wie z. B. Teezeremonien, und beten um eine reiche Ernte für ihr Dorf.

    Foto von Alessandro Gandolfi, Parallelozero, Insititute

    Die typische Ernährung auf Okinawa enthält mehr als fünf Portionen Obst und Gemüse pro Tag und mehr herzgesunden Fisch als Fleisch, sagt Willcox. Damit hilft sie bei der Prävention von Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

    „Es gibt eine okinawanische Redewendung, nuchi gusui, die so viel bedeutet wie ‚Lass Essen deine Medizin sein‘“, erklärt er. „Die Süßkartoffeln, die Bittermelone, carotinoidreiche Meeresfrüchte wie Meeresalgen, grünes Blattgemüse und Obst sind in der Ernährung Anti-Aging-Mittel, da sie Entzündungen und oxidativen Stress reduzieren.“

    „Die traditionelle okinawanische Ernährung ist außerdem reich an Nährstoffen, aber kalorienarm, und das ist ideal.“ Willcox verweist außerdem darauf, dass bis in die 1960er Jahre Süßkartoffeln statt weißem Reis das Grundnahrungsmittel in Okinawa waren.

    „Wenn man Säugetiere in einem Labor kalorienreduziert ernährt, leben sie in der Regel länger“, sagt er. „Ein anhaltendes Energiedefizit löst einen Selbsterhaltungsmodus aus – man passt sich an, um einen höheren Anteil der Nahrung in nutzbare Energie umzuwandeln und Enzyme einzuschalten, die die Langlebigkeit fördern.“

    Die Bewohner von Naha in Okinawa genießen in der Regel ein langes Leben voller sozialer Zusammenkünfte.

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    Ikigai & Moai gegen Einsamkeit

    Das Leben auf den Inseln ist anders als im übrigen Japan. Das Klima ist subtropisch mit milden Wintern. Die Bewohner Okinawas leben inmitten der landschaftlichen Schönheit der Inseln und haben den Ruf, entspannt zu sein. Der gelassene Umgang mit der Pünktlichkeit wird auch als „Okinawa-Zeit“ bezeichnet.

    Die Gesellschaft ist so strukturiert, dass auch ältere Bewohner den Zweck oder ikigai in ihrem Leben bewahren. In Ogimi ist so ein ikigai beispielsweise das lokale Handwerk des Webens von Basho-Fu-Textilien, bei dem die zeitintensive Reinigung der Fasern und das Aufspulen des Fadens von Gruppen älterer Frauen durchgeführt wird. Es ist nicht nur eine Möglichkeit, sozial aktiv zu bleiben – es gibt den Weberinnen auch eine Möglichkeit, ihr Einkommen aufzubessern und zur Dorfwirtschaft beizutragen. Natürlich wird das Basho-Fu-Zentrum von einer 98-Jährigen aus einer Familie voller Hundertjähriger geleitet.

    In Ogimi bietet die Natur ein stressfreies Leben inmitten landschaftlicher Schönheit.

    Foto von Alessandro Gandolfi, Parallelozero, Insititute

    Ein weiterer Faktor sind moai, durch die sich die Mitglieder der Gesellschaft gegenseitig unterstützen. Dieser soziale Mechanismus in Okinawa bringt Gruppen von Menschen mit gemeinsamen Interessen zusammen und ermöglicht es ihnen, emotionale Bindungen aufzubauen. Büttner zufolge sei das ein entscheidender Faktor für ein langes Leben, da „Einsamkeit genauso schädlich für einen ist wie Rauchen.“

    Takashi Inafuku, der Leiter eines der Distrikte von Ogimi, gehört zu zwei moai – einer mit einer Gruppe von Schulfreunden und einer mit ehemaligen Mitarbeitern. „Das sind Orte, an denen man Informationen austauschen und mit anderen kommunizieren kann“, sagt er. „Ich denke, dass die Teilnahme an moai, also ein gemeinsames Hobby zu haben und Stress abzubauen, zur Langlebigkeit beitragen kann“, sagt er.

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    Willcox erklärt, dass die Zugehörigkeit zu mehreren moai üblich ist. „Ich kenne einen Mann in Ogimi, der zu sieben gehört“, sagt er. „Und die Leute sind ihrem moai gegenüber loyal. Ich habe eine Gruppe 80-jähriger Frauen auf einer abgelegenen Insel getroffenen, die seit ihrer Grundschulzeit zusammen in einem moai waren. Ich bin auch in einem – unser gemeinsames Interesse ist Slow Food.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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