Händewaschen als mittelalterliche Machtdemonstration

Ob für Bauern oder Adel: Händewaschen vor dem Essen war Pflicht. Doch mit der Zeit entwickelte sich die Hygienemaßnahme zum bedeutungsschweren Ritual, bei dem man einiges falsch machen konnte.

Von Sarah Durn
Veröffentlicht am 18. Mai 2021, 10:19 MESZ
Medieval hand washing

Als wichtiges soziales Ritual wurde das Händewaschen im Mittelalter auch in der zeitgenössischen Kunst abgebildet. Dieses Altargemälde aus dem 14. Jahrhundert in der Kathedrale der toskanischen Stadt Siena zeigt Pontius Pilatus, wie er sich bei der Verurteilung Jesus‘ zum Tod am Kreuz die Hände wäscht.

Foto von DeAgostini, Getty Images

Im vergangenen Jahr hat keine andere alltägliche Tätigkeit so stark an Bedeutung gewonnen wie das Händewaschen. Seit Beginn der Pandemie verweisen Gesundheitsinstitute auf die Wichtigkeit des sorgfältigen und gründlichen Händewaschens von mindestens 20 Sekunden. Und so ist dieses für viele zu einer Art neuem Ritual geworden, besonders nach einem Ausflug in die Corona-geplagte Außenwelt.

Das ausgiebige Händewaschen hatte in Europa schon einmal Hochkonjunktur, auch wenn das einige Jahrhunderte her ist: im Mittelalter. Denn auch, wenn man gemeinhin wenig von der Hygiene der Menschen im Mittelalter hält, waren viele in Sachen Sauberkeit tatsächlich sehr geübt. Aus Notwendigkeit geboren, entwickelte sich das Händewaschen bald zu einer durchkomponierten Demonstration von Macht und Wohlstand. Es war ein „Zeichen von Anstand“, sagt Amanda Mikolic, kuratorische Assistentin an der Abteilung für Kunst des Mittelalters des Cleveland Museum of Art in Ohio.

Händewaschen als Knigge

Ob König oder Bauer, alle wuschen sich vor und nach dem Essen. Die meisten Menschen aßen mit den Händen – Besteck war rares Gut und das Essen wurde meistens auf einer Brotscheibe gegessen. Den Schmutz des Tages abzuwaschen, war ein notwendiges Zeichen des Respekts gegenüber denjenigen, die das Essen auf den Tisch brachten: „Die Finger sollen sauber und die Nägel gepflegt sein“, heißt es in „Les Contenances de la Table“, einem französischen Text über Tischmanieren aus dem 13. Jahrhundert.

Das große Fassungsvermögen und die relativ einfachen Verzierungen auf diesem Lavabo deuten darauf hin, dass es in Privatbesitz war oder aber einem Kloster gehörte. Das Lavabo ist eines von unterschiedlichen Gefäßen, die im Mittelalter für das Händewaschen verwendet wurden.

Foto von Photo by Heritage Arts, Getty Images

Die Adeligen und Geistlichen hoben die Hand- und Geschichtshygiene im Mittelalter auf einen neuen Standard. Dabei waren die Rituale der Monarchen besonders aufwendig. Wer bei einem mittelalterlichen König zum Essen geladen war, wurde zunächst von Spielleuten begrüßt, die schöne Musik auf einer Harfe oder einer Fidel, einem mittelalterlichen Vorgänger der Violine, vortrugen. Danach wurde man in einen Raum mit „luxuriösen Waschschüsseln, […] weißen Handtüchern und parfümiertem Wasser“ geführt, erklärt Mikolic.

Umgeben von Dienern wuschen die Gäste ihre Hände und achteten darauf, die makellos sauberen Handtücher nicht zu beschmutzen. Frauen reinigten ihre Hände bereits vor der Ankunft, sodass beim Abtupfen ihrer Finger „mit diesen weißen Tüchern kein bisschen Dreck oder Erde zurückblieb – als Beweis für ihr tugendhaftes und sauberes Wesen.“

Hygiene als Luxusgut

Sobald alle im großen Saal Platz genommen hatten, trat der König ein. Die Gäste betrachteten stehend, wie er selbst seine Hände wusch. Erst nachdem der König damit fertig war, setzen sich die Gäste erneut. Es war ein „Machtspiel, um zu zeigen, wer das Sagen hat“, erklärt Mikolic – „wie eigentlich alles in dem Programm.“

Für die Mahlzeiten des Adels gab es strenge Regeln, die teilweise sicher auch heutzutage bei vielen Gesundheitsexperten auf Zustimmung stoßen würden. „Les Contenances de la Table“ listen eine Reihe dieser Richtlinien für die Zusammenkunft bei Tisch auf: So durfte das Essen, sobald ein Bissen genommen wurde, nicht mehr auf dem Teller abgelegt werden. Weder Nase noch Ohren sollten mit bloßen Händen berührt und Geschirr durften nicht zum Mund geführt werden.

Auch für die Aufnahme von Flüssigkeiten gab es klare Normen: Das Essen musste vor dem Trinken heruntergeschluckt und die Lippen abgewischt werden. Nachdem der Tisch abgeräumt wurde, galt es, sich erneut die Hände zu waschen, um danach zu trinken.

Für diese aufwendigen Rituale gab es eine entsprechend prachtvolle Ausstattung. Kreuzritter brachten wertvolle Seifen aus Oliven- und Lorbeerölen von Aleppo nach Europa. Kurz darauf begannen Franzosen, Italiener, Spanier und schließlich auch die Engländer, ihre eigenen Versionen dieser Seifen anzufertigen. Sie verwendeten dafür lokale Olivenöle und nicht mehr das übel riechende tierische Fett der früheren Jahrhunderte. Die wohl bekannteste dieser europäischen Varianten ist Spaniens kastilische Seife, die noch immer hergestellt und in die ganze Welt verschickt wird.

Verzierte Gefäße wie Aquamanilen (Henkelkrüge) und Lavabokessel (hängende Schalen mit zwei Ausgussschnäbeln, auch Handfass genannt) wurden mit warmem, parfümiertem Wasser gefüllt, das für das Händewaschen verwendet wurde. In den wohlhabendsten Haushalten gossen die Diener die duftende Flüssigkeit über die Hände der am Tisch Versammelten. Diese Gefäße waren so wertvoll, dass Jeanne d’Évreux, Königin von Frankreich und Ehefrau Karl IV., einige Aquamanilen in ihrem Testament aufführte.

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Die Einführung der Gabel

Im Laufe der Zeit trat das Händewaschen jedoch in den Hintergrund. Schuld daran ist Wissenschaftlern zufolge unter anderem die Gabel, die erst im 18. Jahrhundert breite Anwendung fand. „Das Ritual des Händewaschens verliert in der Zeit die Bedeutung, in der die Nutzung von Besteck beliebter wird – vor allem dann, als auch Gästen Besteck angeboten werden kann und es möglich wird, mit Handschuhen zu essen“, so Mikolic.

Noch lässt sich nicht sagen, welches der Pandemie-Rituale wir beibehalten werden. Doch obwohl Aquamanilen und Lavabokessel längst nicht mehr in Mode sind, kann das Händewaschen auch heute noch dazu dienen, den eigenen Wohlstand zur Schau zu stellen. Von handbemalten Waschbecken über teure Seifen mit ätherischen Ölen bis hin zu vornehmen ägyptischen Baumwollhandtüchern geben wir uns noch immer alle Mühe, um das Händewaschen in ein luxuriöses Erlebnis zu verwandeln. Mikolic erzählt, dass duftende Seifen sie an das parfümierte Wasser des Mittelalters erinnern: „Das bringt mich dann immer zum Schmunzeln.“

Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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