Als „Händewaschen“ einen medizinischen Skandal auslöste

Heutzutage weiß jeder, dass eine gründliche Händehygiene Infektionen vorbeugen kann. In den 1840ern kostete dieser Rat einen Arzt seine Karriere.

Von Nina Strochlic
Veröffentlicht am 9. März 2020, 17:16 MEZ
In einer deutschen Klinik bereiten sich Ärzte auf eine Operation vor, indem sie ihre Hände waschen. ...
In einer deutschen Klinik bereiten sich Ärzte auf eine Operation vor, indem sie ihre Hände waschen. Die gründliche Reinigung von Händen und OP-Besteck wurde erst im späten 19. Jahrhundert Standard.
Foto von Joker, David Ausserhofer, Ullstein Bild, Getty

Auch jenseits der Corona-Epidemie und der jährlichen Grippewelle hilft eine gute Händehygiene dabei, Infektionen zu vermeiden. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung empfiehlt 20 bis 30 Sekunden gründliches Händewaschen mit Wasser und Seife. Was heute völlig selbstverständlich wirkt, löste im 19. Jahrhundert einen Skandal aus.

In den 1840ern starben Mütter in Europa nach der Geburt oft am Kindbettfieber. Selbst in den besten medizinischen Einrichtungen erkrankten die Frauen kurz nach der Geburt und starben. Der deutsch-ungarische Arzt Ignaz Semmelweis begab sich daher auf die Suche nach der Ursache des Phänomens.

Der Arzt Ignaz Semmelweis leistete auf dem Gebiet der Händehygiene Pionierarbeit und gab sich unter seinen Kollegen damit der Lächerlichkeit preis.
Foto von GL Archive, Alamy

Semmelweis arbeitete im Allgemeinen Krankenhaus in Wien, in dem es zwei getrennte Entbindungsstationen gab. Auf einer Station arbeiteten männliche Ärzte und auf der anderen weibliche Hebammen. Er bemerkte, dass die Sterblichkeitsrate durch das Kindbettfieber geringer war, wenn die Entbindung von den Hebammen durchgeführt wurde. Die Patientinnen, die von den männlichen Ärzten und Medizinstudenten betreut wurden, starben im Vergleich mehr als doppelt so oft.

Der Arzt testete eine Reihe von Hypothesen zu diesem Phänomen. So untersuchte er beispielsweise, ob die Position der Mutter während der Geburt einen Einfluss hatte. Außerdem versuchte er zu ergründen, ob das Fieber durch die Scham darüber entstand, von einem männlichen Arzt untersucht zu werden. Womöglich, so dachte er, jagten auch die Priester, die die todkranken Patientinnen besuchten, den frisch gebackenen Müttern solch einen Schrecken ein, dass sie daran starben. Semmelweis bewertete jeden dieser Faktoren und schloss sie nacheinander aus.

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    Foto von Quelle: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung

    Morgens Autopsie, nachmittags Entbindung

    Nachdem er diese anderen Variablen ausgeschlossen hatte, fand er den Übeltäter schließlich: Leichname. Morgens führten die Medizinstudenten im Rahmen ihrer Ausbildung Autopsien durch, bei denen die Ärzte sie beobachteten und ihnen teilweise assistierten. Im Anschluss gingen sie „mit an der Hand klebenden Cadavertheilen“ auf die Entbindungsstation, um dort die Patientinnen zu untersuchen und Babys zu entbinden. Die Hebammen führten hingegen keine Autopsien durch und arbeiteten ausschließlich auf ihrer eigenen Station.

    Semmelweis vermutete daher, dass kleine Leichenpartikel von den Händen der männlichen Ärzte und Studenten auf die Mütter übertragen wurden. Im Gegensatz zu heute mussten sich die Ärzte ihre Hände vor Untersuchungen und Eingriffen nicht desinfizieren. Viele der Pathogene, mit denen sie während der Autopsie in Kontakt kamen, wurden an ihren Händen deshalb mit auf die Geburtsstation verschleppt.

    Der Maler Robert Thom zeigt Semmelweis (Mitte), der im Allgemeinen Krankenhaus in Wien Ärzte überwacht, die sich vor der Untersuchung einer schwangeren Patientin die Hände waschen.
    Foto von Look And Learn, Bridgeman Images

    Das Wissen über Mikroorganismen steckte noch in den Kinderschuhen (die einflussreichen Arbeiten von Louis Pasteur und Joseph Lister waren noch ein paar Jahrzehnte entfernt), weshalb Semmelweis auch keine „Keime“ für die Erkrankung verantwortlich machte, sondern verwesende organische Materie. Durch die Ärzte wurden Frauen mit den Partikeln infiziert und starben am Kindbettfieber.

    Widerstand gegen Hygiene

    1847 etablierte Semmelweis neue Regeln zur Händehygiene unter seinen Angestellten am Allgemeinen Krankenhaus. Anstatt sich nur mit normaler Seife zu waschen, mussten die Ärzte und Studenten ihre Hände mit Chlorkalk desinfizieren, der den Leichengeruch vollständig neutralisierte. Nachdem die Angestellten damit begonnen hatten, sowohl ihre Hände als auch ihre Instrumente so zu reinigen, fiel die Mortalitätsrate auf der Entbindungsstation der Ärzte rapide.

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    Im Frühling 1850 hielt Semmelweis einen Vortrag vor der angesehenen Gesellschaft der Ärzte in Wien, in dem er die Vorzüge einer solchen Desinfektion anpries. Aber seine Theorie widersprach den damaligen Ansichten und stieß unter anderen Ärzten auf Entrüstung und Ablehnung. Historiker vermuten, ein Grund für diesen Widerstand mag auch der Umstand gewesen sein, dass die Theorie die Ärzte für den Tod ihrer Patienten verantwortlich machte. Obwohl die Müttersterblichkeit auf der Entbindungsstation stark gesunken war, hob das Allgemeine Krankenhaus in Wien die Regelungen zum obligatorischen Desinfizieren der Hände wieder auf.

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    Die nachfolgenden Jahre waren hart für Semmelweis. Er verließ Wien und ging nach Pest in Ungarn, wo er ebenfalls auf einer Entbindungsstation arbeitete. Auch dort erließ er eine Desinfektionspflicht, und genau wie in Wien fiel die Müttersterblichkeit dort drastisch. Aber die Leben, die er damit rettete, trugen keineswegs zur Akzeptanz seiner Theorie bei.

    Semmelweis veröffentlichte 1858 und 1860 Artikel über das Waschen und Desinfizieren von Händen, im Jahr darauf sogar ein ganzes Buch – aber seine Theorien blieben weitestgehend unbeachtet. Viele Ärzte mit eigenen Hypothesen zu den Ursachen des Kindbettfiebers erklärten sein Buch für unbrauchbar.

    Ein paar Jahre später begannen seine gesundheitlichen Probleme. Er erkrankte vermutlich an Depression, wobei einige Theorien auch von Syphilis oder Alzheimer sprechen. Er wurde ohne Diagnose in die Landesirrenanstalt Döbling eingewiesen. Nur zwei Wochen später verstarb er. Offiziell war eine Sepsis durch eine kleine Wunde die Todesursache. Da bei seiner Exhumierung 1963 diverse Frakturen festgestellt wurden, mutmaßen manche, Semmelweis sei stattdessen gewaltsam gestorben.

    Späte Anerkennung

    Zwei Jahre nach Semmelweis’ Tod begann der schottische Chirurg Joseph Lister 1867 damit, für die Desinfizierung von Händen und chirurgischem Besteck zu werben. Auch seine Ideen wurden kritisiert, aber in den 1870ern begannen Ärzte langsam damit, vor Operationen die nötigen Hygienemaßnahmen durchzuführen.

    Nicht lang darauf fanden auch Semmelweis’ frühere Arbeiten endlich Anerkennung. Seine Werke ebneten den Weg für Louis Pasteurs Entdeckungen im Bereich der Mikrobiologie. Sie veränderten grundlegend, wie Ärzte ihre Patienten betreuten und die Ursachen und Verbreitung von Krankheiten erforschten.

    In dieser Zeichnung wäscht Semmelweis seine Hände in einer Chlorlösung. Obwohl seine Arbeit die medizinische Hygiene revolutionierte, fand sie erst nach seinem Tod Anerkennung.
    Foto von Bettmann, Getty

    Auch wenn eine gründliche Händehygiene in Krankenhäusern schon in den 1870ern Einzug hielt, dauerte es noch ungefähr 100 Jahre, bis auch die allgemeine Öffentlichkeit die entsprechenden Regeln umsetzte. In den USA wurden die ersten landesweiten Richtlinien zur Händehygiene erst in den 1980ern erlassen. Und mehr als ein Jahrhundert, nachdem Semmelweis’ Theorien verspottet wurden, benannte sich die Medizinische Universität von Budapest offiziell in Semmelweis-Universität um – zu Ehren seiner unermüdlichen Bemühungen, die Gesundheit seiner Patienten durch Hygiene zu verbessern.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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