Die Geschichte der Tierprozesse: Von mörderischen Schweinen und teuflischen Holzwürmern

Die gemeinsame Geschichte von Mensch und Tier schlägt sich auch in der Rechtsprechung nieder. Eine besonders kuriose Rolle nehmen dabei die Tierprozesse ein.

Von Simone Kapp
Veröffentlicht am 6. Sept. 2021, 09:02 MESZ
Zeichnung in Schwarz-Weiß: Eine Sau und ihre sechs Ferkel stehen vor Gericht

Eine Sau und ihre sechs Ferkel stehen vor Gericht.

Foto von commons.wikimedia.org, Abbildung in Robert Chambers: Book of Days, 1864

Lange galten Tiere vor dem Gesetz als Dinge oder Sachen. Erst im Jahre 1990 wurde in §90a des BGB festgelegt: „Tiere sind keine Sachen. Sie werden durch besondere Gesetze geschützt. Auf sie sind die für Sachen geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden, soweit nicht etwas anderes bestimmt ist.“ Doch nicht erst seit dem 20. Jahrhundert tauchen Tiere in Gesetzestexten auf: Schon um 1750 vor Christus wurden Bestimmungen zum Umgang mit Tieren festgelegt.

Ein besonders kurioses Kapitel der Rechtsgeschichte von Tieren sind jedoch die Tierprozesse, die vor allem zwischen dem 13. und dem 17. Jahrhundert in Archivalien, Prozessakten und Quittungen dokumentiert sind. Egal ob Schweine, Ratten oder Holzwürmer: Tiere wurden für ihr Fehlverhalten zur Verantwortung gezogen. Davon zeugen weit über hundert überlieferte Quellen.

Kriminelle Schweine vor Gericht

Besonders häufig gerieten Schweine mit dem Gesetz in Konflikt. Die Ursache dafür liegt nicht etwa in ihrem Charakter, sondern viel mehr daran, dass es eine große Zahl an Schweinen gab, die als „Müllabfuhr“ frei durch die Gassen streiften. Auch „wohnten“ Tier und Mensch oft unter einem Dach oder teilten in kalten Winternächten gar einen gemeinsamen Schlafraum. Durch den engen Kontakt kam es öfter zu Zusammenstößen mit Menschen.

So beschreibt der französische Historiker Michel Pastoureau den Fall einer Sau, die im Jahre 1386 im französischen Falaise den Arm und Teile des Gesichts eines Säuglings fraß, der daraufhin an den Verletzungen starb. Der Prozess endete mit dem Todesurteil: Dem Schwein wurde zunächst ein Bein ausgerissen, dann wurde es an den Hinterbeinen am Galgen aufgehängt, bis der Tod eintrat. Die Schweine der Stadt wohnten der Hinrichtung als Zuschauer bei. Sie sollten so vom Begehen eigener Straftaten abgeschreckt werden.

Die Federzeichnung zeigt die Tötung eines Kindes durch ein Schwein, in: J.J. Wick, Nachrichtensammlung, um 1560

Foto von Mittelalterliches Kriminalmuseum

Einige Jahrhunderte später stand im Jahre 1457 im schweizerischen Savigny eine Sau mit ihren sechs Ferkeln vor Gericht. Ihnen wurde zur Last gelegt, den fünfjährigen Jehan Martin getötet und teilweise gefressen zu haben. Während die Sau schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt wurde, entschied das Gericht, die Ferkel freizusprechen aufgrund ihrer Jugend und weil sie schuld- und hilflos dem schlechten Einfluss ihrer Mutter ausgesetzt waren. Überdies wurden keine Beweise gefunden, dass die Ferkel an dem Kind gefressen hatten. Eine Illustration findet sich in Robert Chambers‘ „Book of Days” von 1864.

Mitunter wurden auch Tiere hingerichtet, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Überliefert ist etwa die Notzucht-Bestimmung des Sachsenspiegels. Das zwischen 1220 und 1235 entstandene Rechtsbuch gilt als eines der bedeutendsten Rechtsbücher des Mittelalters. Die Notzucht-Bestimmung besagt, dass, wenn eine Frau oder ein Mädchen vergewaltigt wird, alle bei der Tat anwesenden Tiere mit dem Täter hinzurichten waren.

Während Jakob Grimm – Jurist, Literaturwissenschaftler und Märchensammler – diese Verordnung noch als Strafe für die Tiere wegen unterlassener Hilfeleistung interpretierte, geht die moderne Forschung davon aus, dass hierdurch der Tatort gereinigt werden sollte, denn der Sachsenspiegel fordert darüber hinaus, das Haus oder Gehöft, das zum Tatort wurde, dem Erdboden gleichzumachen.

Abbildung im Sachsenspiegel: Nach einer Vergewaltigung wird das Haus abgerissen, um den Tatort zu reinigen.

Foto von Universitätsbibliothek Heidelberg, Sachsenspiegel, Cod. Pal. germ. 14

Neben mittelalterlichen Rechtsbüchern wie dem Sachsenspiegel und dem Schwabenspiegel (um 1275) wurde auch das um 1050 wiederentdeckte Römische Recht sowie die Bibel zur Urteilsfindung in Tierprozessen herangezogen. Überliefert sind die Prozesse hingegen nicht in Rechtstexten, sondern vornehmlich in Form von Prozessakten.

Die Funktion der Tierprozesse

Die Prozesse gegen Tiere wurden keineswegs zur Unterhaltung geführt. „Das waren ordentliche strafrechtliche Prozesse“, sagt Dr. Markus Hirte. Der Leiter des Mittelalterlichen Kriminalmuseums in Rothenburg ob der Tauber hat dem Phänomen der Tiere in der Rechtsgeschichte eine umfangreiche Sonderausstellung gewidmet. Wie viele andere Forscher betrachtet auch der Rechtswissenschaftler die Prozesse als einen Versuch der Menschen des Spätmittelalters, in einer Zeit voller Unsicherheiten die Oberhand zu bewahren und Recht und Ordnung auch im Tierreich durchzusetzen.

Zudem waren Tierprozesse auch ein Regulativ in hochemotionalen Situationen: „Sie boten eine Konfliktlösung jenseits von Rache“, erklärt der Leiter des Kriminalmuseums. So sicherten die Prozesse den Frieden innerhalb der Gemeinschaft. „Indem das Schwein als Täter subjektiviert wurde, konnte der Besitzer überdies von der Tierhalterhaft sowie seiner Verantwortung und moralischen Schuld als Halter entbunden werden.“

Das Schwein büßte für seine Tat mit dem Leben, der Besitzer verlor ein wertvolles Stück Vieh: Somit war dem erlittenen Unrecht des Geschädigten Genugtuung getan. Damit entschärften die Tierprozesse brisante soziale Situationen.

Ein wichtiger Faktor im Kontext der Tierprozesse ist der Allmachtsglaube aus der Bibel: „Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht“ (Mose 1, 28). Danach kann der Mensch alles beherrschen, das Recht gilt auch für Tiere und greift überall durch.

Tiere vor dem Kirchengericht

Anders als Nutztieren wurde Schädlingen und Wildtieren mehrheitlich vor Kirchengerichten der Prozess gemacht. Zum einen gab es hier keinen Eigentümer, zum anderen fielen besonders Schädlinge, die in der Bibel als Plagen erwähnt werden, nach damaliger Auffassung unter das Kirchenrecht.

So wurden Heuschrecken, Schnecken oder Mäuse unter Androhung von Exkommunikation dazu verurteilt, von ihrem schädigenden Verhalten abzulassen. Überliefert ist etwa der Fall der Holzwürmer von Mamirolle: Diese hatten den Bischofsstuhl der Dorfkirche befallen und so zernagt, dass der Stuhl 1520 unter dem Bischof von Besançon zusammenbrach. Im Prozess wurden die Holzwürmer – in Abwesenheit – dazu verurteilt, aus dem Bischofsstuhl aus- und in einen Baum zu ziehen. Im Prozess vertreten wurden die Holzwürmer von Bartholomé de Chassenée, der auch Ratten und Käfer verteidigte. Dies beschreibt auch der Historiker Peter Dinzelbacher in seinem Buch „Das fremde Mittelalter: Gottesurteil und Tierprozess“.

Holzschnitt einer Heuschrecke, in: J.J. Wick, Nachrichtensammlung, um 1560.

Foto von Mittelalterliches Kriminalmuseum

Was aus heutiger Sicht befremdlich wirkt, war für die Menschen des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit der Versuch, ein Problem mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu lösen, betont Dr. Markus Hirte im Gespräch mit NATIONAL GEOGRAPHIC: „Heute würde man Pestizide einsetzen, damals glaubte man ganz selbstverständlich daran, dass der Priester mit seiner Binde- und Lösegewalt hier der richtige Ansprechpartner sei.“

Überliefert sind Tierprozesse vor allem in der Form von Prozessakten, Archivalien und Quittungen. Zwar gibt es Stimmen, die anzweifeln, dass strafrechtliche Prozesse gegen Tiere in der beschriebenen Form stattgefunden haben. „Allerdings“, wendet der Leiter des Kriminalmuseums ein, „spricht allein die Fülle der überlieferten Dokumente dafür, dass diese Prozesse tatsächlich durchgeführt wurden.“

Von Mäusen, Menschen und Gesetzen

Tierprozesse machen nur einen kleinen Teil in der Rechtsgeschichte zwischen Menschen und Tieren aus. Umfangreicher sind Belege über die Instrumentalisierung von Tieren, um Strafen für Menschen zu verschärfen. Dazu zählen Strafen wie der Eselritt, das Hängen mit Hunden oder das Säcken: Dabei wurde der Todeskampf von Tieren genutzt, um die Qual der Hinrichtung zu vergrößern. Der Verurteilte wurde zusammen mit einem Affen, einem Hund, einer Schlange und einem Hahn in einen Sack genäht und in ein tiefes Gewässer geworfen.

Auch Regeln für das Zusammenleben wurden festgehalten. So legt bereits der Codex Hammurabi (um 1750 vor Christus) fest, dass jeder, der ein Lasttier zu Tode arbeiten lässt, zu bestrafen sei. Hier ist jedoch zu bemerken, dass es bei dieser Regelung weniger um den Tierschutz ging, sondern vielmehr darum, ein Lasttier zu erhalten, das sich oft mehrere Parteien teilten.

Verordnung zur Sperlingsbekämpfung König Friedrichs II., Magdeburg, 1744

Foto von Mittelalterliches Kriminalmuseum

Insbesondere der Schädlingsbekämpfung wurde in den frühen Rechtstexten großes Augenmerk zuteil. In einer Quelle aus Vorarlberg aus dem Jahre 1513 ist überliefert, dass jeder Müller einen Hahn und eine Katze halten musste, um pünktlich aufzustehen und um der Mäuse Herr zu werden. Ab dem 17. Jahrhundert waren vielerorts alle Bürger aufgefordert, jährlich – je nach Region – eine bestimmte Anzahl getötete Spatzen oder Krähen oder deren Eier abzuliefern. Wer das Soll nicht erfüllte, musste eine Strafe zahlen. So versuchte man, die starke Zunahme dieser Tiere einzudämmen.

Seit etwa 1750 vor Christus dokumentieren Rechtstexte das komplexe Verhältnis von Menschen und Tieren. Ein besonderes Kuriosum sind die Tierprozesse, die vor allem im Spätmittelalter ihre Hochzeit hatten. Obwohl ihre Funktion bis heute nicht abschließend geklärt ist, sind die meisten Wissenschaftler überzeugt, dass Tierprozesse tatsächlich stattgefunden haben: „Allein die Fülle an Quellen macht es höchst unwahrscheinlich, dass alle überlieferten Prozesse nur Gedankenspiele und Parodien waren“, so Dr. Hirte.

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