Werft mit Geschichte: Welche Rolle die Titanic heute in Belfast spielt

Erfolg, Verfall, Umbau: Die Werften der Hauptstadt von Nordirland haben viele Höhen und Tiefen durchlebt. Doch sie bleiben der Stolz der Bewohner von Belfast.

Von Ronan O’Connell
Veröffentlicht am 22. Nov. 2021, 15:00 MEZ, Aktualisiert am 22. Nov. 2021, 16:08 MEZ
In diesem Foto aus dem Jahr 1911 wird die R.M.S. Titanic in der Harland and Wolff-Werft ...

In diesem Foto aus dem Jahr 1911 wird die R.M.S. Titanic in der Harland and Wolff-Werft in Belfast präsentiert, bevor sie im Jahr 1912 zu ihrer schicksalshaften Jungfernfahrt aufbricht. Das berühmte Schiffsbaugelände in der nordirischen Hauptstadt ist heute eine beliebte Touristenattraktion.

Foto von ARCHIVIO GBB, Contrasto, Redux

Im frühen 19. Jahrhundert galten die Schiffe, die in den Werften von Belfast gebaut wurden, als die besten der Welt. Die Docks, die hundert Jahre lang der wirtschaftliche Motor der Stadt waren und zwei Weltkriege überstanden, waren Zeugen des blutigen Kampfes der Iren um ihre Unabhängigkeit von Großbritannien und des Sogs der Gewalt des Nordirlandkonflikts. Im Jahr 2003 ging hier das letzte Schiff in Belfast vom Stapel.

Heute, hundert Jahre nach der Gründung Nordirlands, ist das Industriegelände eine der größten Touristenattraktionen des Landes. Es beherbergt das Titanic Belfast Museum, das im Jahr 2012 eröffnet wurde, sowie mehrere andere historische maritime Sehenswürdigkeiten. Die Ablaufbahn, über die einst die Titanic zu Wasser gelassen wurde, ist heute eine beliebte Freiluftbühne. Sie ist beliebt bei der Belfaster Live-Musik-Szene, die den City-of-Music-Status von der UNESCO bekommen hat.

Auf dem Werftgelände, das einst das produktivste der Welt war, sind die Tragödien, Verwicklungen und der Ehrgeiz der Hauptstadt Nordirlands noch immer spürbar. Die 340.000 Einwohner Belfasts hegen eine tiefe Zuneigung und Verbundenheit zu ihrer Heimatstadt und die ehemaligen Schiffsbaustätten sind nicht nur ein Symbol für deren Erbe – sie bringen die Gemeinschaften, die hier leben, auch enger zusammen.

Titanic: Vom Superlativ zur Katastrophe

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte Irland eine der größten Katastrophen seiner Geschichte: die Große Hungersnot zwischen 1845 und 1851. Die bis dahin unbekannte Kartoffelfäule verursachte immense Ernteausfälle und die Regierung half der hungernden Bevölkerung nicht. Eine Million Menschen starben, zwei Millionen Menschen verließen ihre bisherigen Wohnorte.

Die Kräne der Harland and Wolff-Werft ragen auf diesem Foto aus dem Jahr 1988 im Stadtteil East Belfast in den Himmel. Aufgrund ihrer Größe erhielten sie die Spitznamen Samson und Goliath.

Foto von Ed Kashi, Vii, Redux

Auf der Suche nach Arbeit kamen die Menschen vom Land in Massen nach Belfast, sodass sich die Einwohnerzahl zwischen 1851 und 1901 vervierfachte. Viele fanden auf dem Werftgelände eine Anstellung. Laut Susie Millar, Vorsitzende der Titanic Belfast Society, war der weltweit größte Schiffsbauer zur damaligen Zeit Harland and Wolff. Der direkte Rivale der Firma, Workman and Clark, belegte auf dieser Liste den fünften Platz.

Die Werft Harland and Wolff war auch für den Bau der R.M.S. Titanic verantwortlich. Das zu diesem Zeitpunkt größte Schiff der Welt bot mehr als 2.200 Passagieren und Besatzungsmitgliedern Platz – ungefähr 1.500 dieser Menschen verloren ihre Leben, als die Titanic auf ihrer Jungfernfahrt im Jahr 1912 mit einem Eisberg kollidierte und sank. Die Geschichte dieses Unglücks ist durch James Camerons erfolgreicher Verfilmung aus dem Jahr 1997 inzwischen weltbekannt. Das Schiffsunglück zog zwei umfangreiche Untersuchungen nach sich, die Presse suchte die Schuld in der Führungsriege der Titanic-Crew, Belfast wurde in tiefe Trauer gestürzt.

Das Hafenquartier von Belfast im Wandel

Nach dem Sinken der Titanic erlebten die Werften von Belfast ein turbulentes Jahrzehnt – verwickelt in den komplexen politischen und sozialen Konflikt von Irlands Unabhängigkeitsbestrebungen von Großbritannien. Laut Sean Connolly, emeritierter Professor für irische Geschichte an der Queen’s University in Belfast, war es vor allem die langjährige konfessionelle Spaltung der Gesellschaft, die in den Werften regelmäßig zu Konflikten führte.

Obendrein kam es zu einem Einbruch der Wirtschaft im Anschluss an den 1. Weltkrieg, der dazu führte, dass viele ihre Arbeit verloren. Belfasts Hafenviertel war ein Pulverfass. Die brodelnde Unruhe entlud sich schließlich im Jahr 1920, als Tausende größtenteils katholische Arbeiter der Werften verwiesen wurden. „Die Ressentiments wurden zusätzlich durch die Behauptungen angefacht, die Katholiken hätten sich Jobs in den Werften gesichert, während die loyalen Protestanten im Ersten Weltkrieg für König und Vaterland kämpften“, erklärt Sean Connolly.

In wirtschaftlicher Hinsicht erlebten die Werften in der Folgezeit ein wahres Auf und Ab. Während des Zweiten Weltkriegs füllten sich die Auftragsbücher, danach brach die Nachfrage wieder ein, erholte sich jedoch mit dem Aufkommen der Kreuzfahrtschiffe. Schließlich aber, in den Sechzigerjahren, war es das steigende Angebot an Flugreisen, dass dem Schiffsbau in der Stadt auf lange Sicht den Todesstoß versetzte.

Galerie: Das Wrack der Titanic

Nach der Fertigstellung des letzten Schiffs in Belfast begannen Stadtplaner damit, ihre ambitionierten Ideen für das Hafenquartier in die Tat umzusetzen. Heute ist es ein wahrer Touristenmagnet. Die Besucher kommen in Strömen, um sich das Titanic Belfast Museum, dessen Bau fast 120 Millionen Euro gekostet hat, und die renovierte S.S. Nomadic zu besichtigen, die als Tenderschiff der White Star Lines auch die Titanic bediente. Der Wanderweg Maritime Mile verbindet Yachthäfen, Museum, Kunstpfade und das historische Hafengelände.

Das Titanic Belfast Museum ist das Kernstück der Wiederbelebungsmaßnahmen des Belfaster Hafenquartiers. Es erzählt die ganze Geschichte des berühmten Kreuzfahrtschiffs: von seinem Bau über die Jungfernfahrt bis heute.

Foto von Titanic Belfast

In der „Aftermath Gallery“ des Museums wird auf einer großen Wandzeichnung die Aufteilung der Kabinen an Bord der Titanic gezeigt.

Foto von Titanic Belfast

Die S.S. Nomadic war ein Tenderschiff, das auch die Titanic bediente. Es kann heute im Titanic-Quartier von Belfast besichtigt werden.

Photographs Courtesy of Titanic Belfast

Die größte Anziehungskraft auf die Gäste der Stadt hat das Titanic Belfast Museum, denn es ergänzt die allgemein bekannte Geschichte des Schiffs um einige neue Aspekte. Gemäß der Richtlinien werden jedoch keine Artefakte ausgestellt, die an Bord des versunkenen Schiffs gefunden wurden. Das Wrack entdeckte der amerikanische Ozeanograf und National Geographic Explorer Robert Ballard im Jahr 1985.

Der Startpunkt der Maritime Mile befindet sich neben dem Queen’s Square in der Innenstadt von Belfast. Von hier führt er in nördlicher Richtung am Ufer des Lagans entlang, vorbei an mehreren historischen Sehenswürdigkeiten, die die Geschichte des Schiffsbaus in Belfast näher beleuchten. Dazu zählt unter anderem das Claredon-Dock, das das älteste verbliebene der Stadt ist. In der Sinclair Seefahrerkirche werden viele Artefakte aus der maritimen Geschichte ausgestellt, das Great Light war einst die größte Leuchtturmoptik Belfasts. Auch das ursprüngliche Dock und das Pumpenhaus der Titanic sind uneingeschränkt für Besucher geöffnet. Im Belfast Harbour Heritage Room befindet sich eine Dauerausstellung mit dem Namen „A Port That Built a City“.

Kommerz oder Identität

Laut William Neill, emeritierter Professor für Raumentwicklung an der University of Aberdeen in Schottland, bemängeln Kritiker des Titanic-Quartiers, dass dieses kommerzielle Interessen über das Andenken an die Tragödien stelle, die mit ihm in Verbindung stehen. „Der Fingerabdruck der Titanic hat für die Kreuzfahrtindustrie enormes Umsatzpotenzial – eine Goldgrube für die Planer“, sagt er. „Dieser Ort ist das Epizentrum einer Katastrophe, die den Glauben an die Modernisierung bis ins Mark erschütterte. So sollte er auch behandelt werden. Doch in Belfast wird der Schwerpunkt lieber auf oberflächliche Kommerzialisierung gelegt statt darauf, eine echte Erinnerungskultur zu etablieren.“

Trotz aller Tragödien und Kontroversen sei das Hafenviertel von Belfast ein gefeierter Teil der Stadtidentität, sagt hingegen Stephen Boyd, Professor für Tourismus an der Ulster University in Nordirland. Sogar in den Wandbildern der Stadt, die sich größtenteils um die konfessionelle Spaltung des Landes drehten, werde es thematisiert.

Ein Wandgemälde in der Dee Street im Stadtteil East Belfast erinnert an die Titanic.

Foto von Radharc Images, Alamy

„Es ist erstaunlich, wie viele Bewohner Belfasts irgendwann in ihrem Leben einmal in den Werften gearbeitet haben – oder Familienmitglieder haben oder hatten, die am Bau der Titanic beteiligt waren“, sagt er. „Besonders im Stadtteil East Belfast ist das ein wichtiger Teil der Identität. Es gibt hier viele Wandgemälde, die früher politische Themen zum Inhalt hatten und heute die Titanic oder Szenen aus dem Leben der Werften zeigen.“

Laut Kyle Hughes, Historiker an der Ulster University, zeige dies das Bemühen die tiefen Gräben, die lange die Gesellschaft Belfasts durchzogen haben, zu überwinden. „Seit Beginn des Friedensprozesses in Nordirland im Jahr 1998 sind viele religiöse und paramilitärische Wandgemälde übermalt worden, um die positiven Aspekte der lokalen Kultur zu verdeutlichen“, erklärt er. Das Vermächtnis des Schiffsbaus sei etwas, „das vielen Menschen ein gutes Gefühl gibt.“

Triumphe und Spannungen bleiben im Hafen von Belfast ein allgegenwärtiges Thema. Bedenkt man die Höhen und Tiefen, die dieser Ort in seiner außergewöhnlichen Geschichte durchlaufen hat, ist das keine Überraschung. In vielerlei Hinsicht ist sie ein Abbild der Stadtgeschichte selbst. Über 160 Jahre, nachdem die Werften hier ihre Arbeit aufgenommen haben, werfen Sie noch immer ihren langen, komplexen Schatten über diese unvergessliche Stadt.

Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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