Mussten Steinzeitmenschen ihre Werkzeuge immer wieder neu erfinden?
Mit scharfkantig geschlagenen Steinwerkzeugen wie diesen konnten bereits Steinzeitmenschen arbeiten. Doch wurde das Wissen über ihre Herstellung über Jahrtausende weitergegeben – oder wurden sie immer wieder neu erfunden?
War es unseren frühen Vorfahren vor Jahrmillionen in Afrika bereits möglich, ihr Wissen über Werkzeuge aus Stein weiterzugeben? Die Annahme, dass sie es taten, bildete bisher den Grundstein unserer menschlichen Kultur. Eine neue Studie der Universität Tübingen könnte diese These allerdings nun widerlegen – und den Ursprung menschlicher Kultur infrage stellen. In der Fachzeitschrift Science Advances liefern Claudio Tennie, William Snyder und Jonathan Reeves mögliche Belege dafür, dass die Menschen der Steinzeit ihre Werkzeuge nicht – wie angenommen – nach weitergegebenen Vorlagen oder Anleitungen nachbauten – sondern sie stattdessen immer wieder spontan neu erfanden.
Kultur oder stetiger Erfindergeist?
Die ältesten scharfkantig geschlagenen Steinwerkzeuge lassen sich etwa 2,6 Millionen Jahre zurückdatieren und entstammen der Olduvai-Schlucht im heutigen nördlichen Tansania. Die danach benannte Oldowan-Technologie weist als zentrale Komponente ein Bearbeiten von Werkzeugen mit Hilfe von Schlägen auf – beispielsweise mit Hammersteinen oder Ambossen. Die daraus entstandenen Abbrüche wurden dann wiederum als scharfkantige Schneidewerkzeuge verwendet. Für viele gilt Oldowan als Indiz für die Weitergabe von Wissen über dieses komplizierte Fertigen von Schneide- oder Hackwerkzeugen gilt gemeinhin als Wiege der menschlichen Kultur.
Hatte also ein Steinzeitmensch eine praktikable Gerätschaft zum Schlachten von Tieren, Herstellen von Knochenarbeiten oder anderen Werkzeugen entwickelt, wurde diese Technik von der eigenen Familie oder fremden Gruppen aufgegriffen und übernommen. Die Funde aus Olduvai seien also ein Indiz für eine frühe Form der kulturellen Tradition und des sozialen Lernens, wie es auch heute beim modernen Menschen noch praktiziert wird – so zumindest die weitläufige Theorie.
Ein Studienteilnehmer ohne Vorkenntnisse zu Steinwerkzeugen und deren Herstellungstechniken verwendet die so genannte bipolare Technik. Das daraus resultierende Werkzeug ist unten rechts zu sehen.
Moderne Menschen und Steinzeit-Methoden
Um diese womöglich zu widerlegen, startete das Wissenschaftsteam eine experimentelle Versuchsreihe mit 28 Erwachsenen. Anhand sogenannter Inseltests, bei denen keinerlei Hinweise zum Lösen eines Problems gegeben werden, sollten die Studienteilnehmenden eigenständig eine Aufgabe lösen. Diese bestand darin, alleine und innerhalb von vier Stunden eine Kiste zu öffnen, um an einen darin liegenden Zehn-Euro-Gutschein zu gelangen, der als Motivation dienen sollte. Die Kiste war dabei mit einem Seil verschlossen, das es zu kappen galt – wofür den Teilnehmenden lediglich einfachste Hilfsmittel zur Verfügung standen: eine Halbkugel aus bemaltem Glas, ein Granitblock und ein größerer Kieselstein.
Von den jeweils 14 Frauen und Männern war ein Großteil der Gruppe von den Wissenschaftlern als techniknaiv eingestuft worden. Die meisten hatten allenfalls schon einmal Steinwerkzeuge gesehen oder davon gehört, jedoch nie selbst angewandt. Trotzdem begannen viele von ihnen, ähnliche Techniken umzusetzen – zum Beispiel schlugen sie die Außenseite der Glashalbkugel gegen den Granitblock. „Die Teilnehmer unternahmen typischerweise zahlreiche, nicht schneidende Lösungsversuche, bevor sie ein mögliches Werkzeugherstellungsverhalten zeigten“, so die Studie. Die ersten Erfolge beobachteten Tennie und seine Kollegen grundsätzlich bereits nach rund zwanzig Minuten und in den meisten Fällen wurden während des Versuchszeitraums gleich mehrere Techniken angewandt.
Spontane Neuerfindungen
Alle 28 Versuchsteilnehmenden waren also in der Lage, ohne Anleitung eine oder mehrere eigens erfundene Techniken zur Herstellung von Steinwerkzeugen zu entwickeln. Es wurden sogar alle vier bekannten Techniken zur Herstellung der steinzeitlichen Oldowan-Werkzeuge während des Experiments beobachtet. „Diese Daten widerlegen die frühere Annahme, dass die Herstellung von Steinwerkzeugen schwierig sein muss oder gar unmöglich, wenn es keine Vorbilder gibt, die man kopieren kann“, sagt Studienleiter Claudio Tennie in der Pressemitteilung der Universität Tübingen. Er und seine Kollegen schließen also daraus, dass keine kulturelle Weitergabe dieses Handwerks von Nöten war und der Beleg für den Beginn unserer menschlichen Kultur durchaus hinfällig sein könnte.
Andernfalls wäre eine spontane Neuerfindung des ersten menschlichen kulturellen Ausdrucks schlicht nicht möglich. Überraschend sei diese Erkenntnis laut Tennie auch für andere Forschende. „Dass es vor 2,6 Millionen Jahren Steinwerkzeuge gab, ist kein zuverlässiger Beweis mehr dafür, dass unsere Vorfahren in der frühesten Steinzeit eine Kultur wie die unsere hatten“, erklärt William Snyder weiter. „Wir müssen jetzt viel spätere Zeiträume für die Entstehung der menschlichen Kultur betrachten.“