Mehr Schein als Sein: So lebte die Mittelschicht in Pompeji
In der Ruine eines Wohnhauses Pompejis wurden vier bisher unentdeckte Räume freigelegt. Die archäologische Entdeckung ist eine Momentaufnahme aus dem Leben der Mittelschicht in der antiken Stadt vor fast 2.000 Jahren.
Als im Jahr 79 n. Chr. der Vesuv ausbrach, flohen die Bewohner des jetzt untersuchten Hauses und ließen viele ihrer Habseligkeiten zurück.
Geschätzte 8.000 bis 10.000 Einwohner lebten im Jahr 79 n. Chr. in der römischen Stadt Pompeji, als vermutlich in der zweiten Oktoberhälfte des Jahres der Vesuv ausbrach. Einigen Menschen gelang es, rechtzeitig zu fliehen, doch viele fanden den Tod: erstickten an der Asche und den Gasen, die der Vulkan ausstieß, wurden von herabfallendem Gestein erschlagen oder starben in der Glutlawine, die die Stadt am Golf von Neapel überrollte. Gebäude und Straßen wurden verschüttet und gerieten in Vergessenheit. Jahrhundertelang lag Pompeji unter einer konservierenden, stellenweise bis zu 25 Meter dicken Schicht aus vulkanischer Asche und Bimsstein verborgen – bis es im 18. Jahrhundert wiederentdeckt wurde.
Seitdem ist die antike Stadt eine der weitläufigsten und aufgrund ihres guten Erhaltungszustands wichtigsten archäologischen Stätten der Welt. Bis heute werden hier Ausgrabungen durchgeführt – und immer wieder gibt es neue aufregende Entdeckungen zu vermelden. Bei der Erforschung der Ruine eines Wohnhauses wurden nun vier bisher verborgene Räume entdeckt, die neue Einblicke in das Privatleben der Bewohner Pompejis gewähren.
Die Ausstattung im Lararium-Haus
Das sogenannte Lararium-Haus ist nach dem Kultschrein benannt, den seine Besitzer zu Ehren der Laren – den Schutzgöttern des Hauses und der Familie – im Atrium installiert hatten. Es wurde im Jahr 2018 durch Zufall bei Wartungsarbeiten an der Grabungsfront im nördlichen Bereich Pompejis entdeckt: dem Regio V, einem der größten Bezirke der antiken Stadt. Bei Ausgrabungen im Jahr 2021 entdeckten die Archäologen im oberen Stockwerk und im Erdgeschoss je zwei weitere Räume, die nun freigelegt wurden. Einige darin enthaltene Gegenstände hatten die Jahrhunderte überdauert, außerdem konnten die Forschenden mithilfe von Gipsabdrücken das Mobiliar rekonstruieren, mit dem die Zimmer ausgestattet waren.
Bei den zwei neuen Zimmern im Erdgeschoss handelt es sich um ein Schlafzimmer und einen Vorratsraum. Letzterer hat unverputzte Wände und einen Boden aus verfestigter Erde. Der Gipsabguss des Bettes im Schlafzimmer zeigt, dass dieses in seiner Bauart mit drei Betten identisch ist, die im Jahr 2021 im Sklavenzimmer der Villa Civita Giuliana in Pompeji entdeckt wurden: Es besteht aus einem einfachen, zusammenklappbaren Holzrahmen mit einer aus Seilen gewobenen Liegefläche, über die ein Stofflaken gelegt wurde. Eine Matratze gab es nicht.
Die meisten Gegenstände, die in den Räumen entdeckt wurden, waren für den alltäglichen Gebrauch gedacht: Amphoren aus Ton und Teller und Schalen aus roter Siegelerde. Es wurden aber auch Stücke aus wertvolleren Materialien wie Bronze und Glas gefunden.
Außen hui, innen pfui
Die recht spartanische Ausstattung der insgesamt fünf Zimmer des Hauses bildet einen extremen Gegensatz zu dem äußerst repräsentativ gestalteten Atrium des Hauses. Hier hatten die Hausbewohner in Wasserbecken für die Zisterne und farbenprächtige Wandmalereien investiert. Das reich verzierte Lararium erweckte den Anschein eines Wohlstands, der vermutlich gar nicht vorhanden war.
„Wir wissen nicht, wer die Bewohner des Hauses waren, aber sicherlich stellte die Kultur des Otiums – der freien Zeit und der Muße –, die die wunderbare Dekoration des Atriums inspirierte, für sie eher eine Zukunft dar, von der sie träumten, als eine gelebte Realität“, sagt Massimo Osanna, Generaldirektor der staatlichen Museen Italiens.
Dieser Widerspruch in der Raumgestaltung und die Mischung aus einfachen und wertvollen Gegenständen im Inventar des Hauses lässt darauf schließen, dass seine Besitzer der Mittelschicht Pompejis angehörten – einer sozialen Schicht, die im Römischen Reich ständig um ihren Status kämpfen musste und wenig Zeit für Müßiggang hatte. „Das ‚tägliche Brot' war alles andere als selbstverständlich“, erklärt Massimo Osanna. „Die Mittelschicht war durch politische Krisen und Hungersnöten verwundbar, hatte aber den Ehrgeiz, die soziale Leiter aufzusteigen.“
Das Lararium-Haus verdeutlicht diesen Wunsch nach gesellschaftlichem Aufstieg. Es zeigt, dass bereits im Alten Rom viel dafür getan wurde, eine bürgerliche Fassade aufzubauen und mithilfe von Statussymbolen den Anschein zu erwecken, etwas Besseres zu sein.