Einzigartiger Fund: Vesuv-Hitze schmolz Gehirn zu Glas

Als im Jahr 79 heiße vulkanische Wolken über die antike Stadt Herculaneum hinwegrollten, erlitt einer der Stadtbewohner ein einzigartiges Schicksal.

Von Robin George Andrews
Veröffentlicht am 4. Feb. 2020, 16:29 MEZ
Diese Bruchstücke aus einem glasartigen Material wurden aus der Schädelhöhle eines Opfers entnommen, das im Jahr ...
Diese Bruchstücke aus einem glasartigen Material wurden aus der Schädelhöhle eines Opfers entnommen, das im Jahr 79 durch den Ausbruch des Vesuv starb, der die Städte Pompeji und Herculaneum zerstörte.
Courtesy of Pier Paolo Patrone, University of Naples Federico II

Als der Vesuv im Jahr 79 seine ganze Zerstörungskraft offenbarte, erstickten Herculaneum und andere umliegende Städte unter einer Schicht aus Asche und heißen vulkanischen Lawinen. Drei Jahrhunderte nach Beginn der Ausgrabungen sind sich Experten noch immer nicht sicher, was genau die Bewohner der einst blühenden Metropole getötet hat.

In zahlreichen Studien finden sich fast ebenso viele mögliche Todesursachen: einstürzende Gebäude, umherfliegende Trümmer, panische Massen fliehender Bürger, eingeatmete Asche und Vulkangase, plötzlicher Hitzeschock und sogar die Verdampfung von weichem Gewebe.

Zwei neue Studien scheinen nun einen weiteren Beitrag zu diesem Kabinett des Schreckens zu leisten.

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Eine von ihnen befasste sich mit jenen Menschen, die Zuflucht in den Bootshäusern der Stadt suchten: Sie sind nicht verbrannt oder verdampft, sondern wurden wie in einem großen Steinofen gebacken. Die zweite Studie untersuchte ein Opfer in einem anderen Teil Herculaneums, dessen Gehirn scheinbar schmolz und dann zu Glas erstarrte.

Selbst, wenn sich diese beiden Geschichten durch künftige Untersuchungen bestätigen lassen, bedeutet das immer noch nicht, dass wir nun endlich wissen, wie die Opfer des Vulkanausbruchs starben. Mit Sicherheit lässt sich dann nur sagen, was ungefähr zu ihrem Todeszeitpunkt geschah.

Die meisten Beweise, die eindeutige Schlüsse zulassen würden, sind für immer verloren. „Die endgültige Wahrheit werden wir wahrscheinlich nie erfahren“, sagt Elżbieta Jaskulska über die Todesursache der Opfer. Die Osteoarchäologin der Universität Warschau war an keiner der beiden Studien beteiligt. Die Suche nach weiteren Puzzleteilen ist trotzdem erstrebenswert – und zwar nicht nur, weil sie die fehlenden Kapitel einer weltberühmten Geschichte besteuern könnten.

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BELIEBT

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    „Solche vulkanischen Katastrophen sind kein Ding der Vergangenheit“, sagt Janine Krippner vom Global Volcanism Programm der Smithsonian Institution, die an den Arbeiten nicht beteiligt war.

    Viele der weltweiten Vulkane können ähnliche Ausbrüche erzeugen, was bedeutet, dass sich die Geschichte wiederholen wird. Je besser Forscher verstehen, welche Folgen der Vulkanausbruch für die Menschen damals hatte, desto besser können sich Rettungskräfte darauf vorbereiten, den Überlebenden solcher Katastrophen zu helfen.

    Knochen liefern Hinweise

    An jenem Sommertag im Jahr 79 rauschten Vulkanlawinen aus heißer Asche und Gas mit 80 km/h die Hänge des Vesuv hinab. Zweifelsfrei waren sie der bedrohlichste Faktor für die Menschen, die am Fuße des Bergs lebten. Diese tödlichen Massen werden als pyroklastische Ströme bezeichnet, wobei die vornehmlich aus Gas bestehende Variante, die sich auch durch Herculaneum wälzte, als pyroklastischer Surge gilt.

    Lange Zeit ging man davon aus, dass ein Großteil der Opfer an der heißen Asche und den giftigen Gasen erstickte. In den letzten 20 Jahren deutete eine Reihe von Studien jedoch darauf hin, dass die Temperaturen der Surge so hoch waren, dass sie zum plötzlichen Organversagen der Menschen von Herculaneum führten: Tod durch extremen Hitzeschock. Der Paläobiologe Pier Paolo Petrone vom Krankenhaus der Universität Neapel Federico II hat an den Studien mitgeschrieben.

    2018 berichteten Petrone und seine Kollegen von rötlichen, eisenhaltigen Verbindungen, die sich an den oft gesplitterten Knochen der Opfer von Herculaneum befinden. Diese Flecken entstanden ihnen zufolge durch die Zerstörung der roten Blutkörperchen, als die Surge das Weichgewebe der Menschen verdampfen ließ – also ihre Muskeln, Sehnen, Nerven und ihr Fett. Im Gehirn hätten zudem die Flüssigkeiten zu kochen begonnen, Druck erzeugt und die Schädel gesprengt. Manche Experten stehen diesen Behauptungen skeptisch gegenüber. Sie verweisen darauf, dass Leichname bei der Einäscherung deutlich höheren Temperaturen ausgesetzt sind, ohne dass ihr Gewebe verdampft.

    Die Debatte tobt nach wie vor – und eine neue Studie von Petrone und seinem Team, die im „New England Journal of Medicine“ erschien, könnte neues Öl ins Feuer gießen.

    Was bleibt, sind Seife und Glas

    Hirngewebe wird bei archäologischen Grabungen nur extrem selten gefunden. Selbst wenn einige Überreste erhalten blieben, sind sie im Laufe der Zeit zu einer seifigen Masse aus Glyzerin und Fettsäuren verkommen. Umso überraschender ist Petrones neue Entdeckung. Er untersuchte eines der Opfer genauer, das in den 1960ern im Collegium Augustalium entdeckt wurde. Das Gebäude war dem römischen Kaiser Augustus gewidmet, der von 31 v. Chr. bis 14 n. Chr. regierte.

    In dem aufgebrochenen Schädel entdeckten die Forscher eine glasähnliche Masse. Das war insofern überraschend, als dass der historische Ausbruch des Vesuv kein vulkanisches Glas produziert hat. In der Masse im Inneren des Schädels waren Proteine und Fettsäuren vorhanden, die im menschlichen Gehirn zu finden sind, sowie Fettsäuren aus den öligen Sekreten am menschlichen Haar. In der Umgebung konnten die Forscher keine pflanzlichen oder tierischen Materialien finden, die als Quelle dieser Masse infrage kämen.

    “Die Vorstellung, dass eine so intensive Hitze das Gehirn in Glas verwandeln kann, ist gleichzeitig erstaunlich und entsetzlich ”

    MIGUEL VILAR, NATIONAL GEOGRAPHIC SOCIETY

    Die Glasscherben, so sagt Petrone, sind wahrscheinlich Überreste vom Gehirn des Opfers – und der weltweit erste Fund dieser Art.

    Das nun gläserne Gewebe müsste durch Vitrifikation entstanden sein. Bei diesem Prozess wird ein Material erhitzt, bis es sich verflüssigt. Danach kühlt es rapide ab, sodass es nicht wieder zu einem Feststoff wird, sondern zu einem amorphen Material: Glas. Verbrannte Holzreste in der Umgebung deuten darauf hin, dass es in dem Gebäude womöglich bis zu 520 °C heiß wurde. Diese Temperaturen reichten anscheinend, um Körperfett zu entzünden, Weichgewebe zu verdampfen und das Gehirn schmelzen zu lassen. Im Anschluss muss die Hirnmasse wohl sehr schnell gelöscht und abgekühlt worden sein, auch wenn Petrone derzeit keine Theorie hat, wie das geschehen sein könnte.

    „Die Vorstellung, dass eine so intensive Hitze das Gehirn in Glas verwandeln kann, ist gleichzeitig erstaunlich und entsetzlich“, sagt Miguel Vilar. Die Bioanthropologe der National Geographic Society war an der Studie nicht beteiligt.

    Noch ist nicht im Detail geklärt, wie der mutmaßliche Vitrifikationsprozess ablief. Ebenso unklar ist, warum das Schicksal dieses Gehirns unter den Opfern des Vulkans bislang einzigartig zu sein scheint. Daher lässt sich auch noch nicht mit Sicherheit sagen, ob es sich wirklich um zu Glas gewordene Gehirnmasse handelt.

    Opfer wurden sprichwörtlich gebacken

    Die andere neue Studie, die im Fachmagazin „Antiquity“ erschien, befasste sich mit den Überresten anderer Opfer, die am Hafen von Herculaneum starben. Die Männer hatten sich am Strand versammelt – womöglich, um eine Evakuation über das Meer in die Wege zu leiten –, während die Frauen und Kinder größtenteils in den steinernen Bootslagern Zuflucht suchten, den Fornici. Alle starben, und bis heute wurden allein in diesem Bereich 340 Leichname ausgegraben.

    Lange waren die Knochen der Opfer kaum mehr als zerstörte Überreste. Aber in den letzten zehn Jahren konnten Forscher dank neuer wissenschaftlicher Techniken selbst verbrannte menschliche Überreste analysieren und so Erkenntnisse darüber gewinnen, was sich rund um den Todeszeitpunkt dieser Menschen abgespielt hat.

    In Pompeji entdeckte Pferde waren womöglich für Flucht aufgezäumt
    In einem Stall in den Ruinen von Pompeji wurden die Überreste von drei Pferden entdeckt.

    „Tatsächlich kann man anhand seiner verbrannten Überreste viel über das Leben eines Menschen erfahren“, sagt Tim Thompson, ein Bioanthropologe der Teesside University in England. Er und seine Kollegen beschlossen daher, diese Techniken an den Opfern von Herculaneum anzuwenden.

    Das Team untersuchte Rippenknochen von 152 Individuen aus 6 der 12 Fornici. Dabei konzentrierten sich die Forscher vor allem auf die Qualität des Kollagens. Das Protein ist auch über lange Zeiträume hinweg sehr widerstandsfähig, zersetzt sich aber unter anderem bei hohen Temperaturen.

    Besucher in den Ruinen von Pompeji sehen sich im Haus des Cryptoporticus die Abgüsse von Opfern der Katastrophe an. Neben Pompeji wurden im Jahr 79 auch die Hafenstadt Herculaneum und viele andere Siedlungen in der Nähe des Vesuv von den pyroklastischen Strömen und Surges des Vulkanausbruchs zerstört.
    Foto von David Hiser, Nat Geo Image Collection

    Von den 152 Individuen war das Kollagen nur bei 12 stark zersetzt. Die meisten dieser 12 Proben stammten von Kindern, deren Knochen noch einen höheren Knorpelanteil haben. In solchen Knochen ist das Kollagen nicht so gut geschützt wie in den härteren Knochen erwachsener Menschen. Darüber hinaus wurde in Experimenten nachgewiesen, dass zwischen dem Kristallisationsgrad von Knochen und der Höhe der Temperatur eine Korrelation besteht. Bei den Opfern fand das Team nur einen geringen Kristallisationsgrad.

    Beide Befunde lassen darauf schließen, dass die Opfer in den Fornici zu ihrem Todeszeitpunkt und kurz danach keinen extrem hohen Temperaturen ausgesetzt waren. Jaskulska hält die Ergebnisse der Forscher für überzeugend.

    Aus diversen anderen Studien, die sich mit den veränderten Magneteigenschaften der Materialien vor Ort und den Schäden an Putz, Holz und Mörtel befasst haben, ergibt sich ein großer Bereich der geschätzten Temperaturen. Am oberen Ende grenzt er an 800 °C, während die Untergrenze bei 240 °C liegt.

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    Die neue Studie deutet eher auf den niedrigen Temperaturbereich hin. Und selbst bei diesen Temperaturen sollten die Knochen der Opfer stärker beschädigt sein. Da solche Schäden aber nicht nachweisbar sind, müssen die Opfer einen zusätzlichen Schutz vor den Surges gehabt haben.

    Der Hitzeschaden wurde wahrscheinlich durch die Wände der Fornici abgemildert. Die Schwellung der äußeren Gewebeschichten und die Ansammlung von Flüssigkeit rund um die Röhrenknochen bedeuteten zudem, dass die Skelette eher gebacken als verbrannt wurden.

    Außerdem bleibt zu beachten, dass die Opfer nicht auf einem Holzhaufen verbrannt wurden. Die Surges haben eher die Luft rund um die Menschen erhitzt – und Luft ist deutlich weniger effektiv als Flammen, wenn es darum geht, menschliches Gewebe zu zerstören.

    Tod in der Dunkelheit

    Zumindest verdampfte aber kein Weichgewebe, sagt Thompson. Selbst bei mehr als 650 °C hat es in kontrollierten Experimenten mindestens 40 Minuten gedauert, bis das menschliche Gewebe vollständig zerstört war. Pyroklastische Surges können solche Bedingungen nicht mal ansatzweise gewährleisten.

    Petrone stimmt zu, dass die zusammengedrängten Menschenmassen wohl einen besseren Schutz vor der Hitze geboten hätten. Allerdings glaubt er nicht, dass die Temperaturen in den Fornici so niedrig waren. Dabei verweist er auf das Opfer im Collegium mit dem nun gläsernen Gehirn: Dessen Skelett war verkohlt und von Frakturen übersäht, sein Schädel schien durch die hohen Temperaturen der Surges aufgebrochen worden zu sein.

    Trotz der wissenschaftlichen Meinungsverschiedenheiten gibt es aber keinen Zweifel daran, dass die letzten Momente im Leben dieser Menschen einem Alptraum glichen, so Thompson. Sie starben vor Angst zitternd in der Dunkelheit: Die meisten erstickten entweder oder erlitten einen plötzlichen Hitzeschock. Der römische Rechtsgelehrte und Schreiber Plinius der Jüngere beobachtete den Vulkanausbruch aus der Ferne. In einem Brief beschrieb er später, dass die Menschen durch das Ereignis so verängstigt waren, dass sie sogar für ihren Tod beteten. Viele erflehten die Hilfe der Götter, schrieb er, aber noch viel mehr glaubten, dass keine Götter mehr übrig seien und die letzte, endlose Nacht über die Welt hereingebrochen war.

    Auch wenn es makaber erscheinen mag, so detailliert über den Tod dieser Menschen nachzudenken: Solche Forschungen können Wissenschaftlern dabei helfen, mehr über pyroklastische Surges zu lernen, die noch nicht umfassend erforscht sind, erklärt Krippner. Diese Erkenntnisse können wiederum dabei helfen, künftige Katastrophen dieser Art vorherzusagen oder angemessen darauf zu reagieren. Die Opfer Herculaneums könnten auf diese Weise also noch 2.000 Jahre nach ihrem Tod das Leben anderer Menschen schützen.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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