Zeitumstellung in Deutschland: Eine Geschichte ohne Ende?
Seit ihrer ersten Einführung vor über einhundert Jahren wurde die Sommerzeitregelung in Deutschland zweimal abgeschafft und wieder aufgenommen. Die Mehrheit der Bürger will sie loswerden – aber so einfach ist das nicht.
Diese Postkarte erschien im Jahr 1916 anlässlich der ersten Einführung der Sommerzeit. Am 30. April wurden die Uhren des Deutschen Reichs um elf Uhr abends um eine Stunde auf Mitternacht vorgestellt.
Im Jahr 2019 sah es kurz so aus, als wäre die Sommerzeit bald Geschichte: Im März stimmte das Europäische Parlament dem Vorschlag der EU-Kommission zu, die saisonale Zeitumstellung zu beenden. Im Jahr 2021 sollte nach den Plänen des EU-Parlaments die Zeit zum letzten Mal umgestellt werden. Doch dazu kam es nicht. Denn um eine Zersplitterung des EU-Binnenmarkts zu vermeiden, müssen sich alle Mitgliedstaaten einvernehmlich einigen, ob sie die Sommerzeit oder die Winterzeit beibehalten wollen – diese Entscheidung steht nach wie vor aus.
Die Sache ist darum so kompliziert, weil die Belange vieler Akteure unter einen Hut gebracht werden müssen. Anders war die Situation, als die Sommerzeit zum ersten Mal im Frühjahr 1916 eingeführt wurde: Damals stellten das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn in der Nacht zum 1. Mai die Uhren im Alleingang um eine Stunde vor, um Energie für die Materialschlachten des Ersten Weltkriegs zu sparen.
Kriegsmaßnahme im Kaiserreich
Dieser Schritt geschah nicht nur ohne Abstimmung mit anderen Nationen, auch die Bevölkerung wurde von der Maßnahme überrumpelt. „Die Einführung der Sommerzeit wurde erst drei Wochen vor deren Beginn per Verordnung erlassen“, erklärt Dr. Johannes Graf, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Uhrenmuseum in Furtwangen und Autor des Buchs Wer hat an der Uhr gedreht? Die Geschichte der Sommerzeit. Erst nachdem die Uhren bereits umgestellt waren, wurde über das Für und Wider der neuen Regelung diskutiert.
Gegner der Sommerzeit kritisierten, dass die Zeitumstellung den Körper belaste und zum Nachteil der Menschen wäre, die früh mit ihrer Arbeit beginnen. Befürworter hielten dagegen und sagten, durch die mit der Sommerzeit verbundenen langen Abende im Freien bekämen die Menschen mehr Licht und frische Luft – die Zeitumstellung sei demnach sogar gut für die Gesundheit. Zudem würden Gastgewerbe und Handel profitieren. „Bis heute sind zu den Argumenten auf beiden Seiten kaum neue hinzugekommen“, sagt Graf.
Strittig war schon damals der energiesparende Effekt der Sommerzeit. „Wenn es Schwankungen gegenüber anderen Jahren gab, dann war nicht zu entscheiden, ob die Energieeinsparung oder der Mehrverbrauch von der Sommerzeit herrührte oder andere Gründe hatte“, erklärt Graf. Kriegsbedingte Einschränkungen der Industrie und des Fremdenverkehrs sowie die Umstellung von Heizmethoden hatten ihm zufolge ebenso ihren Anteil daran.
Zweiter Weltkrieg: Drei Jahre Sommerzeit
Im Jahr 1919 wurde die Sommerzeit in der Weimarer Republik offiziell abgeschafft, im Jahr 1940 erlebte sie in Deutschland jedoch ein Comeback – wieder als Kriegsmaßnahme. Dieses Mal ging es nicht darum, Energie zu sparen, denn Kohle gab es in den ersten Jahren des Zweiten Weltkriegs in Deutschland noch genug. Stattdessen sollte die Sommerzeit die „Volksgesundheit“ stärken.
Anders als im Kaiserreich wurde in den ersten drei Jahren nach der Wiedereinführung nicht zwischen Sommer- und Winterzeit gewechselt. In Deutschland und den besetzten Gebieten galt vom 1. April 1940 bis zum 2. November 1942 durchgehend die Sommerzeit. Dann aber hatte sich die Kriegslage merklich verschlechtert und das alte Argument der Energieersparnis wurde doch noch bemüht. Ab März 1943 wurde die Uhr wieder zweimal pro Jahr umgestellt.
Nach Kriegsende führten die Besatzungsmächte das Konzept fort. Im Jahr 1945 galt in der Sowjetischen Zone und dann im Jahr 1947 in ganz Deutschland sogar die mitteleuropäische Hochsommerzeit (MEHSZ) – die sogenannte „Doppelte Sommerzeit“. „Gegen dieses Vorstellen der Uhren um zwei Stunden regte sich jedoch in der mehrheitlich ausgemergelten Bevölkerung Protest, sodass die Alliierten diese ungewöhnliche Regelung zum 29. Juni 1947 beendeten und wieder zur einfachen Sommerzeit zurückkehrten“, erklärt Graf. Im Jahr 1949 wurde die Sommerzeit zum zweiten Mal in der deutschen Geschichte abgeschafft.
Synchronisierung Europas
Nach langen Diskussionen kehrte man im Jahr 1980 zum dritten und vorerst letzten Mal zu der Regelung zurück. Weil Schätzungen infolge der Ölkrise im Jahr 1973 gezeigt hatten, dass durch die Sommerzeit lediglich zwei Promille des gesamten Stromverbrauches eingespart werden, wurde ihre Wiedereinführung in Deutschland Graf zufolge nicht unter dem Aspekt der Energieeinsparung gefordert. „Der eigentliche Grund waren die Bestrebungen zur Harmonisierung der Regelungen in den unterschiedlichen europäischen Staaten“, sagt er.
Einige Länder hatten die Sommerzeit zu diesem Zeitpunkt bereits eingeführt oder dies geplant, andere nicht. Dort, wo die Sommerzeit eingeführt worden war, unterschieden sich ihre Anfangs- und Endtermine von Land zu Land. In Europa herrschte also das reinste Zeit-Durcheinander. Bis am 6. April 1980 eine einheitliche Sommerzeit für fast ganz Zentraleuropa Realität wurde. Ausnahmen bildeten die Schweiz, die die Regelung ein Jahr später übernahm, und Großbritannien, das seine Termine für die Zeitumstellung sogar erst im Jahr 1995 mit dem Rest Europas synchronisierte.
„Was die letzte Sommerzeiteinführung auf jeden Fall gebracht hat, ist eine Harmonisierung der Lebensbedingungen in Europa“, sagt Graf. „Wir müssen seitdem nicht mehr die Uhr umstellen, wenn wir in ein Nachbarland reisen. Das haben zum Beispiel die Vereinigten Staaten bis heute nicht geschafft: Dort haben die einzelnen Bundesstaaten immer noch unterschiedliche Sommerzeitregelungen.“
Keine Entscheidung ohne Verlierer
Ihm zufolge ist eine einheitliche Zeitregelung heute wichtiger denn je. Sie sei zwar nicht von der Sommerzeit abhängig, diese habe sich aber als Mittel zur Harmonisierung bewährt. „Man könnte sie in Europa wieder abschaffen“, sagt er. Allerdings nur, wenn alle Länder Europas es gleichzeitig täten. „Ansonsten bestünde die Gefahr, dass Europa zu dem ‚Zeitwirrwarr‘ der Siebzigerjahre zurückkehrt.“
In einer nicht repräsentativen Online-Umfrage, die dem Vorschlag der EU-Kommission im Jahr 2019 vorausging, sprachen sich 84 Prozent der 4,6 Millionen teilnehmenden Europäer – darunter zwei Drittel Deutsche – für die ewige Sommerzeit aus. Experten raten hingegen dazu, nach einer Abschaffung der Regelung die Winterzeit, also die europäische „Normalzeit“, beizubehalten. Eine schwierige Entscheidung, denn eine ewige Winterzeit würde für die östlichen Länder der Mitteleuropäischen Zeitzone (MEZ) bedeuten, dass die Sonne dort zwischenzeitlich mitten in der Nacht aufgeht. Bei der ewigen Sommerzeit hingegen würde sich der Sonnenaufgang im Westen der MEZ im Extremfall in den Vormittag verschieben.
Die Größe und die enge Verwobenheit der EU sind also der Grund, warum – anders als in der Vergangenheit – nicht einfach neue Zeitregeln aufgestellt werden können. Niemand will hier den Kürzeren ziehen. Und so wird weiterhin zweimal im Jahr an der Uhr gedreht.