Die Kindermumie von Ingolstadt: Der mysteriöse Fall der „Prinzessin Wackerstein“

Mumienfunde sind in Deutschland eine Seltenheit. Als in Bayern ein mumifiziertes Mädchen entdeckt wurde, enthüllten Pathologen ein pikantes Geheimnis.

Von Heidrun Patzak
Veröffentlicht am 30. Aug. 2023, 16:55 MESZ
Kindermumie Carolina von Jordan

Erstaunlich gut erhalten: Der mumifizierte Leichnam der eineinhalb Jahre alten Carolina von Jordan bei der ersten Öffnung ihres Sarges 2011.

Foto von Andreas Nerlich / Konrad Verlag

Es war ein kühler und feuchter Herbsttag als Andreas Nerlich im Jahr 2011 die Gruft der Familie Jordan betrat. Ein Anrufer hatte den Paläopathologen darauf aufmerksam gemacht, dass im Örtchen Dötting, etwa 20 Kilometer von Ingolstadt entfernt, mehrere gut erhaltene Verstorbene lägen. Die 1836 errichtete Gruft sollte renoviert werden, und Nerlich wurde neugierig. Was der erfahrene Mumienforscher dann jedoch in der Gruft vorfand, war selbst für ihn überraschend.

Neben den sterblichen Überresten von Baron Friedrich Wilhelm von Jordan, seiner Ehefrau Violante und deren gemeinsamen Sohn Max, fanden Nerlich und sein Team noch einen Freund der Familie, Heinrich von Reuß-Köstritz. Die Namen und Sterbedaten waren auf einem Holzbrett, ganz ähnlich einem typisch bayerischen Totenbrett, an einer Wand der Gruft niedergeschrieben.

Die Familiengruft der Jordans vor den Renovierungsarbeiten.

Foto von Andreas Nerlich / Konrad Verlag

Aber es gab noch einen viel kleineren fünften Sarg, dessen Inhalt alle Anwesenden verblüffte – denn darin befand sich eine echte Mumie. Wie dem Holzbrett zu entnehmen war, musste es sich um die kleine Carolina von Jordan handeln, die keine zwei Jahre alt geworden war. Unbekleidet und ohne die sonst typische Stoffeinwickelung lag sie in ihrem Sarg. „Ich hatte den Eindruck, das Mädchen würde mich mit tiefdunklen Augen anstarren“, erinnert sich Nerlich. Sie verstarb vor mehr als 200 Jahren, und doch war der Leichnam nahezu perfekt erhalten. In einem metallenen Behältnis zu ihren Füßen lagerten ihre Organe. „Sämtliche, während der Balsamierung entnommenen inneren Organe wurden in einer Fixierlösung zusätzlich zu dem Körper aufbewahrt – und das in einer Perfektion, dass sie feingeweblich aussahen, als wären sie erst vor ein paar Tagen entnommen worden.“ 

Die Frage, wieso die Leiche des jungen Mädchens mumifiziert worden war, ließ Nerlich nicht mehr los. Er stellte Untersuchungen an und begann in Archiven über die Familiengeschichte zu recherchieren. Was der Pathologe an der LMU München im Zuge seiner Recherchen aufdeckte, bekam dann jedoch immer mehr die Züge eines historischen Kriminalfalls. In seinem Buch Prinzessin Wackerstein. Geheimnisse einer bayerischen Kindermumie berichtet er über seine akribische Forschungsarbeit.

BELIEBT

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    Prof. Dr. Andreas Nerlich ist Pathologe und Mumienforscher am Institut für Rechtsmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität München.

    Foto von privat

    Eine Mumie gibt ihre Geheimnisse preis

    Zunächst machte Nerlich das, was Pathologen eben tun: Er untersuchte den mumifizierten Körper von Carolina, Freiin von Jordan, geboren am 20. März 1815 in Neapel, wo sie am 24. Juli 1816 auch starb. „Eine Stabilisotopen-Untersuchung eines Haarstranges ergab, dass Carolina etwa acht Monate zuvor abgestillt worden war, und dass es etwa zwei Monate vor ihrem Tod zu einer ersten ernsthaften Erkrankung gekommen sein dürfte. Beides könnte mit einer festgestellten Endoparasiten-Infektion durch die im Mittelmeerraum typischen Leishmanien zusammenhängen“, fasst Nerlich seine Ergebnisse zusammen. Außerdem schien Carolina einen 19 cm langen Spulwurm im Darm gehabt zu haben. „Letztlich erlitt sie aber eine banale Lungenentzündung, die als Todesursache zu sehen ist.“

    Rätselhafter Taufbucheintrag: Zweifel am Alter des Kindes

    Nerlich wollte mehr wissen, und begann in Archiven und Memoiren von Zeitzeugen über Carolinas kurzes Leben zu recherchieren. „Die umfangreichen, naturwissenschaftlichen Ergebnisse forderten eine ebenfalls umfangreiche, geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung geradezu heraus“. Recht schnell stieß Nerlich dabei auf Ungereimtheiten. So wurde Carolina erst drei Monate nach dem im Taufbuch angegebenen Entbindungsdatum, nämlich im Juni 1815, getauft. Ungewöhnlich für eine Zeit, in der man glaubte, ungetauften Kindern bliebe der Zugang zum Himmel verwehrt. Was, wenn Carolinas Geburtsdatum im Taufbuch gar nicht ihr echter Geburtstag war? Nerlichs naturwissenschaftliche Untersuchungen stützen die These: Er geht davon aus, dass Carolinas biologisches Alter bis zu drei Monate höher ist, als in den Quellen vermerkt.

    Mit Hilfe einer forensischen Gesichtsrekonstruktion konnte Carolinas Aussehen nachempfunden werden.

    Foto von Lukas Fischer, 3-D-Construct, Köln

    Zuwendungen vom König: Gerüchte über das illustre Paar

    Ein Kind, das vor der Eheschließung der Eltern gezeugt wurde – das mag nicht den damaligen Moralvorstellungen entsprochen haben, war jedoch nichts Außergewöhnliches. Zudem erklärt es nicht, weshalb Carolinas Leichnam nach allen Regeln der Kunst mumifiziert wurde. „Wir sind dann tatsächlich in verschiedene Archive gegangen, insbesondere in Neapel“, berichtet Nerlich.

    Carolina von Jordan war Tochter des Freiherrn Wilhelm von Jordan, ein ebenso ehrgeiziger wie erfolgreicher Preuße, der es nach wenigen Jahren im bayerischen Militärdienst bis zum Generalmajor geschafft hatte. Seine Angetraute, Violante von Sandizell, war Hofdame der bayerischen Königin Caroline. Bemerkenswert sind die Umstände der Trauung des Ehepaars Jordan im Jahr 1814, denn unter Zeitzeugen wurde so einiges gemunkelt. Der langjährige württembergische Gesandte Graf Heinrich Levin von Wintzingerode erinnerte sich in seinen Memoiren, dass König Max I. Joseph seinem Generalmajor vorwarf, dieser hätte Violante von Sandizell geschwängert. Auf Geheiß des Königs wurde dann (nach mehrjähriger Verlobung) schleunigst geheiratet. Auffällig ist, dass Wilhelm von Jordan in einem knappen Zeitraum rund um den Zeugungszeitpunkt von Carolina beträchtliche Zuwendungen von König Max I. Joseph erhielt: Neben Geld und einem erblichen Adelstitel bekam Jordan das Patrimonialgericht II. Klasse in Wackerstein – und damit die finanziell äußerst lohnenswerte Erlaubnis, Recht zu sprechen.

    Freiherr Wilhelm von Jordan auf einem Ölgemälde von Jean-Baptiste Debret.

    Foto von RMN – Grand Palais, Paris [MV1561] bpk, Daniel Arnaudet

    War eine Dreiecksbeziehung der Grund für das italienische Exil? 

    Doch es wurde noch eigenartiger: Geradezu überstürzt reiste das frischgebackene Ehepaar Jordan im Jahr 1814 nach Neapel ab. Der Umstand, dass die schwangere Violante die Strapazen der langen Reise in Richtung Süditalien auf sich nahm, und dass das Ehepaar nicht in der Stadt, sondern zurückgezogen in Portici auf dem Land bei Neapel lebte, ließ bei Nerlich einen Verdacht aufkeimen: Sollte die Tochter der Jordans womöglich auf Anweisung des Königs aus dem öffentlichen Auge geschafft werden – zumindest aus dem des bayerischen Hofes? Handelte es sich bei Carolina von Jordan etwa um eine Prinzessin, ein uneheliches Kind von König Max I. Joseph oder einem der Prinzen? Abwegig wäre das nicht, schließlich soll König Max ebenfalls ein Verhältnis mit der Gräfin von Sandizell gehabt haben. So berichtet Graf Wintzingerode von einer Art Dreiecksverhältnis zwischen dem König, Violante und Jordan, sowie von generell recht „lockeren Sitten“ am Münchner Hof.

    Rückreise mit Mumie nach Bayern: Sofortiger Antrag nach Carolinas Tod

    Carolina starb im Alter von nur 16 Monaten. Bereits sechs Tage nach ihrem Tod stellte Baron von Jordan den Antrag auf Erteilung der Pässe zur Rückreise in die Heimat. Bald darauf reiste Familie Jordan tatsächlich zurück nach Bayern – im Gepäck die Mumie ihrer kleinen Tochter. „Die Tatsache, dass Carolina wenige Stunden nach ihrem Ableben künstlich als Mumie haltbar gemacht wurde, dürfte angesichts des sehr engen Rückreise-Zeitplans der Eltern und dem mutmaßlich erheblichen finanziellen Aufwand hierfür sehr gezielt und gut geplant gewesen sein“, so Nerlich. Er äußert auch einen Verdacht: „Vermutlich geschah das, um den mumifizierten Körper als Erinnerungs-, oder gar Faustpfand, für die Gewährung weiterer finanzieller Vorteile durch den bayerischen König zu erhalten.“ 

    Es gibt Anzeichen dafür, dass Carolinas Leichnam begutachtet worden ist. Dafür spricht, dass sie aus ihrer Bandagierung (damals typisch für die neapolitanische Balsamierungskunst) befreit worden sein muss.

    Foto von Andreas Nerlich

    Wollte das Ehepaar Jordan dem bayerischen König am Ende die Vaterschaft unterschieben, um sich so auch zukünftig finanziell abzusichern? Möglich wäre es, auch wenn Prof. Nerlich dank der heutigen Naturwissenschaft eindeutig klären konnte, wer Carolinas biologischer Vater war. Eine Genuntersuchung ergab, dass es mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,99 Prozent Wilhelm von Jordan, und nicht der bayerische König gewesen war. Vermutlich wäre es Baron von Jordan aber sowieso nicht besonders wichtig gewesen, ob er nun der leibliche Vater von Carolina war oder nicht, glaubt Nerlich. „Ein „königliches“ Kind wurde damals schließlich nicht als „Schande“, sondern vielmehr als eine gewisse „Ehre“ angesehen“ – selbst, wenn es sich dabei um ein Kuckuckskind gehandelt hätte.

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    Foto von National Geographic

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