Russland in der Bronzezeit: 3.800 Jahre altes Grab einer Großfamilie untersucht

Mainzer Forschende haben anhand von Knochenfunden im Grab einer bronzezeitlichen Großfamilie aus dem südlichen Ural ihre Lebensweise nachvollzogen.

Von Katarina Fischer
Veröffentlicht am 30. Aug. 2023, 09:30 MESZ
Die Forscherin und ihre Reagenzgläser vor einem schwarzen Hintergrund.

Eine Mitarbeiterin der Forschungsgruppe an der JGU rekonstruiert die prähistorischen Genome aus der Nepluyevsky-Nekropole in einem speziellen Reinstrum, um Kontaminationen zu vermeiden.

 

Foto von Joachim Burger

Wie waren prähistorische Gemeinschaften und Familien strukturiert? Neue Antworten auf diese spannende Frage gibt eine Studie von Forschenden der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU), die in der Zeitschrift PNAS veröffentlicht wurde. In Zusammenarbeit mit einem internationalen Archäologie-Team haben sie Funde aus einem bronzezeitlichen Grabhügel der Nepluyevsky-Nekropole in der südlichen Ural-Region der russischen Steppe untersucht.

Die 32 darin bestatteten Individuen gehörten einer Großfamilie an, die vor 3.800 Jahren gelebt hat: Sechs Brüder, ihre Frauen, Kinder und Enkel fanden in dem sogenannten Kurgan ihre letzte Ruhe. „Die Grabstätte bietet eine faszinierende Momentaufnahme einer prähistorischen Familie“, sagt Jens Blöcher, Genetiker an der JGU und Erstautor der Studie.

Polygamie: Das Recht des Ältesten

Die Genanalyse zeigte, dass einer der Brüder – vermutlich der älteste – polygam lebte: Acht der in dem Kurgan begrabenen Kinder stammten von ihm und zwei verschiedenen Müttern ab, deren Überreste ebenfalls gefunden wurden. Die anderen fünf Brüder hatten weniger Kinder, diese jedoch alle mit der jeweils selben Mutter.

„Es ist bemerkenswert, dass der erstgeborene Bruder offenbar einen höheren Status innehatte und dadurch auch erhöhte Reproduktionschancen“, so Blöcher. „Wir kennen dieses Recht des männlichen Erstgeborenen zum Beispiel aus dem Alten Testament, aber auch aus historischen Zeiten in Europa.“ In Nepluyevsky seien die Unterschiede im Hinblick auf die Anzahl der Nachkommen allerdings besonders deutlich.

Ehefrauen zogen zu, Schwestern fort

Keine der im Kurgan begrabenen Frauen stammte aus der Region. Sie alle waren zugezogen – eine der Frauen des ältesten Bruders kam der Studie zufolge zum Beispiel aus dem asiatischen Steppengebirge im Osten. Dafür, dass es zur damaligen Zeit die Männer waren, die in ihrer Heimat blieben, während die Frauen an andere Orte verheiratet wurden, spricht auch, dass im Kurgan keine Schwestern der Brüder beerdigt waren.

Dass diese andernorts ein Zuhause gefunden haben, ist eine naheliegende Erklärung, denn weibliche Heiratsmobilität war ein universell verbreitetes Muster, das nicht nur aus wirtschaftlicher, sondern vor allem auch aus evolutionärer Sicht Sinn ergab. „Während ein Geschlecht lokal bleibt und die Kontinuität der Stammeslinie und des Besitzstandes sichert, heiratet das andere Geschlecht von außen ein, um Verwandtenehen und Inzucht zu verhindern“, sagt Studienautor Joachim Burger, Anthropologe an der JGU.

Die Strategie ging auf: Die Genome der Frauen der prähistorischen Familie wiesen in der Analyse eine höhere Diversität auf als die der Männer. Das zeigt, dass sie aus weitläufigen Gebieten stammten und untereinander nicht verwandt waren.

Welches Schicksal ereilte die Großfamilie?

Doch die genetische Vielfalt schützte die Familie nicht vor den Folgen eines harten, entbehrungsreichen Lebens. Die bronzezeitliche Bevölkerung der Region lebte von der Viehhaltung und betrieb kaum Ackerbau. „Der Gesundheitszustand der hier begrabenen Familie muss sehr schlecht gewesen sein“, sagt Blöcher. Das hatte Auswirkungen auf die Lebenserwartung: Im Durchschnitt erreichten die Frauen ein Alter von 28 Jahren, die Männer wurden durchschnittlich 36 Jahre alt.

BELIEBT

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    Skelett eines Jugendlichen, der mit 31 anderen Familienangehörigen vor Tausenden Jahren in dem Kurgan beerdigt wurde.

    Foto von S. Sharapova

    Möglicherweise wurde die Familie von Krankheiten dahingerafft, vielleicht verließ sie die Region aber auch auf der Suche nach einem besseren Leben. Klar ist nur, dass ab einem bestimmten Zeitpunkt nur noch Säuglinge und Kleinkinder und schließlich gar keine weiteren Personen mehr in dem Kurgan bestattet wurden.

    Auch wenn das Studienteam den Grund für die Aufgabe der Begräbnisstätte nicht ermitteln konnte, so hat es doch äußerst tiefe und wertvolle Einblicke in die Lebensweise und Sitten der prähistorischen Großfamilie gewonnen. „Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Familie den zentralen Kern der Nepluyevsky-Gemeinschaft bildete, wobei nicht verwandte Personen zumindest in der Grabstätte eine untergeordnete Rolle spielten“, sagt Maxime Brami, Archäologe an der JGU. „Von den untersuchten 32 Individuen waren 80 Prozent blutsverwandt.“

    Das Studienteam glaubt, dass sich diese Erkenntnisse auch auf andere Gemeinschaften jener Zeit übertragen lassen. Um diese These zu prüfen, arbeitet die Forschungsgruppe weiter daran, die komplexen sozialen Gefüge, Wirtschaftssysteme und Überlebensstrategien unserer Vorfahren besser zu verstehen.

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