Außergewöhnliche Bestattung: Die kopflosen Skelette aus Vráble

Archäologen aus Kiel haben in der Slowakei eine Reihe Skelette entdeckt, deren Köpfe vor der Bestattung entfernt wurden. Nun gibt es neue Erkenntnisse, was hinter dem rätselhaften Bestattungsritual steckte.

Von Lisa Lamm
Veröffentlicht am 7. Apr. 2022, 08:37 MESZ, Aktualisiert am 7. Apr. 2022, 10:03 MESZ
Draufsicht auf die Fundstelle mit 3 Skeletten im Graben.

Eine der Dreifachbestattungen im Graben rund um die Siedlung. Zwei der Individuen fehlt der Kopf, wie es charakteristisch für den Fundplatz ist – eines der Skelette ist hingegen noch intakt.

Foto von Till Kühl, Uni Kiel

Eine über 7.000 Jahre alte Siedlung in der Slowakei, umgeben von einem Graben. Darin: 31 Skelette, meist als Paar oder zu dritt angeordnet – mit fehlenden Köpfen, Händen oder Füßen. Begraben wurden die Individuen um etwa 5.000 bis 5.100 v. Chr., vermutlich von den Bewohnern der Siedlung selber. Was bei den Ausgrabungen zunächst achtlos und durcheinander wirkte, zeigte bald System. Denn je mehr Skelette die Forschenden fanden, desto deutlicher wurde: Hinter den Bestattungen steckt ein wiederkehrendes Muster. Doch welche Bedeutung hatten die kopflosen Toten für die Menschen ihrer Zeit?

Entdeckt wurden die Skelette im Rahmen des Sonderforschungsbereiches „TransformationsDimensionen – Mensch-Umwelt Wechselwirkungen in Prähistorischen und Archaischen Gesellschaften“ von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) unter der Leitung von Martin Furholt, Professor für Prähistorische Archäologie und Sozialarchäologie an der CAU. Die Ausgrabungen begannen bereits im Jahr 2010, 2016 wurden die ersten Individuen gefunden. Im Sommer 2021 kamen noch elf weitere hinzu. Bei der Frage nach dem Warum trugen besonders jene zum Durchbruch bei.

Kultureller Umbruch

Wie Detektive setzten die Archäologinnen und Archäologen das Puzzle während der mehrjährigen Ausgrabungen zusammen. Von den neu entdeckten Skeletten aus dem Jahr 2021 waren mindestens sieben kopflos. Dazu kam eine ganze Reihe menschlicher Arm- und Beinknochen. Zusammen mit den Skeletten aus den vergangenen Jahren erzählen sie letztendlich eine Geschichte über die Zeit, in der sie begraben wurden. 

Links: Oben:

Überblick über die Grabungsstelle mit drei der Grabungsschnitte. Im oberen Schnitt wurden mehrere Individuen, darunter die Dreifachbestattung mit zwei kopflosen und einem intakten Skelett, gefunden.

Rechts: Unten:

Momentaufnahme aus einem der Grabungsschnitte. Die tiefen Ausgrabungslöcher zeichnen den Verlauf des Grabens nach, den die Archäologen in versetzten, quadratischen Segmenten ausgegraben haben.

bilder von Sebastian Schultrich, Uni Kiel

Die Siedlung, in deren Umgebung die Skelette gefunden wurden, ist Teil eines Siedlungskomplexes aus drei verschiedenen, für die Zeit extrem großen Siedlungen aus der Linearbandkeramischen Kultur, die auf die Jahre zwischen 5.500 v. Chr. und 4.900 v. Chr. datiert wird. Auffällig ist, dass die kopflosen Skelette nur im Zusammenhang mit einer dieser Siedlungen gefunden wurden – nicht jedoch in der Umgebung der anderen. „Anstatt eine sozial kohärente Dorfgemeinschaft zu bilden, wurden im Laufe der Zeit interne Spannungen größer, und es bildeten sich drei räumlich getrennte Nachbarschaften”, sagt Ausgrabungsleiter Martin Furholt. Eine der Siedlungen habe sich dann schließlich durch den Graben, in dem auch die Skelette gefunden wurden, zusätzlich von den anderen Siedlungen abgetrennt.

Die Siedlungen stehen so gewissermaßen sinnbildlich für die Zeit um 5.000 v. Chr., dem Ende der Linearbandkeramik. Dieses wird von der Differenzierung alter Traditionen und dem Aufkommen einzelner, regionaler Praktiken gekennzeichnet und davon, dass die eigene Gemeinschaft immer wichtiger wird. Nun wissen die Forschenden: Das scheint sich auch in den Bestattungsriten niedergeschlagen zu haben.

Struktur durch Rituale

Gleichzeitig gab es bei den Menschen zur Zeit und gegen Ende der Linearbandkeramik ein großes Bedürfnis nach Ordnung. Dieses spiegelte sich in den diversen rituellen Praktiken wieder, die oft auch im Zusammenhang mit Begräbnissen standen. So zeugen auch die kopflosen Skelette von einem Ritual. „Die Deponierung der Körper in den Gräbern sowie die gezielte Entnahme bestimmter Körperteile sind als bewusste Akte zu verstehen, die definierten Regeln folgten“, sagt Maria Wunderlich vom Institut für Ur- und Frühgeschichte der CAU.

Oftmals ging es bei den Ritualen darum, gezielt Einfluss auf die Umwelt zu nehmen. „Die Menschen hatten damals eine andere Vorstellung davon, was für Leid oder Wohlergehen, für klimatische Gunst- oder Ungunstphasen, Krankheit und Genesung verantwortlich gewesen ist“, so Furholt. „Mit ihren rituellen Akten haben sie versucht, ihrer Umwelt Struktur zu verleihen und diese zu beeinflussen.“

Im Falle der kopflosen Skelette von Vráble glaubt Furholt daran, dass die Menschen mit diesem Ritual zu verstehen versuchten, wie Gemeinschaften definiert werden können und was eine Gemeinschaft ausmacht. Auch der Schutz vor Außenstehenden spielte dabei wohl eine Rolle.

Laut Furholt sind derartige Rituale für die Zeit um 5.000 v. Chr. auch nicht selten. „Zur selben Zeit, um 5.100 vor unserer Zeitrechnung, gab es in vielen größeren Siedlungen Mitteleuropas merkwürdige Niederlegungen von Skeletten und Skelett-Teilen.” Und obwohl man diese Praktiken heute nicht mehr im Detail rekonstruieren könne, wisse man: Das Abtrennen des Kopfes oder einzelner Gliedmaßen waren eine Variante dieser Rituale – so auch Vráble.

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