9/11: Die archäologischen Schätze, die den Terror überlebten

Fast eine Million Artefakte aus der Anfangszeit von New York City lagen nach dem Anschlag auf das World Trade Center unter Trümmern begraben. Was nach dem 11. September gerettet wurde und was verloren ging.

Von Nina Strochlic
Veröffentlicht am 7. Sept. 2023, 09:08 MESZ
Rauch steigt aus dem Trümmern auf.

Fünf Tage nach den Terroranschlägen auf das WTC am 11. September 2001 steigt Rauch aus dem eingestürzten North Tower auf. Links im Bild sind die Überreste von WTC 6  zu erkennen, das durch herabfallende Trümmer zerstört wurde. In dem Gebäude war ein großes archäologisches Labor untergebracht, in dem Artefakte untersucht wurden, die bei Bauarbeiten in der Stadt zutage kamen.

Foto von Photograph via Everett Collection Historical, Alamy Stock Photo

Als die New Yorker Stadtarchäologin Sherrill Wilson im Jahr 1992 im World Trade Center (WTC) nach Räumlichkeiten für ein Labor und Forschungszentrum suchte, schlug man ihr eine Fläche im 67. Stock des North Towers vor. Wilson schauderte es, als sie sich an die Menschen erinnerte, die dort einige Jahre zuvor aus einem Fenster gesprungen waren, um einem Brand zu entkommen. Sie wusste auch von einer Gruppe Pfadfinder, die mehrere Stunden in einem Fahrstuhl des WTC eingesperrt war.

Dies waren nur zwei der Gründe, die die Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit für das New York African Burial Ground-Projekt davon abhielten, den 67. Stock in Betracht zu ziehen. „Ich erklärte, dass ich eine alleinerziehende Mutter von drei Kindern bin, die mich am Ende des Tages zu Hause erwarten“, sagt sie.

Das African Burial Ground-Projekt zog stattdessen in Teile des Erdgeschosses und Kellers des World Trade Centers 6. In dem achtgeschossigen Gebäude direkt neben dem WTC waren auch einige Regierungsbüros untergebracht. 1993, ein Jahr nach ihrem Einzug, spürte Wilson den Boden ihres Büros unter ihren Füßen beben. Der Grund: Ein Bombenanschlag auf das WTC. Wiederum acht Jahre später fiel der North Tower auf das WTC 6.

Im frühen 19. Jahrhundert war das New Yorker Elendviertel Five Points berüchtigt für die hier herrschende Kriminalität und Prostitution. Diese Darstellung des Slums von McSpedon & Baker aus dem Jahr 1827 wurde in Valentine's Manual, einem Verzeichnis der Stadt New York, veröffentlicht.

Foto von Photograph via The Museum of the City of New York, Art Resource, NY

Fast 3.000 Menschen starben am Morgen des 11. Septembers 2001, als zwei Flugzeuge in die Twin Towers von Manhattan flogen. In den folgenden Wochen und Monaten bemühten sich Historiker darum, Listen der Hunderttausenden historischen Stücke zu erstellen, die in den Trümmern verschollen waren. Artefakte, die die Ursprungsgeschichte von New York erzählen und die Geschichten der Sklaven, Sklavinnen und eingewanderten Arbeitern, die die Weltstadt errichtet haben.

Geschichte der Afrikaner in New York

Aus ihrer Zeit als Fremdenführerin wusste Wilson, dass die meisten davon ausgingen, dass die Geschichte der People of Color in New York mit den Einwanderungswellen im Anschluss an den Bürgerkrieg ihren Anfang nahm. Der African Burial Ground, der im Jahr 1991 bei Bauarbeiten in der Nähe des Rathauses entdeckt wurde, widerlegte diese Annahme. Er war nicht nur Zeugnis einer großen afrikanischen Gemeinschaft, die schon viel früher an diesem Ort lebte. Er zeichnete auch das brutale Bild einer Zeit, in der junge, leicht zu ersetzende Arbeitskräfte versklavt wurden, um eine Industriestadt aus dem Boden zu stampfen.

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    Ein weiteres Foto aus dem Jahr 1872, das für das Gesundheitsamt entstanden ist. Darauf zu sehen ist ein Haus in der Baxter Street in Five Points.

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    Dieses Foto, das 1872 im Auftrag des Gesundheitsamtes aufgenommen wurde, zeigt die sogenannten „Dens of Death“ in der Mulberry Bend in Five Points.

    bilder von Photograph via The Museum of the City of New York, Art Resource, NY

    Im frühen 17. Jahrhundert überließen niederländische Kolonialherren befreiten Afrikanern ein fast 2,5 Hektar großes Stück Sumpfland am südlichen Ende der Insel Manhattan, damit sie dort ihre Toten beerdigen konnten. Dies geschah meist im Schutze der Nacht, weil Versammlungen von mehr als vier Sklaven nicht erlaubt waren. In einem Zeitraum von etwa 150 Jahren fanden rund 15.000 freie und versklavte Afrikaner auf der Fläche ihre letzte Ruhe. Heute befindet sich hier der Finanzdistrikt von Manhattan.

    Die Knochen, die in der Begräbnisstätte gefunden wurden, erzählen von den schrecklichen Bedingungen, unter denen versklavte Männer und Frauen zu jener Zeit lebten. Sie tragen Spuren von schwerer, gefährlicher Arbeit, einige Schädel weisen Frakturen auf. Das Durchschnittsalter der Verstorbenen lag zwischen 24 und 26 Jahren. Forschende fanden außerdem heraus, dass innerhalb von nur einer Generation typisch afrikanische Bräuche wie geschärfte Zähne und reich verzierter Schmuck vollkommen aus den Gemeinschaften verschwanden.

    Zehn Jahre lang wurden die Funde des African Burial Grounds in Wilsons Labor im WTC 6 untersucht. Nachdem Dokumentation und Analyse abgeschlossen waren, wurden Artefakte, Bodenproben und Sargfragmente in Kisten verstaut und im Keller des Gebäudes gelagert. Menschliche Überreste kamen für weitere Untersuchungen an die Howard University in Washington, D.C..

    Five Points: New Yorks Mega-Slum

    Im selben Jahr, in dem der African Burial Ground entdeckt wurde, stieß man auf einer anderen Baustelle auf eine weitere archäologische Sensation. Unter einem Parkplatz fanden Forschende die Überreste von Five Points. Das berüchtigte Viertel in Manhattan war im 19. Jahrhundert einer der am dichtesten bewohnten Slums der Welt.

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    Diese Kinder-Teetasse aus Porzellan fanden Archäologen in einem mit Müll gefüllten Abort in der Pearl Street 474. Viele der bei den Ausgrabungen in Five Points gefundenen Artefakte widersprechen der landläufigen Meinung, in dem Viertel hätten nur Verbrecher gelebt.

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    Eine Tonpfeife, die in der Pearl Street 474 gefunden wurde.

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    Der Kopf dieser in Five Points ausgegrabenen Tonpfeife stellt eine Figur aus der klassischen Mythologie dar, möglicherweise einen griechischen oder römischen Gott.

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    Murmeln aus Five Points lassen darauf schließen, dass hier hart arbeitende Familien lebten, die über das nötige Einkommen verfügten, um sich diesen kleinen Luxus für ihre Kinder zu leisten.

    bilder von Photograph via Museum of the City of New York

    Five Points ist nicht erst seit Martin Scorseses Film Gangs of New York, der im Jahr 2002 in die Kinos kam, berühmt berüchtigt. Mitte des 19. Jahrhunderts verliehen die Zeitungen dem Viertel den Namen „Schlangengrube“. Seine Besucher – darunter der Schriftsteller Charles Dickens – beschrieben die Nachbarschaft, in der deutsche und irische Einwanderer lebten, als Brutstätte der Kriminalität, Gewalt und der Prostitution. Gutbetuchte New Yorker zogen den Slum als Negativbeispiel für die Urbanisierung heran und begründeten mit ihm ihre Abneigung gegenüber Immigranten und der Arbeiterklasse.

    Meist ist es die Oberschicht, deren Artefakte und Sicht der Dinge Eingang in die historische Dokumentation finden. Hinterlassenschaften der unteren sozialen Schichten werden nur selten für die Nachwelt bewahrt. Doch an der Ausgrabungsstätte Five Point, die aus 14 Gebäuden – vom Haus eines Rabbis bis hin zu einem Bordell – bestand, förderte man mehr als 850.000 Artefakte zu Tage. Für die Archäologinnen und Archäologen grenzte es an ein Wunder, dass in einer Stadt, in der ständig abgerissen und neu gebaut wird, ein so umfangreicher Fund von Alltagsgegenständen – Limonadenflaschen, Teeservice, Fingerhüte und Tintenfässchen – möglich war.

    Die Five-Points-Artefakte wurden neben denen des African Burial Ground-Projekts im Keller des WTC 6 eingelagert. Die Stadt New York stellte Räume und Mittel zur Verfügung, damit sie näher untersucht werden konnten. An langen Tischen wurde in einer Turnhalle das reißerische Klischee von Five Points einer Realitätsprüfung unterzogen. Tatsächlich zeichneten die von den Archäologinnen und Archäologen katalogisierten Objekte ein ganz anderes Bild des Lebens in dem Viertel als es in den Boulevardzeitungen des 19. Jahrhunderts verbreitet wurde. Unter den Stücken aus dem Slum waren verzierte Haarkämme und Teetassen mit Botschaften, die kleine Jungen aufforderten, brav zu sein.

    „Die Menschen in Five Points sollen durch und durch kriminell gewesen sein – aber sie deckten ihre Tische mit Geschirrsets und kauften ihren Kindern Spielzeug. Was sagt das aus?“ fragt Archäologin Rebecca Yamin, die das Five Point-Projekt geleitet hat. „Es zeigt, dass die Menschen von Five Points von wohlhabenden Beobachtern aus der Mittelschicht aus Sensationsgier falsch interpretiert wurden.“

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    Männer stehen vor einer Absteige. Mitte des 19. Jahrhunderts stammte der größte Teil der Einwohner von Five Points aus Irland oder Deutschland. Besucher und Medien nutzten den zwielichtigen Ruf des Viertels als warnendes Beispiel für die Folgen der zunehmenden Einwanderung.

    Foto von Photograph via The Museum of the City of New York, Art Resource, NY
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    Schulkinder im überfüllten Klassenzimmer der Five Points Mission. Funde von Kinderspielzeug und feinem Porzellan lassen darauf schließen, dass nicht alle Familien in dem Viertel mittellos waren.

    Foto von Photographs via The Museum of the City of New York, Art Resource, NY

    Nachdem sie sie fünf Jahre lang gesäubert, untersucht und dokumentiert hatten, verstauten die Forschenden die Artefakte aus Five Points wieder im Keller des WTC 6. Hier sollten sie bis zu ihrer zukünftigen Ausstellung im Seaport Museum im Hafen von Manhattan lagern.

    Verlorene Geschichte

    Am Morgen des 11. Septembers 2001 erfuhr Sherrill Wilson über eine Durchsage in ihrem Pendelzug in die Stadt, dass zwei Flugzeuge in das WTC geflogen seien. Innerhalb von Stunden hatten tausende New Yorker ihr Leben verloren und zahllose geschichtsträchtige Stücke waren unwiederbringlich zerstört: darunter das Helen Keller Archive, das Archiv der Hafenbehörde von New York und New Jersey und die Kunstwerke von Picasso und Rodin, die die Wände der mächtigsten Finanzunternehmen der Stadt geschmückt hatten.

    Im Jahr 1991 wurden beim Bau eines Bürogebäudes im New Yorker Finanzdistrikt Hunderte von Gräbern freier und versklavter Afrikaner freigelegt. Heute markiert ein Denkmal die Stelle, an der die sterblichen Überreste von 419 Männern, Frauen und Kindern gefunden wurden.

    Foto von Photograph via Library of Congress
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    Symbole an den Wänden des African Burial Ground National Monument stehen für die unterschiedlichen Identitäten der versklavten Afrikaner, die am Aufbau von New York City beteiligt waren. Die Begräbnisstätte ist die größte und älteste ihrer Art, die bisher in Nordamerika entdeckt wurde.

    Foto von Sherab, Alamy Stock Photo
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    Bilder von der Ausgrabung des African Burial Ground zeigen das geschätzte Alter und Geschlecht derjenigen, die dort zwischen 1630 und 1795 begraben wurden. Die Wissenschaftler stellten an den Knochen unter anderem Schädelfrakturen fest.

    Foto von Patti McConville, Alamy Stock Photo

    Wilson kehrte in ihr Zuhause zurück und sah im Fernsehen, dass Trümmer des North Towers auf das WTC 6 gefallen waren und einen rauchenden Krater in dem achtstöckigen Gebäude hinterlassen hatten. Während sie die sterblichen Überreste aus dem African Burial Ground an der Howard University in Washington D.C. in Sicherheit wusste, waren die Schicksale der anderen Artefakte aus der Begräbnisstätte, der Funde aus Five Points und das des Forschungsarchivs mehr als ungewiss.   

    Einen Monat später, Anfang November 2001, fanden sich Angestellte der Stadt an der Ruine des WTC 6 ein, um zu retten, was noch zu retten war. Unter dem, was aus den Trümmern geborgen werden konnte, war die fast vollständige Sammlung von Artefakten des African Burial Grounds in rund einhundert Kartons. Hinzu kamen 200 Kisten der Five Points-Sammlung – doch sie enthielten nur die schriftlichen Aufzeichnungen zu den Funden. Die eigentlichen Artefakte waren verloren.

    Darüber, dass 850.000 Zeugnisse des Lebens im Five Points-Slum, die sie und ihre Kollegen so sorgfältig freigelegt hatten, zerstört worden waren, war Rebecca Yamin weder überrascht noch – in Anbetracht der menschlichen Tragödie des Anschlags – erschüttert.

    „Der Verlust von Belegen der Vergangenheit ist immer eine Tragödie“, sagt sie. „Er ist nicht vergleichbar mit dem Verlust von Menschenleben. Aber es ist ein Verlust des Verständnisses für uns selbst und dafür, woher wir kommen."

    „Man denkt nicht, dass es in einer Stadt wie New York irgendetwas gibt, dass ungestört vergraben bleiben kann“, so die Archäologin. „Aber auch hier können Dinge lange Zeit im Boden konserviert werden und dann plötzlich an die Oberfläche kommen.“

    Schwelende Trümmer des WTC am 25. September 2001, zwei Wochen, nach dem Anschlag, bei dem Tausende New Yorker ums Leben kamen – und Hunderttausende kulturell und historisch wertvoller Artefakte zerstört wurden, darunter die gesamte archäologische Sammlung von Five Points.

    Foto von Eric Feferberg, AFP, Getty Images

    African Burial Ground: Zurück zum Ort der letzten Ruhe

    In Lower Manhattan liegt im Schatten der in den Himmel ragenden Wolkenkratzer ein Denkmal aus Granit. Daneben, auf einer Grasfläche, erheben sich sieben Grabhügel. Unter ihnen liegen die Knochen, die im African Burial Ground gefunden wurden. Sie wurden hier im Jahr 2003, nach Abschluss der Untersuchungen an der Howard University, wieder an ihrer ursprünglichen Begräbnisstätte beigesetzt.

    Bodenproben, Sargfragmente und andere Artefakte, die den Anschlag in ihren Kisten im WTC 6 überstanden hatten, wurden nach ihrer Bergung wie die menschlichen Überreste zuvor an die Howard University gebracht. Hier werden sie bis heute im W. Montague Cobb Research Laboratory untersucht – 30 Jahre nach ihrer Entdeckung und 20 Jahre, nachdem sie ihrer Zerstörung entgingen.

    Carter Clinton, Anthropologe und National Geographic Explorer, erforscht derzeit die Bodenproben, um das Mikrobiom der Menschen zu rekonstruieren, die vor rund 400 Jahren im African Burial Ground bestattet wurden.

    Während anhand von Knochenfunden Alter, Geschlecht und körperliche Gebrechen nachvollzogen werden können, zeichnet das menschliche Mikrobiom ein weitaus detailliertes Bild vom Leben der Menschen. Es gibt Aufschluss über ihre Ernährung, die vorwiegend pflanzlich war, über ihren Gesundheitszustand – Verdauungsstörungen, Salmonelleninfektionen und Atemwegserkrankungen – sowie Umwelteinflüsse, denen sie ausgesetzt waren.

    „Sobald wir alle Überreste und Proben untersucht haben, war es das: Mehr Informationen werden wir nicht bekommen“, sagt Clinton. „Dies ist unsere einzige Chance, herauszufinden, wie es um diese Menschen zu jener Zeit in New York stand. Wir kennen ihre Namen nicht, aber auf diese Weise haben wir die Möglichkeit, ihnen trotzdem eine Art von Identität zu geben.“

    Der Afroamerikaner Clinton ist in New York City aufgewachsen und sieht es als seine Pflicht, diese Informationen zu ermitteln. „Ich wünschte, das Wissen über den African Burial Ground wäre so groß wie das über den 11. September“, sagt er. „Wenn ich an das World Trade Center und die New Yorker Börse denke, denke ich an ihren Ursprung und die Menschen, die diese Stadt aufgebaut haben.“

    Die Sklaverei wurde im Bundesstaat New York im Jahr 1827 abgeschafft. Zuvor verbreiterten versklavte afrikanische Arbeiter einen schmalen Pfad, den indigene Amerikaner als Zugang zum Broadway genutzt hatten, und bauten entlang des neuen Wegs Mauern. Der Name dieser Straße: Wallstreet.

    „Die Afrikaner machten New York City zu New York City“, sagt Fatimah Jackson, Leiterin des Cobb Laboratory. „Hätten wir diese historischen Zeugnisse verloren, wäre die Tragödie des 11. Septembers noch größer gewesen.“

    Sie weist darauf hin, dass trotz aller Genanalysen der 419 Männer, Frauen und Kinder, die im African Burial Ground begraben lagen, keine Zugehörigkeit zu bestimmten afrikanischen Gemeinschaften nachgewiesen werden konnte. „In Anbetracht des Alters und der Größe der Begräbnisstätte scheint es so, als trügen die dort bestatteten Individuen alle afroamerikanischen Wurzeln in sich“, sagt sie.

    Dank dem Zufall: Artefakte überstehen Anschlag

    Einige Monate nach dem 11. September stellte Rebecca Yamin fest, dass doch nicht alle Artefakte aus Five Points vernichtet worden waren. Wie der Zufall so wollte, hatte das Erzbistum New York im Jahr 2000 darum gebeten, einige Stücke ausleihen zu dürfen, um sie in einer Ausstellung über die Geschichte der Iren in New York zu zeigen. Unter den 18 freigegebenen Artefakten waren Murmeln, Tabakpfeifen mit Schnitzereien und eine Teetasse mit dem Bild von Father Mathew, einem irischen Geistlichen und Verfechter der Abstinenz. Ein interessantes Stück in Anbetracht der Tatsache, dass die Bewohner von Five Points als Trinker verschrien waren.

    Als die Ausstellung im August 2001 endete, war es glückliche Fügung, dass Yamin die Leihgaben direkt zum Seaport Museum bringen ließ, anstatt sie wieder im WTC 6 einzulagern. Heute befinden sie sich im Museum of the City New York, Hundert Blocks von ihrem ursprünglichen Fundort entfernt. Einige sind Teil der ständigen Ausstellung des Museums über die Vielfalt New Yorks zu einer Zeit, als deutsche, irische und jüdische Einwanderer das Einwohnerbild der Stadt veränderten. Die Father Mathew-Teetasse hat einen prominenten Platz in einer Glasvitrine an der Museumswand.

    Die leitende Kuratorin Sarah Henry bezeichnet die Artefakte aus Five Points als „Dreifachüberlebende“. Sie haben die Zeit im Slum überdauert, die Zeit im Boden der Stadt und sind am 11. September ihrer Zerstörung entgangen.

    Am Tag des Anschlags nahm Henry an einer Vorstandssitzung des Museums im Tweed Courthouse nordöstlich des WTC teil. Als das erste Flugzeug in den North Tower flog, erschütterte ein dröhnender Knall das Gebäude.

    „Ich glaube, jedem Historiker hat das Herz geblutet. Vor allem, nachdem so viele Jahre für die Ausgrabungen aufgewendet wurden und so viel neues Wissen aus dem, was zuvor versteckt war, gezogen wurde – nur damit es ein Jahrzehnt später wieder verloren geht“, sagt sie. „Ich möchte hier gar keine Vergleiche ziehen, aber diese Tatsache ist sehr ergreifend. Der Verlust der Artefakte war ein zusätzlicher Schlag.“

    Einige Wochen später trafen sich die Museumskuratoren der Stadt, um ihre Rolle als Institutionen zu diskutieren: Was soll im Nachhall einer solchen Katastrophe gesammelt werden – und wann? Schon bald fanden sie sich in einem wahren Strom von Artefakten wieder: Vermisstenplakate, Briefe, Gedenkkerzen. Es wurde deutlich, dass die New Yorker unbedingt wollten, dass ihre Erlebnisse dokumentiert und für die Nachwelt erhalten werden. Henry leitete eine Gruppe, die die Hafenbehörde dahingehend beriet, welche Objekte aus den Trümmern des WTC geborgen und für zukünftige Generationen aufbewahrt werden sollten.

    So entstand in New York eine neue Sammlung von Artefakten, die von der Katastrophe des 11. Septembers erzählen und die Geschichten derer, die in ihr starben oder überlebten. Im Museum of the City of New York trennt heute ein Gang alte und neue Geschichte. Auf der einen Seite ein Raum, in dem die Objekte aus Five Points das Bild eines frühen New Yorks und der Menschen zeichnen, die es aufgebaut haben. Auf der anderen ein Raum, in dem die Überreste des 11. September die Geschichte New Yorks – einer Stadt, die immer wieder aufgebaut und zerstört wurde und von Traumata und Heldentum durchzogen ist – weitererzählen.

    Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

     

    Zum 22. Jahrestag der Anschläge auf das WTC blickt National Geographic auf die Ereignisse des 11. September und ihre Nachwirkungen zurück. Sondersendungen am 10. September ab 16:05 und am 11. September ab 15:25 arbeiten die Geschichten der Menschen auf, deren Leben von den Anschlägen unweigerlich verändert wurden. National Geographic und National Geographic WILD empfangt ihr über unseren Partner Vodafone im GigaTV Paket.   

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