Treffen im Niemandsland: Der Weihnachtsfrieden im Ersten Weltkrieg
Im Dezember 1914 unterbrachen deutsche und britische Soldaten ihre Kämpfe an der Westfront und sangen gemeinsam Weihnachtslieder. War es wirklich Besinnlichkeit, die den kurzen Frieden hervorrief?
Diese Illustration erscheint am 9. Januar 1915 in der Londoner Zeitung The Illustrated London News mit der Bildunterschrift: „Ein Weihnachtsfrieden zwischen gegnerischen Schützengräben. Sachsen und Angelsachsen verbrüdern sich in der Zeit des Friedens und des guten Willens auf dem Schlachtfeld.“
Weihnachten 1914, fünf Monate nach Beginn des Ersten Weltkriegs: Zwischen den Gräben an der Westfront versammeln sich britische und deutsche Soldaten um einen Weihnachtsbaum und singen gemeinsam Weihnachtslieder – mitten im Krieg. So berichtet es der deutsche Soldat Josef Wenzl am 28.12.1914 in einem Brief an seine Eltern. Er ist nicht der Einzige: Unzählige Zeitzeugenberichte erzählen von der kurzzeitigen Waffenruhe an den Weihnachtstagen – und haben den sogenannten Weihnachtsfrieden zu einer der bekanntesten Geschichten des Ersten Weltkrieges gemacht.
Geschenke und Gesang mitten im Krieg
Bei dem Weihnachtsfrieden handelte es sich allerdings um keinen offiziellen Waffenstillstand. Vielmehr war es die Initiative einzelner Soldaten und Truppen, die dazu führte, dass gleich an mehreren Stellen an der Westfront an Weihnachten keine Kämpfe stattfanden. Unzählige Berichte aus dem Dezember 1914 zeigen, dass Soldaten mit Weihnachtsliedern und -bäumen versuchten, auf dem Schlachtfeld eine besinnliche Stimmung zu erwecken. Colin Wilson, ein Soldat der britischen Grenadier Guards, berichtete beispielsweise davon, wie der Gesang der deutschen Soldaten über das Niemandsland – also den Bereich zwischen den Gräben der verfeindeten Truppen – zu den britischen Soldaten vorgedrungen war und sie dazu animierte, Stille Nacht, Heilige Nacht mitzusingen.
Eine Darstellung des Weihnachtsfriedens von 1914, veröffentlicht auf der Titelseite der Illustrated London News am 9. Januar 1915. Die Darstellung zeigt einen deutschen Soldaten, der sich britischen Truppen nähert und einen kleinen Weihnachtsbaum als Friedensangebot in der Hand hält.
Andernorts spielten Geschenke eine wichtige Rolle. In Kriegstagebüchern der britischen und deutschen Armeen finden sich gleich mehrere Berichte darüber, wie sich Soldaten mit Konserven, Zigarren, Schnaps oder Champagner ins Niemandsland wagten. Die Mitbringsel wurden ausgetauscht oder gemeinsam verzehrt. Teilweise haben an den informellen Treffen sogar Offiziere teilgenommen und sich mit ihren Feinden ausgetauscht.
Das 6. Bataillon der Gordon Highlanders, ein Infanterieregiment der britischen Armee, berichtete davon, wie sie mit den deutschen Soldaten Corned Beef und Fleisch austauschten. Und auch einige wenige französische Truppen sollen mit deutschen Soldaten Lebensmittel und Alkohol geteilt haben.
Diese Statue gedenkt der Verbrüderung der deutschen und britischen Soldaten im Dezember 1914. Wie groß die Rolle des Fußballs beim Weihnachtsfrieden tatsächlich war, lässt sich historisch nicht eindeutig nachvollziehen. Das wichtigste Beweismittel dafür, dass ein groß aufgezogenes Spiel stattgefunden hat – ein Bild von jungen Soldaten, die einem Ball hinterherjagen – stammt nicht aus dem Dezember 1914, sondern zeigt britische Soldaten in Griechenland im Jahr 1915.
Zwischen Krieg und Feuerpause
Doch nicht überall ging es besinnlich zu. Der Militärhistoriker Markus Pöhlmann hält dazu an, die tatsächlichen Dimensionen des Weihnachtsfriedens nicht aus dem Blick zu verlieren. Denn die Feuerpausen galten lange nicht an der gesamten Westfront. An einem Stützpunkt in Frankreich beispielsweise starb der britische Soldat Percy Higgins durch den Schuss eines deutschen Scharfschützen am 25.12.1914 nachdem Higgings sich ins Niemandsland vorgewagt hatte. An vielen Orten herrschte außerdem Misstrauen gegenüber den deutschen Soldaten. Einige Truppen, vor allem belgische und französische, wollten sich nicht an der Fraternisierung, also Verbrüderung, beteiligen – und hatten wenig Verständnis für die britischen Truppen, die es taten.
Und selbst dort, wo es eine Feuerpause gab, ging es nicht nur feierlich zu. Ein britischer Gewehrschütze berichtet in einem Brief an seine Frau beispielsweise, dass er und seine Kameraden die Feuerpause nutzten, um die Toten aus den eigenen Reihen aus dem Niemandsland zu schaffen: „Wir haben an diesem Tag nicht geschossen, und alles war so ruhig, dass es uns wie ein Traum vorkam“, schreibt er.
Historiker*innen warnen deshalb davor, den Weihnachtsfrieden zu romantisieren. Kritik gab es beispielsweise an einem Werbespot der britischen Supermarktkette Sainsbury’s, die den Weihnachtsfrieden zu seinem 100. Jubiläum im Jahr 2014 nachstellte. Laut Ally Fogg, Journalistin beim Guardian, überspielte dieser die tatsächliche Situation der Soldaten während des bekanntermaßen gewaltvollen Krieges: „Nirgendwo in der neuen Werbung sehen wir Blut und Eingeweide, Erbrochenes und Fäkalien, Ratten, die sich an Körperteilen laben“, schreibt sie.
Britische Truppen und deutsche Soldaten bei einem Treffen im Niemandsland am 25.12.1914.
Pragmatik statt Besinnlichkeit?
Pöhlmann betont in einem Artikel für die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) außerdem, dass die Feuerpausen vermutlich durch mehr als nur Besinnlichkeit motiviert waren: „Mit dem Einbruch des Winters lagen die Soldaten ohne ausreichende Winterkleidung, bei schlechter Verpflegung, ohne ausreichend Munition und Brennstoff in notdürftigen Erdlöchern im kalten Schlamm. Der Krieg war ganz einfach eingefroren“, so der Militärhistoriker. Er betont, dass die Feuerpausen nicht unbedingt der Rückbesinnung auf weihnachtliche Spiritualität geschuldet waren, sondern der Erschöpfung, die der bereits fünf Monate andauernde Krieg mit sich gebracht hatte. Erst dieser Zustand habe Fraternalisierungen zwischen den Soldaten überhaupt erst möglich gemacht.
Zusätzlich kamen kürzere Feuerpausen vor allem zu Anfang des Ersten Weltkriegs immer wieder vor. Das System des „Leben und leben lassen“ erlaubte es Soldaten während der Stagnation in den Kämpfen, ihre Gräben zu reparieren, Tote zu bergen und neue Kräfte zu schöpfen. Diese Pausen gingen meist jedoch nicht mit offenen Fraternalisierungen einher – im Gegensatz zum Weihnachtsfrieden, der somit unter den Feuerpausen trotz allem eine Sonderstellung einnimmt.
Die Zeit nach dem Weihnachtsfrieden
Von offizieller Seite wurde schnell sichergestellt, dass der Weihnachtsfrieden ein einmaliges Ereignis blieb. Aus Kriegstagebüchern und Briefen von Soldaten geht hervor, dass viele hochrangige Offiziere und Generäle kurz nach Weihnachten anordneten, das Feuer wieder zu eröffnen. Zu ähnlichen Fraternisierungen kam es im gesamten Verlauf des Krieges nicht mehr. Laut Emma Hanna, Historikerin und Professorin an der University of Kent, ist es deshalb trotz allem wichtig, den Weihnachtsfrieden als besonderes historisches Ereignis hervorzuheben – auch, weil er inmitten der Grausamkeit die Soldaten als Menschen zeige.
Insgesamt kostete der Erste Weltkrieg während der vier Jahre, in denen er tobte, neun Millionen Soldaten und unzähligen Zivilist*innen das Leben. Auch Josef Wenzl, der in dem Brief an seine Eltern vom Weihnachtsfrieden erzählte, fiel am 6. Mai 1917 im Gefecht des noch immer wütenden Krieges – zweieinhalb Jahre nachdem er seinen Eltern schrieb: „Weihnachten 1914 wird mir unvergesslich sein.“