Eine Person im Kampf in der Dendra-Rüstung.

Ausgeklügelte Rüstungstechnik aus der Bronzezeit: Dendra-Panzer im Praxistest

Lange war unklar, ob der kiloschwere, 3.500 Jahre alte Plattenpanzer der Mykener für den Einsatz im Kampf geeignet war. Jetzt haben Forschende diese Frage mithilfe von 13 Elitesoldaten und der Ilias im Rahmen einer elfstündigen Simulation beantwortet.

Die Nachbildung der Dendra-Rüstung, die von den Mykenern bei Schlachten in der Bronzezeit getragen wurde, in Aktion. Mit ihrem hohen Kragen und einem Gewicht von 23 Kilogramm wirkt sie eigentlich zu massiv für den Einsatz im Kampf.

Foto von Andreas Flouris & Marija Marković
Von Katarina Fischer
Veröffentlicht am 27. Mai 2024, 10:37 MESZ

Archäologische Funde machen die Lebenswelten der Menschen vor Jahrhunderten oder sogar Jahrtausenden greifbar. Sie stellen uns aber auch vor Rätsel. Denn wie genau, von wem und in welchem Kontext Artefakte benutzt wurden, kann oft nur vermutet werden.

Das galt bisher auch für eine Ganzkörperrüstung aus Bronze, die in den Sechzigerjahren in einem Grab nahe dem griechischen Dorf Dendra gefunden wurde. Sie ist etwa 3.500 Jahre alt, stammt also aus der späten Bronzezeit und wird der mykenischen Kultur zugeordnet. Bisher konnte nicht geklärt werden, ob sie für den Einsatz in der Schlacht tatsächlich geeignet war. Weil der Dendra-Panzer so massiv ist, hielt man es für möglich, dass er ausschließlich für zeremonielle Zwecke genutzt wurde. Zu erfahren, welche Funktion die Rüstung wirklich hatte, ist aber wesentlich, will man mehr über die Kriegsführung der damaligen Zeit erfahren. Ein Forschungsteam der Universitäten von Birmingham, England, und Thessalien, Griechenland hat diese Wissenslücke nun geschlossen – auf ganz praktische Weise. 

Experiment mit originalgetreuer Nachbildung

Ob die Rüstung für den Kampf geeignet war, testeten die Forschenden im Rahmen eines Experiments, bei dem 13 Elitesoldaten der griechischen Armee im Dendra-Panzer eine elfstündige Schlachtsimulation absolvierten. Die Ergebnisse der Studie wurden in der Zeitschrift PLOS ONE veröffentlicht.

Natürlich kam bei dem Experiment nicht die echte Rüstung zum Einsatz, sondern eine originalgetreue, 23 Kilogramm schwere Nachbildung. Sie war bereits in den Achtzigerjahren von Mitarbeitenden und Student*innen des Bournville College of Art in Birmingham hergestellt worden. „Die Rüstung, die die teilnehmenden Streitkräfte trugen, hatte die gleichen Abmessungen und das gleiche Gewicht wie das Original aus der Bronzezeit“, sagt Andreas Flouris, Physiologe an der Universität von Thessalien und Hauptautor der Studie.

Die Ilias: Der Trojanische Krieg nach Homer

Doch nicht nur hinsichtlich des zu untersuchenden Artefakts wurden die historischen Vorgaben penibel erfüllt. Auch die Soldaten, die die Rüstung während der Simulation trugen, wurden entsprechend vorbereitet.

Dabei orientierte sich das Studienteam an Beschreibungen aus der Ilias. In dem Epos, das vermutlich im 7. oder 8. Jahrhundert verfasst wurde, schildert der griechische Schriftsteller Homer einen Abschnitt des Trojanischen Kriegs. Er soll sich um 1200 v. Chr., also in der spätmykenischen Zeit, ereignet haben. Dass der Trojanische Krieg tatsächlich stattgefunden hat, wird aufgrund eines Mangels an archäologischen Befunden angezweifelt. Weil aus jener Zeit jedoch kaum Überlieferungen vorliegen, war die Ilias die einzig verfügbare Quelle, die die Forschenden als Basis für das Experiment heranziehen konnten.

BELIEBT

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    So wurden die Elitesoldaten über mehrere Tage in den Gebrauch bronzezeitlicher Waffen eingewiesen. „Außerdem überwachten wir die Kalorienzufuhr auf der Grundlage einer ‚homerischen Diät‘, die aus den einschlägigen Beschreibungen in der Ilias abgeleitet wurde“, sagt Flouris.

    Überraschende Bewegungsfreiheit

    Schon beim ersten Anlegen der klobigen Rüstung, die unter anderem aus einem hohen metallenen Kragen, einem „Rock“ aus Platten und einem Eberzahnhelm besteht, kam das Studienteam zu einer ersten wichtigen Erkenntnis: „Wir stellten fest, dass die Rüstung volle Bewegungsfreiheit zulässt und den Körper nicht übermäßig belastet“, so Flouris.

    Im Praxistest mussten die Soldaten in dem Panzer dann über elf Stunden – so lange dauerte laut der Ilias ein typischer Kampftag im Trojanischen Krieg – verschiedene Aufgaben erfüllen: Fahren auf einem Streitwagennachbau, Marschieren auf dem Laufband, sowie Kämpfe mit dem Bronzeschwert. Alle 13 Soldaten waren in der Lage, die Simulation trotz langer Dauer und großer körperlicher Anstrengung bis zum Ende durchzuhalten. Währenddessen wurden ihre Herzfrequenz und Muskelfunktion, der Sauerstoffverbrauch, die Körpertemperatur und der Flüssigkeitsverlust gemessen.

    Die gesammelten Daten kombinierten die Forschenden in einer Computersimulation mit Daten zu den Klimabedingungen in der heutigen Türkei, in der einst Troja lag. Obwohl dort im Sommer typischerweise Temperaturen zwischen 30 und 36 Grad Celsius herrschen, wurde unter dem Plattenpanzer keine zu starke Überhitzung gemessen.

    “Beschreibungen von Bronzerüstungen in der Ilias wurden für frei erfunden gehalten, doch diese Forschung legt das Gegenteil nahe.”

    von Ken Wardle
    Dozent für Philologie, Geschichte und Archäologie, Universität Birmingham

    „Sechzig Jahre nach der Entdeckung der Dendra-Rüstung wissen wir nun, dass sie trotz ihres auf den ersten Blick schwerfälligen Aussehens nicht nur flexibel genug ist, um fast jede Bewegung eines Kriegers zu Fuß zu ermöglichen, sondern auch belastbar genug, um den Träger vor den meisten Schlägen zu schützen“, sagt Flouris.

    Bedeutsamer Wendepunkt in der Geschichte

    Für Studienautor Ken Wardle, Dozent für Philologie, Geschichte und Archäologie an der Universität Birmingham, hat das Experiment auch in Bezug auf die Ilias wichtige Erkenntnisse gebracht. „Beschreibungen von Bronzerüstungen in der Ilias wurden für frei erfunden gehalten, doch diese Forschung legt das Gegenteil nahe“, sagt er. Die Untersuchung der Dendra-Rüstung unter den in dem Epos beschriebenen Bedingungen habe gezeigt, dass sie höchstwahrscheinlich wirklich in der Schlacht getragen wurde.

    Dadurch habe man Wardle zufolge einen wichtigen neuen Einblick in einen der bedeutsamsten Wendepunkte der Geschichte gewonnen: „den Zusammenbruch der bronzezeitlichen Zivilisationen im östlichen Mittelmeerraum, eine Zeit der Zerstörung und des Umbruchs, die den Beginn des Eisenzeitalters markiert.“

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