Kinderopfer der Inka standen unter Drogen

Die Haare der Mumien zeigen einen hohen Koka- und Alkoholkonsum der jungen Opfer.

Von Brian Handwerk
Die Llullaillaco-Jungfrau
Tests haben gezeigt, dass dieses 13-jährige Opferkind in seinem letzten Lebensjahr sehr viel Koka und in den letzten Lebenswochen auch zunehmend Alkohol konsumiert hat.
Mit freundlicher Genehmigung von Johan Reinhard

Drei Inka-Mumien, die in der Nähe des Gipfels des Vulkans Llullaillaco in Argentinien gefunden wurden, sind so gut erhalten, dass sie dem uralten Ritual des Capacocha – das mit ihrer Opferung endete – ein Gesicht verleihen.

Jetzt haben die Körper der 13-jährigen Llullaillaco-Jungfrau und ihrer jüngeren Begleiter, dem Llullaillaco-Jungen und dem „Blitzmädchen“, gezeigt, dass bei ihrem Tod und den über viele Jahre hinweg gehaltenen zeremoniellen Riten, die sie auf ihre letzten Stunden vorbereiten sollten, bewusstseinsverändernde Substanzen eine Rolle gespielt haben.

Eine biochemische Analyse der Haare der Jungfrau verriet, was sie in ihren beiden letzten Lebensjahren gegessen und getrunken hat. Diese Informationen scheinen historische Darstellungen einiger weniger auserwählter Kinder zu stützen, die an einem Jahr voller heiliger Zeremonien teilnahmen. Diese Zeit, die in ihren Haaren durch eine Änderung des Lebensmittels-, Koka- und Alkoholkonsums erkennbar ist, endete schließlich mit ihrer Opferung.

Der religiösen Ideologie der Inka zufolge, so die Autoren, könnten Koka und Alkohol dazu gedient haben, einen als heilig geltenden Status herbeizuführen. Vermutlich hatten die Substanzen aber auch eine pragmatischere Funktion, indem sie die jungen Opfer aus den hohen Bergen verwirrten und ruhigstellten, damit sie ihr grausames Schicksal besser ertragen konnten.

GUT ERHALTENE GESCHICHTE

Die Jungfrau und ihre jungen Begleiter, die 1999 entdeckt wurden, sind aufgrund der kalten Bedingungen direkt unter dem 6.739 Meter hohen Berggipfel bemerkenswert gut natürlich konserviert.

„Ich glaube, sie ist die am besten erhaltene Mumie, die weltweit gefunden wurde“, mutmaßt Andrew Wilson, Experte für Forensik und Archäologie an der britischen Universität Bradford. „Sie sieht fast so aus, als wäre sie nur eingeschlafen.“

Nicht nur die Mumien, sondern auch die in der grabähnlichen Konstruktion drapierten Artefakte und Textilien sind unglaublich gut erhalten. Daher waren technische Analysen möglich, anhand derer Experten die Ereignisse nachvollziehen konnten, die vor rund 500 Jahren in dieser dünnen Luft stattfanden.

„Das macht das Ganze wohl noch viel spannender“, fügt Wilson hinzu. „Wir haben es hier nicht mit einer vertrockneten Mumien oder gar einem Haufen Knochen zu tun. Es ist eine Person, ein Kind. Und die Daten, die wir in unseren Studien gewonnen haben, geben präzise Auskünfte über ihre letzten Monate und Jahre.“

VOR DEM LETZTEN TAG

Da Haar etwa einen Zentimeter im Monat wächst und sich danach nicht verändert, enthalten die langen, geflochtenen Zöpfe der Jungfrau eine Art Zeitleiste mit Markern, die ihre Ernährung widerspiegeln. Sie zeigen den Konsum von Substanzen wie Koka und Alkohol in Form von Chicha, einem vergorenen Maisgetränk.

„Die Marker deuten darauf hin, dass sie bereits ein Jahr vor ihrem Tod als Opfer ausgewählt wurde“, erklärt Wilson. In dieser Zeit änderte sich ihr Leben drastisch. Dazu gehört auch der erhöhte Konsum von Koka und Alkohol, zwei damals kontrollierten Substanzen, die nicht für den alltäglichen Gebrauch verfügbar waren. „Wir gehen davon aus, dass die Jungfrau eine Aclla war: eine Frau, die in der Pubertät auserwählt wurde, von ihrer familiären Gesellschaft getrennt unter der Leitung einer Priesterin zu leben“, sagt er. „Dieser Brauch wird in den Berichten der Spanier beschrieben, in denen sie die Informationen, die die Inka ihnen zu diesen Riten gaben, aufzeichneten.“

Bei einer früheren, ebenfalls unter der Leitung von Wilson durchgeführten chemischen und DNA-Analyse wurden die Änderungen der Ernährungsgewohnheiten der Jungfrau untersucht. Die Ergebnisse zeigen deutliche Verbesserungen im Jahr vor ihrem Tod, als sie besondere Nahrung wie Mais und Tierprotein, möglicherweise aus Lamafleisch, zu sich nahm. Mittlerweile ist auch klar, dass ihr Kokakonsum in ihrem letzten Lebensjahr stark stieg, mit dramatischen Höhepunkten zwölf und sechs Monate vor ihrem Tod.

„Diese Informationen decken sich mit der Vermutung, dass sie zunächst ein normales und möglicherweise sogar ärmliches Bauernleben führte, bis sie ein Jahr vor ihrem Tod auserwählt, aus ihrem gewohnten Umfeld herausgerissen und in ein anderes Leben geworfen wurde“, meint Wilson. „Und nun zeigt sich diese massive Änderung des Kokakonsums.“

Die Jungfrau konsumierte in ihrem letzten Lebensjahr regelmäßig große Mengen an Koka. Ihr Alkoholkonsum dagegen stieg erst in den letzten Lebenswochen deutlich an.

„In den letzten sechs bis acht Wochen hat sich etwas verändert. Sie nahm entweder freiwillig oder unter Zwang große Mengen Alkohol zu sich.“ In ihren letzten Wochen hat sie eindeutig einen anderen Status angenommen. Vermutlich wurden diese Chemikalien, also das Koka und der Chicha-Alkohol, in dieser letzten Phase des Capacocha-Ritus vor ihrer Opferung auf fast kontrollierte Weise konsumiert.“

Am Tag ihres Todes war die Jungfrau durch die Drogen möglicherweise gefügiger und stark benommen, wenn nicht gar bewusstlos. Diese Theorie wird durch ihre entspannte, sitzende Position in der grabähnlichen Konstruktion untermauert. Auch die Artefakte um sie herum und der Federkopfschmuck, den sie trug, waren unberührt. Bei ihrer Entdeckung im Jahr 1999 wurden zerkaute Kokablätter im Mund der Mumie gefunden.

Bei den jüngeren Kindern sind die Koka- und Alkoholkonzentrationen geringer, was auf ihren niedrigeren Status bei dem Ritual oder auf ihr jüngeres Alter und ihre kleinere Größe zurückzuführen sein könnte. „Vielleicht musste die Jungfrau aufgrund ihres Alters stärker betäubt werden“, vermutet Wilson.

Und während andere Capacocha-Stätten Zeichen von Gewalt wie Schädelverletzungen zeigen, sind diese Kinder friedlich eingeschlafen. „Entweder hatten sie die Durchführung dieser Opferungen perfektioniert, oder diese Kinder sind auf eine ruhigere Art gestorben“, erklärt Wilson.

STAATLICH GEFÖRDERTE OPFERUNGEN

Kelly Knudson, Archäologie-Chemikerin an der Staatlichen Universität Arizona, war an den Forschungsarbeiten nicht beteiligt. Sie weist aber darauf hin, dass diese spannende Studie zeigt, wie naturwissenschaftliche Archäologie uns helfen kann, das menschliche Leben und größere antike Gesellschaften im Detail zu verstehen.

„Der steigende Konsum von Koka und Alkohol ist sehr interessant. Er verrät uns nicht nur viel über die Capacocha-Opfer und ihr Leben, sondern auch über die Ausübung von Zwang und Kontrolle bei den Inka“, so Knudson.

Den Verfassern der Studie zufolge zeigt das Kontrollsystem, das diese Kinder auf einen entlegenen Gipfel in extremer Höhe brachte, alle Kennzeichen von staatlicher Unterstützung auf höchster Ebene. Möglicherweise fand es im Rahmen einer militärischen und politischen Erweiterung des Cuzco-basierten Reichs statt, die kurz vor der Ankunft der Spanier stattfand.

„Selbst heute sind für Arbeiten in dieser Höhe umfassende logistische Strukturen erforderlich“, erklärt Wilson. „Die Funde deuten auf eine höchstmögliche Unterstützung auf Reichsebene hin. Es gibt Artefakte und Kleidung, die der Elite gehörten, und edle Produkte aus allen vier Ecken des Inkareichs.“

Dazu gehören Figuren aus der Schale von Stachelaustern, die von der Küste hergebracht wurden, und Federkopfschmuck aus dem Amazonbecken. Auch die kunstvoll gearbeiteten Figuren aus Gold und Silber, die fein gewebte Miniaturkleidung tragen, waren nur für die höchste Gesellschaftsschicht verfügbar. „Das gesamte Arrangement repräsentiert vermutlich ihren Status und auch die Symbolik, die unter Genehmigung der höchsten Stelle angewendet wurde“, fügt er hinzu. Wilson und seine Co-Autoren vermuten, dass derartige Opfer ein sehr vielschichtiges Mittel waren, um gesellschaftliche Kontrolle auf große eroberte Gebiete auszuüben.

(In einer im vergangenen Jahr in „PLOS ONE“ veröffentlichten Studie wurde festgestellt, dass die Jungfrau zum Zeitpunkt der Opferung an einer Lungenentzündung litt.)

ERKENNTNISSE STÜTZEN FRÜHE SPANISCHE AUFZEICHNUNGEN

Johan Reinhard, ein „Explorer-in-Residence“ der National Geographic Society, entdeckte die Mumien 1999 mit seiner Kollegin Constanza Ceruti von der Katholischen Universität Salta, Argentinien.

Als Co-Autor der neuen Studie interessiert ihn besonders, in welchem Zusammenhang die Ergebnisse zu den historischen Chroniken stehen, die frühe Spanische Eroberer zu diesen Zeremonien erstellten. „Sie beschreiben zwar, wie diese Zeremonien durchgeführt wurden, doch es handelt sich dabei nicht um Berichte aus erster Hand: Kein Spanier hat diese Riten je selbst beobachtet“, erklärt Reinhard. „Sie schrieben nur nieder, was die Inka ihnen berichteten.“

(Mitte des 16. Jahrhunderts beispielsweise schrieb Juan de Betanzos über die weite Verbreitung von Kinderopfern. Laut seiner Frau, die zuvor mit keinem geringeren als dem Inka-Herrscher Atahualpa verheiratet war, waren es bis zu eintausend Opfer.)

„Die Daten scheinen sich mit den in den Chroniken beschriebenen Ereignissen zu decken“, meint Reinhard. „Plötzlich gibt es dieses Bild, in dem man fast sehen kann, was sie durchmachen. Sie erhalten mehr Aufmerksamkeit in Form von besserem Essen und Koka, das sonst nur selten und vor allem in Zeremonien konsumiert wurde. Genau diese verstärkte Zuwendung gegenüber diesen Kindern wird auch in den Chroniken beschrieben.“

So sei es Reinhard zufolge angesichts der überlieferten Geschichten nicht überraschend, dass der Kokakonsum im Jahr vor dem Tod eines auserwählten Kindes wie der Jungfrau stieg.

„Sie erzählen von Pilgerreisen nach Cuzco und einer Reihe von Zeremonien, bei denen die Kinder auf anderen langen Wallfahrten von einem Ort zum nächsten geschickt wurden. Interessant ist auch der Sechs-Monats-Zeitraum zwischen den höchsten Koka-Konsumen“, ergänzt er. „Der Zusammenhang ist unklar. Möglicherweise werden hier jedoch historische Berichte gestützt, wonach einige dieser Jungfrauen der Sonne in dem Jahr, bevor sie in den Tod geschickt wurden, an Sonnenwenden-Zeremonien teilnahmen.“

Heute befinden sich die Mumien im Museo de Arqueología de Alta Montaña (MAAM) in Salta, Argentinen. „Es ist spannend, in welchem Maße ihre physischen Überreste historische und archäologische Aufzeichnungen unterstützen können“, so Wilson weiter. „Aber gleichzeitig ist es auch gruselig, dass die Kinder so lange nach ihrem Tod noch so eindeutig menschlich aussehen.“

„Für mich ist es fast, als könnten die Kinder uns ihre eigenen Geschichten erzählen“, fährt er fort. „Vor allem Haare sind etwas so Persönliches, und hier liefern sie uns nach fünf Jahrhunderten überzeugende Beweise und eine sehr intime Geschichte.“

Die Studie wurde am 29. Juli in der Rubrik Early Edition der Fachzeitschrift PNAS veröffentlicht.

Artikel in englischer Sprache veröffentlicht am 29. Juli 2013

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