Die lebenden Wurzelbrücken Indiens
Es vergehen 15 bis 30 Jahre, bis eine solche Brücke eine geschlossene Form annimmt.
Während der Monsunzeit im Nordosten Indiens rauscht das Regenwasser durch die smaragdgrünen Täler und tiefen Schluchten des Bundesstaates Meghalaya, der „Heimstätte der Wolken“. Das bergige Plateau zwischen Assam und Bangladesch ist eine der feuchtesten Regionen der Erde, und die indigenen Khasi, die in diesen Hügeln wohnen, haben eine innige Beziehung zum Wald entwickelt.
Lange vor der Verfügbarkeit moderner Baumaterialien haben die Khasi eine ausgeklügelte Methode entwickelt, um die rauschenden Ströme zu überqueren und ihre verstreuten Dörfer miteinander zu verbinden: lebende Baumwurzelbrücken, in der lokalen Sprache auch Jing kieng jri genannt.
Dafür werden zu beiden Uferseiten Bäume gepflanzt, um ein stabiles Fundament zu erschaffen. Im Laufe von 15 bis 30 Jahren wickeln die Khasi die Wurzeln des Ficus elastica langsam um ein temporäres Bambusgerüst, um die Lücke zu schließen. Durch eine Kombination aus Feuchtigkeit und Fußgängerverkehr wird der Boden mit der Zeit kompakter, während das Wurzelgeflecht immer dicker und stärker wird. Die „ausgewachsenen“ Brücken erstrecken sich etwa 4,5 bis 75 Meter weit über tiefe Flüsse und Schluchten und können beträchtliche Lasten tragen – bis zu 35 Personen auf einmal.
Im Gegensatz zu modernen Materialien wie Beton und Stahl werden diese Brücken mit dem Alter stabiler und können Jahrhunderte überdauern. Sie halten den regelmäßigen Sturmfluten und Stürmen in der Region stand, sind preiswert, nachhaltig und verbinden die Dörfer miteinander, die über das bergige Gelände verstreut sind. Der genaue Ursprung dieser Tradition ist unbekannt, aber die ersten schriftlichen Aufzeichnungen sind über 100 Jahre alt.
Auch jenseits ihrer heiligen Haine prägt die Ehrfurcht vor der Natur das tägliche Leben der Khasi. Wie in vielen Dörfern in Meghalaya gibt es auch in Mawlynnong keine offizielle sanitäre Infrastruktur. Der Schutz der Umwelt liegt bei jeder einzelnen Person. Abwässer werden im ganzen Dorf in Bambusbehältern gesammelt und dann in der Landwirtschaft als Dünger verwendet. Kunststoff wird wiederverwendet und die Dorfbewohner fegen jeden Tag die öffentlichen Plätze.
Mawlynnong – oder „Gottes eigener Garten“, wie sich das Dorf auch nennt – ist als das sauberste Dorf in ganz Indien bekannt. Der Titel hat ihm einen steten Strom an Touristen beschert und die lokale Wirtschaft gestärkt. Der indische Premierminister Narendra Modi hat die Gemeinde als Vorbild für den Rest des Landes gelobt, in dem sich auch eine der am schlimmsten verschmutzten Städte der Welt befindet.