Reisetipp Białowieża: Der letzte Flachlandurwald Europas

Ganz im Osten Polens liegt der letzte Flachlandurwald Europas. Dass der jahrtausendealte Białowieża-Wald heute noch besteht, ist den Wisenten zu verdanken.

Von National Geographic Traveller
Veröffentlicht am 5. Aug. 2020, 15:30 MESZ
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Der Fluss Łutownia, ein Nebenfluss der Narewka, mäandert durch den polnischen Urwald Białowieża.

Foto von kpzfoto/ Alamy Stock Photo

Die Wälder Kanadas sind weithin unberührt und die Heimat von Bär und Bison. Doch auch in Europa gibt es sich selbst Urwälder wie den Białowieża-Nationalpark in Polen – mit Wolf und Wisent.

Białowieża statt Kanada

Es ist kaum zu glauben: Mitten in Europa gibt es vom Menschen unberührte, seit Jahrtausenden sich selbst überlassene Natur. Der Białowieża-Nationalpark im Nordosten Polens an der Grenze zu Weißrussland gilt als letzter echter Urwald Europas. Er ist etwa  1200 Quadratkilometer groß und Teil eines grenzübergreifenden Waldgebiets, das nur zu einem Drittel in Polen liegt. Mit seinen gut 10 000 Jahren ist der Białowieża-Wald nicht nur uralt, sondern auch der einzig verbliebende Rest jener Flachlandwälder, die einst weite Teile Europas bedeckten. 1932 wurde ein Teil des Białowieża-Waldes zum Nationalpark erklärt und 1979 in die Liste des Unesco-Welterbes aufgenommen.

Ausgangspunkt für die Erkundung

Der beste Ausgangspunkt für einen Streifzug durch den Urwald ist das Dorf Białowieża, nahe der Grenze zu Weißrussland. Im Nationalparkzentrum können Sie eine Tour buchen, um die knapp 50 Quadratkilometer große Kernzone des Nationalparks zu erkunden, die Besucher nur mit Führer betreten dürfen. Auch in der Übergangszone müssen Wanderer auf den ausgewiesenen Wegen bleiben. Die Natur soll ungestört bleiben. Kreuz und quer liegen umgestürzte Bäume am Boden, darauf wachsen Pilze, Moose und Farne. Wo ein Baum gerade erst umgefallen ist, ist es etwas heller im dichten Wald. Doch schnell füllen junge Bäumchen die Lücken. Linden, Buchen, Eschen und ungewöhnlich hohe, schlanke Eichen dominieren das Bild. Manche Bäume sind 500 Jahre alt, der Durchschnitt liegt bei 150 Jahren. In der europäischen Tiefebene findet sich kein besser erhaltener natürlicher Laub- und Mischwald.

Ein männliches Wisent zieht im Morgennebel durch den Białowieża-Nationalpark. Mitte des letzten Jahrhunderts waren die Tiere fast ausgestorben, heute leben hier wieder 500 dieser europäischen Wildrinder.

Foto von Jeroen van Wijk / Alamy Stock Photo

Wisente als Grund für die Ursprünglichkeit

Dass der Wald in seiner Ursprünglichkeit besteht, ist den Wisenten zu verdanken, die mit einer Tonne Gewicht die größten Landsäugetiere Europas sind und heute die Symbolfigur von Białowieża. Ihre Überlebensgeschichte wiederum ist eng mit dem Nationalpark verwoben. Im Mittelalter waren die Wisente in weiten Teilen Europas verbreitet – und eine beliebte Jagdtrophäe. Ab dem 15. Jahrhundert sicherten sich die polnisch- litauischen Könige das exklusive Jagdrecht. Zum Schutz der Wisente war im königlichen Jagdrevier auch das Abholzen der Bäume verboten.

Als das Gebiet Ende des 18. Jahrhunderts in den Herrschaftsbereich des russischen Zaren überging, blieb der Schutzstatus bestehen. So hielten sich im Białowieża-Wald Jagd und Vermehrung der Wisente in etwa die Waage, während die Rinderart im restlichen Europa ausstarb. 1857 zählte man in Białowieża noch 1900 Tiere. Doch kurz darauf dezimierten Epidemien die Population gewaltig, und im Ersten Weltkrieg machten Wilderer dem restlichen Bestand den Garaus.

Bereits in den Zwanzigerjahren begann ein Botaniker, die sanften Riesen wieder anzusiedeln, und richtete eine Aufzuchtstation ein. Alle in Europa heute wild vorkommenden Wisente stammen von dort ab. 1952 wurden die ersten Tiere in die freie Wildbahn entlassen. Heute durchstreifen etwa 500 Wisente den polnischen Teil des Waldes, etwas mehr als auf der anderen Seite der Grenze. Die Wildrinder mit dem zotteligen Fell sind die unangefochtenen Stars von Białowieża, doch sie zu entdecken, ist schwierig. Am besten suchen Sie im Winter oder Frühjahr mit Fernglas und ortskundigem Führer die Futterplätze auf. Wenn Sie in freier Wildbahn kein Glück gehabt haben, besuchen Sie anschließend das Wisentgehege in der Nähe des Dorfs Białowieża.

BELIEBT

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    Vogelwild: Neben dem Habicht sind in Białowieża auch Bussard, Schrei- und Steinadler heimisch.

    Foto von paolo gislimberti / Alamy Stock Photo

    Zuhause für zahlreiche Tierarten

    Die Wisente sind nicht die einzige Attraktion des Nationalparks. Viele in Europa kaum mehr vorkommende Arten sind hier heimisch und in gesunder Zahl vertreten, darunter neben Wildpferden oder Bibern auch Wölfe, Luchse und Hirsche. Beliebt ist der Nationalpark außerdem bei Vogelfreunden. 120 verschiedene Arten finden sich dort. Vielleicht gelingt es, bei einer Wanderung einen Blick auf den Schwarzstorch, auf Schrei- oder Schlangenadler zu erhaschen. Welcher Vertreter der neun Spechtarten da wohl mit lautem Hämmern einen Stamm bearbeitet? Der Dreizehenspecht mit der gelben Stirn? Oder ist es der Weißrückenspecht mit der roten Haube, der eigentlich eher Schwarzrücken- oder Weißbauchspecht heißen müsste?

    Specht ahmt Schlange nach, um sich zu schützen
    Wenn der Wendehals bedroht wird, biegt und dreht er seinen Hals.

    Nachts ist die Stimmung im Urwald ganz besonders. Von Stille keine Spur. Überall raschelt und knirscht es, Fledermäuse fliegen über einen hinweg, je nach Jahreszeit hören Sie Uhu und Sperlingskauz rufen oder brunftige Hirsche röhren. Möglicherweise zeigt sich eine der sieben Eulenarten oder sogar ein Wolf. So idyllisch und märchenhaft war der Białowieża-Urwald in letzter Zeit nicht immer. Ab 2016 wurde auf Geheiß der polnischen Regierung Holz geschlagen – zur Eindämmung des Borkenkäfers, wie es zur Rechtfertigung hieß. Dabei sind diese sogenannten Schädlinge für intakte Ökosysteme kein Problem, sie gehören vielmehr dazu.

    Aktivisten und Umweltorganisationen protestierten gegen die Fällarbeiten – mit Erfolg: Der Europäische Gerichtshofs befand, das Fällen von Zehntausenden Bäumen sei ein Verstoß gegen das Naturschutzrecht, denn auch im Wald außerhalb des Nationalparks ist die Holzschlagmenge begrenzt. Anfangs uneinsichtig, fügte sich die polnische Regierung schließlich. Nach Königen und Zaren wacht heute die Öffentlichkeit über den Schutz des Białowieża-Urwaldes.

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    ANREISE

    Ab der deutsch-polnischen Grenze sind es mit dem Auto gut zehn Stunden Fahrt nach Białowieża (Maut auf Autobahnen). Eine gute Zugverbindung nach Warschau gibt es von Berlin (ab 6 Stunden), von dort per Mietwagen (3 1 Stunden) oder Bus weiter nach Białowieża. In Warschau ist der nächstgelegene Flughafen.

    WETTER UND REISEZEIT

    Das Klima in Białowieża ist kontinental, das heißt die Winter sind kalt und die Sommer sehr heiß und trocken. Das Sommerhalbjahr ist die Hauptreisezeit im Białowieża-Nationalpark, wobei der individuell beste Zeitpunkt sehr von den persönlichen Wünschen abhängt. Die Chance, Wisente in freier Wildbahn zu entdecken, ist im Winter am größten. Vogelbeobachter besuchen den Nationalpark am besten im April oder Mai, für Pilzsammler (nur in umliegenden Gebieten) bietet sich der Herbst an.

    FÜHRUNGEN UND EINTRITT

    Abgesehen von der Kernzone können Sie den Nationalpark auf eigene Faust durchstreifen. Deutschsprachige Führungen in die Kernzone bzw. mit verschiedenen thematischen Schwerpunkten bietet die Polnische Gesellschaft für Touristik und Landeskunde in Białowieża (PTTK) an. Der Preis richtet sich nach Gruppengröße und Art der Tour (ab etwa 20 Euro). Der Eintritt in den Nationalpark kostet 6 Polnische Zloty (ca. 1,30 Euro). pttk.bialowieza.pl

    ÜBERNACHTEN

    Im Ort Białowieża gibt es Hotels verschiedener Preisklassen, eine Jugendherberge sowie einen Campingplatz. Ferienwohnungen im Grünen bietet Bliżej Natury (moderne Chalets für zwei Personen ab 65 Euro pro Nacht). blizejnatury.eu

    In der aktuellen Ausgabe des deutschen National Geographic Traveler findest Du 42 Reiseziele, die mit dem Auto, Camper, Motorrad oder der Bahn erreichbar sind. Plus weitere inspirierende Reportagen. Der Artikel über den letzten Flachlandurwalds Europas wurde ursprünglich in der März 2020-Ausgabe veröffentlicht. Keine Ausgabe mehr verpassen und jetzt ein Abo abschließen!

    National Geographic Traveler, Ausgabe 3_2020
    Foto von National Geographic-Magazin

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