Das Geheimnis der Pfeifsprache von La Gomera

Zauber mit Pfiff: Seit Jahrhunderten kommunizieren die Bewohner von La Gomera auf eine ganz besondere Art und Weise: mit der Pfeifsprache El Silbo. Ein Besuch bei einem waschechten Silbadore.

Von Katja Heller und Christoph Wöhrle
Veröffentlicht am 19. März 2021, 14:27 MEZ
Pfeiffsprache El Silbo auf La Gomera

Im Hochland von La Gomera wurde der Pfeiffsprache " El Silbo" ein Denkmal gesetzt. Seit Jahrhunderten kommunizieren die Bewohner so über weite Distanzen.

Foto von Dynamoland, Stock.adobe.com

Kiko ist nicht der Typ Mann, der Frauen hinterherpfeift. Es liegt nur so nahe. Weil er bei jeder anderen Gelegenheit pfeift. „Nein, meine Liebste habe ich anders kennengelernt.” Er lacht bei der Frage. Das Pfeifen ist Kiko Correas Leben. Und in seiner Heimat La Gomera ein wichtiges Stück Inselkultur.„El Silbo“ heißt die Pfeifsprache, die nur auf La Gomera existiert.

Weltkulturerbe mit Pfiff

Sie ist die einzige Pfeifsprache der Welt, die wirklich „gesprochen wird“, also das lateinische Alphabet benutzt und nicht nur ein paar Töne, Signale oder Zeichen – wie etwa das Morsealphabet. Die Unesco hat El Silbo 2009 zu einem Stück immateriellen Weltkulturerbes erklärt.

Die Wellen brechen heute sachte vor dem Hafen von La Gomera. Von den Cafés aus sieht man die Segelboote am Kai liegen, ein bisschen kreuz und quer wie ein Wurf Hundewelpen. Morgens um acht ist die Hafengegend belebt. Einheimische sind, das Handtuch über die Schulter geworfen, auf dem Weg zum Meer und ihrer allmorgendlichen Schwimmeinheit. Ein paar Touristen defilieren die Promenade entlang. Die Schönheit La Gomeras paart sich mit der Entspanntheit auf der Insel, die Leute sind unaufgeregt. Jeder Hektiker kommt hier zur Ruhe. Kiko Correa, 50 Jahre alt, sagt, die Insel sei ein Schatz für ihre Bewohner. „Es ist ein großes Glück, hier geboren zu sein. Das ist mir bewusst.“ Er ist offizieller Kulturbeauftragter von La Gomera, reist um die Welt, um die Pfeifsprache bekannt zu machen und ihr Erbe zu bewahren. Die Vereinigten Staaten,Japan, Litauen, Deutschland – El Silbo stößt auf Kikos Vorträgen immer auf viel Interesse und lässt die Menschen weltweit auch schmunzeln. Weil die Geschichte dieser Sprache so einzigartig ist wie ihr Klang.

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Wenn Kiko pfeift, ändert er seinen Gesichtsausdruck. Es sieht sehr eifrig aus, wenn er die Finger in den Mund steckt und anfängt zu „plaudern“. Es gibt nur zwei Vokale und vier Konsonanten, denn es kommt alles auf die Tonalität an. Kiko pfeift Wörter wie Katja, Anita (die Namen von Autorin und Fotografin) und Buenos Dias. Dann auf Deutsch: Guten Tag und Schmetterling. Sobald er die Aussprache eines Wortes kennt, kann er es pfeifen. Bei einer Studie zum Thema, an der Kiko teilnahm, wurden die Hirnströme beim Pfeifen gemessen. Der für das Sprechen zuständige Teil des Gehirns war dabei am aktivsten, sagt der Inselbewohner. So spricht er – theoretisch – jedes Idiom der Welt. „Man muss nicht mal musikalisch sein“, sagt er lachend. Aber es braucht Geduld.

Kilometerweit kommunizieren 

Über vier Kilometer pfeifen und verstanden werden? Kein Problem. Sogar sieben Kilometer seien möglich, wenn der Wind günstig wehe. Früher wurden so Ärzte oder Hebammen herbeigepfiffen, wenn man sie brauchte. Und man warnte sich vor Gefahren: etwa als die Schergen von Diktator Franco auf der Insel einfielen. Auch heute noch gibt es Gelegenheiten, die Pfeiflaute auf La Gomera zu hören. Zum Beispiel in Restaurants oder Cafés, wo Kellner zur Freude der Touristen die Bestellungen auf El Silbo an ihre Kollegen weitergeben. Der Kaffee ist getrunken, dem Blick auf den Hafen soll jetzt eine Fahrt ins Innere der Insel folgen. Kiko steuert einen alten Toyota, Gomeiraner machen sich nicht viel aus Autos.

Gerade um diese Jahreszeit ist die Insel sehr grün. „Das liegt am Nebel in höheren Lagen hier. Nicht am Regen“, erklärt Kiko. Es geht bergauf, und dann blickt man auf zerklüftete Felsen und enge Täler, in denen die Insulaner Bananen, Mangos und Avocados anbauen. La Gomera wurde im Jahr 1440 von den Spaniern erobert und zu einer Versorgungsinsel für die königliche Flotte gemacht. Die Urbevölkerung, Berber, wohnte damals in Höhlen – weder fing sie Fisch noch fuhr sie zur See. Dafür kannten die Bewohner eine Pfeifsprache, die sie zur Kommunikation von Berg zu Berg nutzten. Die Spanier fanden das praktisch wie ein Werkzeug, das einem unersetzlich vorkommt, hat man es erst einmal kennengelernt.

BELIEBT

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    Als Eroberer siedelten sie Sklaven vom afrikanischen Festland auf der Insel an, hielten sie zum Getreideanbau und zur Viehzucht an. Der Ziegenkäse, gewürzt mit frischem Koriander und Knoblauch, ist bis heute eine Spezialität. Später bauten die Landwirte auf der Insel Zuckerrohr und Wein an, dann Früchte. Der Entdecker Christopher Kolumbus begann von La Gomera aus seine Entdeckungsfahrt, die ihn 1492 nach Amerika brachte. Ob er auch das Pfeifen lernte, ist nicht überliefert. Aber die Spanier, die blieben, entdeckten an „El Silbo“, wie praktisch eine Kommunikation über Pfeiflaute ist, die große Distanzen überwinden kann. Die Insel entfachte ihren Zauber mit einem Pfiff.

    Schulfach gegen das Vergessen

    Nach dem kurzen Halt auf einer Anhöhe geht es weiter über eine holprige Piste. Die ersten Straßen wurden auf der Insel erst in den Fünfzigerjahren gebaut. Durch den Steinbruch fiel oft Geröll auf die Pisten, sodass der Verkehr zum Erliegen kam. Das ist heute anders. Mit dem Taxi oder Mietwagen kommt man inzwischen gut herum. Dazu gibt es die alten Trampelpfade der Insulaner, die heute zu einem Netz aus 600 Kilometer Wanderwegen verbunden sind. Dann die Ankunft in Kikos Dorf Agulo. Hier wuchs er auf mit sechs Geschwistern. Sein Vater war einer der ersten Lkw-Fahrer der Insel und lieferte exklusiv Pepsi Cola aus. Jeder kannte ihn. Mit der Cola war der Kapitalismus endgültig angekommen auf La Gomera. Mit dem ruhig-verschlafenen Lebensstil war es vorbei, na ja, fast.

    So hört sich ein Pfeif-Weltmeister an

    Kindergärten kannte die Insel noch lange nicht. Irgendwie musste man den Kleinen die Zeit vertreiben. In Kikos Fall fingen Vater, Großvater und seine Onkel an, ihn das Pfeifen zu lehren. „Sie brachten mir bei, dass man mit einem Finger und mit zweien pfeifen kann“, sagt Kiko. Dass man die Zunge rollen und zurückdrücken muss. Er erinnert sich an eine Anekdote aus dieser Zeit: Da ging einmal bei einem Ausflug der Kinder eines verloren. „Wir suchten die Insel ab. Ich war es, der das Kind schließlich fand. Ich holte die Erwachsenen mit einem Pfiff zu Hilfe. Es war das erste Mal, dass ich mit zwei Fingern pfiff.“ Die Pfeifkunst drohte über die Jahre und mit dem schrittweisen Einfall klassischer Medien vergessen zu werden. Seit 1992 ist das Pfeifen sechs Jahre lang Pflichtfach in den Schulen von La Gomera.

    Kiko hat selbst zwei Söhne, elf und 13 Jahre alt. Der jüngere ist engagierter Pfeifer. Er lernt die Kunst wie ein Instrument oder eine Sportart und verbessert sich mit dem Üben. „Mein Älterer dagegen kann mit dem Peifen einfach nichts anfangen“, sagt Kiko. Auch andere kanarische Inseln überlegen, ob sie das Pfeifen in den Unterricht integrieren. Für Touristen ist die Pfeifsprache wie eine Sehenswürdigkeit, die es keinesfalls zu verpassen gilt. Genau wie die wunderbare Natur. Seit Mitte der Achtzigerjahre hat der Tourismus Einzug gehalten auf La Gomera – wenn auch in nachhaltiger Form. Es sind oft Tagesgäste, die mit der Fähre von Teneriffa herüberkommen, oder Kreuzfahrtgäste auf Streifzug am Nachmittag. Die Insel verfolgt eine andere Strategie als etwa Teneriffa. „Bei uns sind auch die Auswanderer willkommen, die zu uns hergezogen sind“, sagt Kiko.

    Dann verabschiedet er sich. Er muss los, seine Söhne von der Schule abholen. Weil viele Eltern gleichzeitig mit ihren Autos ankommen, ist dort viel los, erklärt er. Wie er auf sich aufmerksam macht, wenn die beiden aus dem Gebäude kommen? Er pfeift. „Jeder Mensch hat eine eigene Tonation. Und man pfeift auch seinen Dialekt. So erkennen mich meine Söhne sofort.“

    Dieser Artikel erschien in voller Länge in der Januar 2021-Ausgabe des deutschen NATIONAL GEOGRAPHIC Traveler Magazins. Keine Ausgabe mehr verpassen und jetzt ein Abo abschließen!

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