COVID-19: Mit den Ältesten sterben oft auch indigene Sprachen

Viele indigene Gemeinden arbeiten hart daran, ihre Sprachen nach Jahrzehnten der Unterdrückung wiederzuentdecken. Doch durch die Pandemie läuft ihnen die Zeit davon.

Von Jill Langlois
bilder von Rafael Vilela
Veröffentlicht am 19. Nov. 2020, 13:07 MEZ, Aktualisiert am 20. Nov. 2020, 12:31 MEZ
Guarani Mbya

Kinder der Guarani Mbya wie Manuela Vidal werden in öffentlichen Schulen in ihrer Sprache und Kultur unterrichtet, doch die Pandemie zwang die Schulen zur Schließung.

Foto von Rafael Vilela

Eliézer Puruborá war einer der letzten Menschen, die mit der Sprache der Puruborá aufgewachsen sind. Er starb Anfang des Jahres in Brasilien an COVID-19. Sein Tod im Alter von 92 Jahren ist ein herber Verlust für sein Volk, das nur noch wenige Muttersprachler hat.

Die indigenen Sprachen in Brasilien sind seit der Ankunft der Europäer bedroht. Von den 1.500 Sprachen, die es einst gab, werden nur noch etwa 181 gesprochen – meist von weniger als tausend Menschen. Einigen indigenen Gruppen, vor allem solchen mit einer größeren Bevölkerung wie den Guarani Mbya, ist es gelungen, ihre Muttersprache zu erhalten. Aber die Sprachen kleinerer Gruppen, zu denen auch die Puruborá mit nur noch etwa 220 Menschen zählen, stehen kurz vor dem Aussterben.

Die Pandemie verschlimmert diese prekäre Situation noch. Es wird geschätzt, dass unter den indigenen Brasilianern mehr als 39.000 Fälle von COVID-19 grassieren, darunter sechs bei den Puruborá. Bislang soll es bis zu 877 Todesfälle gegeben haben. Die Krankheit fordert oft das Leben von Ältesten wie Eliézer, die die Hüter ihrer Sprache sind. Außerdem zwingt das Coronavirus die Mitglieder dieser Gemeinschaften zur Isolation und verhindert die kulturellen Veranstaltungen, die die Sprachen am Leben halten. So untergräbt es auch den ohnehin langsamen Fortschritt der Sprachpflege.

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Für die Puruborá war die Bewahrung ihrer Sprache und Kultur ein langer Kampf. Vor mehr als einem Jahrhundert kamen Gummizapfer auf ihr Land im Amazonasstaat Rondônia. Sie agierten unter der Schirmherrschaft der Indian Protection Services, einer Bundesbehörde, die die Angelegenheiten der indigenen Völker verwaltete. Sie ließen indigene Männer und Jungen, darunter auch Eliézer, Latex von Gummibäumen sammeln und verteilten Frauen und Mädchen als Preise an nicht indigene Gummizapfer. Portugiesisch war die einzige Sprache, die gesprochen werden durfte.

„Alles, was mit unserer Kultur zu tun hatte, war verboten“, sagt Hozana Puruborá, die nach dem Tod ihrer Mutter Emília zur Anführerin der Puruborá wurde. Emília war Eliézers Cousine. Als sie Kinder waren – beide Waisen –, flüsterten sie miteinander auf Puruborá, als niemand zuhörte. „Sie hielten ihre Sprache im Geheimen am Leben.“

1949 erklärten die Indian Protection Services, dass es in der Region keine indigenen Völker mehr gäbe, weil sie sich „vermischt“ und „zivilisiert“ hätten. Offiziell galten die Puruborá als verschwunden.

Das Coronavirus bedroht das Leben von Ältesten wie Hotencio Karai, 107, die oft als Sprachhüter einer Kultur fungieren. Aber auch Teenager wie Richard Wera Mirim, 17, und seine Freunde halten an ihrer Kultur fest, sagt Gemeindevorsteherin Sonia Ara Mirim. „Die Nhandereko – die Lebensweise der Guarani – ist in uns“, sagt sie. „Das Kind kann den ganzen Tag am Handy, am Computer oder vor dem Fernseher verbringen. Aber es gibt keine Möglichkeit, sie aus uns herauszukriegen.“

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    Das Coronavirus bedroht das Leben von Ältesten wie Hotencio Karai, 107, die oft als Sprachhüter einer Kultur fungieren. Aber auch Teenager wie Richard Wera Mirim, 17, und seine Freunde halten an ihrer Kultur fest, sagt Gemeindevorsteherin Sonia Ara Mirim. „Die Nhandereko – die Lebensweise der Guarani – ist in uns“, sagt sie. „Das Kind kann den ganzen Tag am Handy, am Computer oder vor dem Fernseher verbringen. Aber es gibt keine Möglichkeit, sie aus uns herauszukriegen.“

    Foto von Rafael Vilela

    Ein Archiv für indigene Sprachen

    Die Puruborá weigerten sich jedoch, zu verschwinden. Sie gründeten Aperoi, das letzte Dorf der Puruborá. Es befindet sich auf einem 15 Hektar großen Gebiet ihres angestammten Landes, das sie von Soja- und Viehbauern kauften. Es ist nicht groß genug für all ihre Mitglieder, deshalb lebte Eliézer mit seiner Tochter in der nahegelegenen Stadt Guajará Mirim.

    Die Puruborá begannen auch eine Zusammenarbeit mit Ana Vilacy Galucio, einer Linguistin des Emílio Goeldi Paraense Museum, das ein Archiv mit 80 indigenen Sprachen aus dem brasilianischen Amazonasgebiet beherbergt. Mit ihrer Hilfe wollte Vilacy auch für die Puruborá ein Spracharchiv schaffen.

    Als Galucio 2001 mit ihren Besuchen begann, gab es neun Älteste der Puruborá, darunter Eliézer und Emília. Sie hatten nun endlich wieder einen Grund, ihre Sprache zu sprechen. Viele lebten weit entfernt von Aperoi und hatten seit Jahrzehnten kein Puruborá mehr gesprochen.

    „Es war ja nicht nur so, dass sie es nicht sprechen konnten“, sagt sie. „Sie konnten es auch nicht hören. Sie hatten keinen Kontakt mit ihrer Sprache.“

    Galucio brachte sie zum Gespräch zusammen. Sie trugen Headsets und sprachen in Mikrofone. Alles, was sie sagten, wurde aufgenommen, um ein Audioarchiv ihrer Sprache zu erstellen. Zunächst konnten sie sich nur an eine Handvoll Wörter erinnern. Tiernamen fielen ihnen leicht, aber Grammatik und Satzstruktur waren ein Kampf. Doch je länger sie miteinander sprachen, desto mehr erinnerten sie sich.

    Mittlerweile gibt es nur noch zwei halbwegs flüssige Sprecher: Paulo Aporete Filho und Nilo Puruborá. Beide sind in ihren Neunzigern, in einem schlechten Gesundheitszustand und daher sehr anfällig für das Coronavirus. Beide leben nicht in Aperoi, und wegen der Pandemie kann sie niemand besuchen. Hozana befürchtet, dass sie an COVID-19 erkranken und sterben könnten, bevor sie Zeit haben, ihr Wissen weiterzugeben.

    „Im Archiv fehlt noch viel“, sagt sie. „Wir machen uns große Sorgen. Sie haben noch so viel mehr zu erzählen.“

    Sprachunterricht für Nicht-Indigene

    Weit im Süden beutelt die Pandemie auch die Guarani Mbya. Hunderte von Menschen in den sechs Dörfern, die ihre Gemeinde in São Paulo bilden, sind an COVID-19 erkrankt – darunter Älteste, die über 100 Jahre alt sind. Bisher ist noch niemand gestorben.

    Die Gemeinde feiert einen Geburtstag in Guyra Pepó, einem Dorf im Landesinneren, in das 36 Guarani-Familien zogen, als auf ihrem Land in São Paulo eine Autobahn gebaut wurde.

    Foto von Rafael Vilela

    Junge Bewohner des Dorfes Tekoa Pyau spielen in einer Fußballmeisterschaft. Das Land der Guarani liegt mitten in São Paulo, und die größte Stadt Brasiliens wächst ständig weiter.

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    Anthony Karai, 21, unterrichtet Guarani-Kurse online von seinem Haus im Dorf Tekoa Pyau aus. Der Unterricht richtet sich an nicht-indigene Lernende und ist für Karai eine Möglichkeit, Geld für seine Gemeinde zu sammeln.

    Foto von Rafael Vilela

    Die öffentlichen Grundschulen der Gemeinde, in denen die Sprache und Kultur der Guarani gelehrt werden, sind geschlossen, sodass den Kindern ein wichtiges Zentrum zum Lernen und Teilen fehlt. Viele Menschen haben ihre Arbeit verloren.

    Aber die Guarani-Sprache auch hat einen unerwarteten Aufschwung erfahren. Als die Pandemie zuschlug, begann der junge indigene Anführer Anthony Karai, Online-Sprachkurse anzubieten, um Geld für arbeitslose Gemeindemitglieder zu sammeln. Er traute sich zu, bis zu 100 Lernende zu betreuen. Innerhalb von zwei Stunden meldeten sich mehr als 300 Menschen an.

    Karai wollte niemanden abweisen, also bat er zwei Lehrer in anderen Dörfern darum, die zusätzlichen 200 Lernwilligen zu betreuen. Guarani zu unterrichten, sagt er, gebe ihm nicht nur eine Möglichkeit, die Sprache am Leben zu erhalten. Es helfe auch Nicht-Indigenen, seine Gemeinschaft in einem anderen Licht zu sehen.

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    „Wenn man eine Sprache lernt, kann man nicht nur die Sprache lernen“, sagt Karai. „Man muss auch die Kultur lernen.“

    Auch das Gegenteil trifft zu: Eine Sprache zu verlieren, kann auch bedeuten, eine Kultur zu verlieren – und das ist es, was dem Puruborá-Lehrer Mario Puruborá Sorgen macht.

    Thiago Karaí Kekupe, ein junger Häuptling der Guarani Mbya, bekämpft ein Feuer, von dem die Gemeinde vermutet, dass es absichtlich gelegt wurde.

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    Ohne Land ist es schwierig, Sprache und Kultur zu erhalten. Im Jahr 2017 gründeten Guarani-Familien ein neues Dorf im Bundesstaat São Paulo.

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    In Aperoi, wie auch in den Dörfern der Guarani Mbya, wird den Kindern die Sprache der Puruborá in der öffentlichen Schule beigebracht. Doch schon vor der Pandemie wollten die lokalen Behörden die Schule schließen, weil es nur eine Handvoll Schüler gab.

    Mario, der darum gekämpft hatte, den Unterricht aufrechtzuerhalten, spricht nicht fließend Puruborá. Was er weiß, hat er von den Tonaufnahmen gelernt, die Galucio für das Archiv des Museums gemacht hat.

    Vor der Pandemie war er auf regelmäßige Besuche bei den außerhalb des Dorfes lebenden Ältesten wie Paulo und Nilo angewiesen, um Antworten auf seine Fragen zur Sprache zu erhalten. Das Coronavirus hat diese Reisen zu gefährlich gemacht. Nun befürchtet er, dass viele sprachliche Feinheiten mit ihnen sterben werden.

    Anfang 2020 wurden Hunderte von Bäumen in der Nähe gefällt, um Wohnhäuser zu bauen. Mitglieder der Guarani-Gemeinschaft in traditioneller Kleidung protestierten und konnten weitere Zerstörungen verhindern.

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    Ein Guarani-Kind schwimmt in der Nähe seines Dorfes. „Wir haben kein trinkbares Wasser im Dorf“, sagt Thiago Karaí Kekupe. „Das einzige Wasser, das wir haben, stammt aus einer natürlichen Quelle.“

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    Die Puruborá tun ihr Bestes, um die Sicherheit ihrer Gemeindemitglieder zu gewährleisten. Sie haben ihre Jahresversammlung und ihr Kulturfestival verschoben, bei dem sie Geschichten austauschen, Lieder singen und Bemühungen zur Erhaltung der Sprache organisieren. Auch alle nicht unbedingt notwendige Reisen wurden eingeschränkt. Und sie sagen, dass sie sich nach der Pandemie dafür einsetzen werden, dass die Verantwortung für die Bewahrung ihrer Kultur und Sprache nicht allein auf den gebrechlichen Schultern ihrer Ältesten ruht.

    „Viele Leute sagen, dass wir wiederauferstanden sind. Aber ich mag diesen Begriff nicht“, sagt Mario. „Wir haben unsere Identität immer gekannt, und wir sind immer hier gewesen. Und das werden wir immer sein.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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